Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler

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Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler


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Bedeutung. Mit seinem neuen Nationalen Club und den Schriften, die er seitdem in unregelmäßigen Abständen verbreitete, hatte Maarsen einen ziemlichen Aufruhr verursacht. Es ging dabei viel um Gesellschaft, um Wirtschaft und Politik, hauptsächlich aber um die deutsche Nation und das deutsche Volk. Die Reinheit des deutschen Volkes schien ihm in besonderem Maße am Herzen zu liegen.

      Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich zum Lieblingsfeind von Hans, Simon und Ava gemausert und auch Eduard stand Maarsen sehr skeptisch gegenüber. Begegnet waren sie sich bisher noch nie.

      Maarsen war auf der Bühne sichtlich um das Flair des künstlerischen Bohemiens bemüht. Er hatte sich eine weiche, fließende Krawatte umgebunden, die seinen Hals mehr wie ein Schal umschloss. Sein Jackett war weit geschnitten, wohl um seinen deutlichen Bauchansatz etwas zu kaschieren. Seine blonden, an den Schläfen schon schütteren Haare fielen ihm bei jeder seiner ruckartigen Bewegungen in die Stirn. Ständig wischte er sie mit einer ungeduldigen Handbewegung nach hinten, während er letzte Vorbereitungen für den Herrn neben ihm traf. Kurt Weidenmann, der mit dem exotischen Hauch des Afrikareisenden die vielen Zuschauer wohl angezogen hatte, wirkte neben Maarsen ruhig, unaufgeregt, fast bieder. Er trug einen unscheinbaren grauen Anzug und legte seine steife Schiffermütze akkurat auf einen Stuhl hinter sich. Seine Haare waren mit dem Kamm streng an die Schläfen gekämmt. Nachdem Maarsen noch einen Krug Wasser und ein Glas für ihn geordert hatte, trat er ans Rednerpult.

      „Sehr geehrte Herrschaften“, rief Maarsen. Schlagartig wurde es ruhig. „Ich freue mich sehr, dass Sie heute Abend so zahlreich erschienen sind. Allerdings – davon bin ich überzeugt – würden Sie sich sonst auch die einmalige Gelegenheit entgehen lassen, von den Einblicken zu profitieren, die Herr Weidenmann uns mit seinem Bericht in die neue Kolonie Deutsch-Ostafrika gewähren wird.“ Er wischte sich mit einer nervösen Handbewegung die Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Herr Weidenmann war Mitarbeiter des großen Carl Peters, seines Zeichens Reichskommandeur für das Gebiet unterhalb des Kilimandscharo, der dank seiner Bemühungen heute den höchsten Punkt deutscher Erde darstellt.“

      Einige Zuschauer applaudierten laut, einige riefen: „Hurra …!“

      Eduard wunderte sich ein wenig darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit man den Namen Carl Peters hier mit dem Attribut ‚groß‘ belegte. Die Kolonien waren beileibe nicht sein Fachgebiet, aber Peters selbst und seine Projekte waren, wenn er es richtig in Erinnerung hatte, selbst innerhalb der deutschen Regierung keineswegs unumstritten.

      „Herr Weidenmann hat einige seiner Expeditionen begleitet und konnte viele Erfahrungen sammeln, was die Bevölkerung, die wirtschaftlichen Aussichten und die Entwicklung von Deutsch-Ostafrika angeht. Und wenn ich ihn richtig verstanden habe, halten wir mit diesem gesegneten Land einen rohen Diamanten in Händen, den es nur noch zu schleifen gilt. Aber das soll er uns selbst erzählen, denn deshalb ist er schließlich hier. Ich freue mich sehr … Meine Herren, Kurt Weidenmann.“

      Als sich Weidenmann jetzt mit einem kurzen Nicken bedankte, applaudierte der ganze Saal. Auch Eduard hob die Hände zu einem höflichen Klatschen.

      „Vielen Dank“, sagte Weidenmann gemessen. „Herr Maarsen und ich kennen uns von einigen Begegnungen in der Hauptstadt …“

      Eduard überlegte nur kurz, welche Hauptstadt er wohl meinte, war aber fast sicher, dass es sich nur um Berlin handeln konnte.

      „… die mir immer in sehr guter Erinnerung bleiben werden. Deshalb freue ich mich auch sehr über diese Einladung …“

      Nach einer kurzen Einleitung zur Kolonisierung Deutsch-Ostafrikas kam Weidenmann schnell auf die Expedition ins Landesinnere entlang eines Flusses namens Tana zu sprechen. Einige Dutzend schwarze Träger begleiteten sie. Für Eduards Geschmack erzählte er anfangs etwas zu ausführlich und langatmig von den Strapazen, die sie zu erdulden hatten. Und einige Angriffe von Wilden später waren sie dann wohlbehalten zurück an der Küste.

      „Bei unserer Rückkehr hatten wir den sogenannten Uganda-Vertrag in der Tasche“, schloss Weidenmann seinen Abenteuerbericht. „Er wäre der Schlüssel gewesen für eine weitere Expansion und die Schaffung einer deutsch-mittelafrikanischen Kolonie, die uns eine unglaubliche Einflusssphäre auf dem Kontinent gesichert hätte.“

      Ein Raunen ging durch die Zuhörerschaft.

      „Wie wir bei unserer Rückkehr nach Deutschland feststellen mussten, hatte die Regierung allerdings andere Pläne. Aus Rücksicht auf die europäische Politik hatte Bismarck von weiteren Gebietsansprüchen abgesehen und das ganze Areal einfach den Engländern überlassen.“

      Wieder ging ein Raunen durch die Zuhörer. Manche schüttelten ungläubig den Kopf.

      „Immerhin wurde daraufhin das gesamte Gebiet Deutsch-Ostafrika als Schutzgebiet übernommen“, fuhr Weidenmann fort und quittierte das Raunen mit einem schmalen Lächeln. „Und ich kann nicht oft genug betonen, wie wichtig wenigstens diese Maßnahme war. Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika sind ein gar nicht hoch genug einzuschätzender Wirtschaftsfaktor für Deutschland. Die Kolonien bieten Existenzgrundlage für Tausende von Siedlern. Sie werden in kurzer Zeit einen wichtigen Absatzmarkt für in Deutschland produzierte Güter darstellen. Und von dort kommen Kaffee, Hanf, Sisal, Elfenbein, Sesam, Kokosnüsse und vieles mehr zu uns.“ Er hob den Zeigefinger. „Mit Deutsch-Ostafrika hat Carl Peters den Grundstein für den nachhaltigen Wohlstand des Deutschen Reiches gelegt. Ganz abgesehen davon, dass wir unsere strategisch wichtige Präsenz in Afrika stärken konnten gegenüber den Engländern, Franzosen, Belgiern und Italienern. Denn Deutschland, das ist klar, kann sich nicht nur auf seine europäische Rolle beschränken. Wir sind Deutsche. Und wir sollten nicht nur Großmacht in Europa sein, sondern weltweit. Und dank unserem jungen Kaiser können wir darauf wieder berechtigte Hoffnungen setzen. Die von Bismarck verpassten Chancen und in Verhandlungen mit den Engländern verschacherten Gelegenheiten und Gebiete sind nach seinem Abgang – den wahrscheinlich nicht nur ich aufs Freudigste begrüßt habe – noch nicht verloren.“

      „Bravo“, rief Dr. Köhning laut und applaudierte. Spontan stimmten alle ein. Weidenmann lächelte bescheiden und trat einen Schritt vom Rednerpult zurück.

      „Danke“, sagte er, als wieder Ruhe einkehrte.

      „Das klingt alles sehr schön und gut und heroisch“, rief einer der Zuhörer vorne an der Bühne. „Aber kann man denn dort überhaupt auf Dauer überleben? Gibt es dort Plantagen? Und wer bewirtschaftet die?“

      Weidenmann schwieg einen Moment.

      „Das sind sehr gute Fragen“, sagte er dann leise. Er räusperte sich. „Nun ja. Natürlich kann man dort überleben. An der Küste lässt sich tatsächlich ja schon von einer beginnenden Zivilisation sprechen. Es gibt die Hafenstädte … Und natürlich gibt es Plantagen. Sie sind meist in europäischem Besitz. Die Arbeiter sind Neger, für die wir ein Steuersystem eingerichtet haben, um sie an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen. Wie jedermann müssen sie bezahlen. Und dafür müssen sie auf den Plantagen arbeiten. Das ist ganz einfach.“ Er zögerte. „Ich muss zugeben, dass es nicht immer so einfach ist“, gestand er dann ein. „Die Wilden sind es einfach nicht gewohnt zu arbeiten. Manchmal gibt es Probleme mit der Disziplin und der Moral. Aber das ist ganz normal bei einem solchen ungeheuerlichen Projekt, beim Aufbruch in ein neues Land. Wie sollte so etwas ohne Schwierigkeiten gehen?“ Er warf eindringliche Blicke ins Publikum. „Aber, wann hat das deutsche Volk Herausforderungen wie diese jemals gescheut?“ Wieder sah er sich aufmerksam im Saal um. „Nie“, gab er dann selbst die Antwort. „Vor uns liegen Glück und Reichtum. Sollte uns das nicht ein paar Anstrengungen wert sein? Ein paar Abenteuer …?“

      Auf Eduard wirkte Weidenmann in seinem schlichten, grauen Anzug, den an die Schläfen geklatschten Haaren und seiner steifen Haltung nicht gerade wie ein Abenteurer. Trotzdem war er von seinem anfänglichen Urteil abgekommen. Die Kolonien waren alles andere als langweilig. Die exotische Kulisse, die Erzählungen von den Plantagen, den Häfen, den Expeditionen den Tana-Fluss hinauf erregten sein Gemüt, wühlten ihn auf eine seltsame Art auf. Das war ein Leben …

      „Pionier … Kolonialist … Plantagenbesitzer. Das ist schon etwas, nicht wahr, Doktor?“, flüsterte er.

      „Disziplin


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