Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler

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Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler


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Blick zu.

      „Du scheinst ihn ja fast zu bewundern“, sagte er verdrießlich.

      „Ich mag ihn, glaube ich, nicht besonders“, erwiderte Eduard. Allmählich war er diese Inquisition leid. „Aber er ist nicht dumm und es ist nicht alles falsch, was er sagt.“

      Empört sprang Hans auf und ging zum Fenster.

      „Wie kannst du das sagen?“, rief er. „Du hast seine Artikel doch auch gelesen. Seine sogenannten Streitschriften … Die Hetze gegen politisch Andersdenkende, ganz zu schweigen von den Angriffen gegen Juden.“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Wenn ich das schon höre …“

      „Ich will Maarsen doch gar nicht verteidigen“, rechtfertigte Eduard sich. „Aber kann man jemanden verurteilen, nur auf Grundlage von ein paar Artikeln? Ich sage nur, dass er wahrscheinlich unterschiedliche Seiten hat, wie wir alle. Und dass seine Ansichten fragwürdig sind, bestreite ich ja gar nicht. Bei manchen Themen klingt er aber gar nicht unvernünftig.“

      „So? Welche sind das denn?“

      „Zum Beispiel bei wirtschaftlichen Fragen. Und es ist ja wohl kein Fehler, sich um seine Nation Gedanken und Sorgen zu machen. Er sieht eben einen Wertezerfall in unserer Gesellschaft. Das mag absurd und fortschrittsfeindlich sein. Aber es ist nichts, was man im Gespräch nicht klarstellen kann.“

      „Na, das will ich sehen, wie du Michael Maarsen klarmachst, dass die Juden keine Verschwörung planen, um die wirtschaftliche Kraft des Deutschen Reichs zu schwächen oder den Großteil des Kapitals in ihre Hände zu bekommen.“ Wütend ging Hans zum Tisch, nahm eine dünne Zeitschrift und warf sie Eduard hin. „Das kannst du nicht ernsthaft gutheißen.“

      „Ja.“ Eduard seufzte. „Ich lese es. Morgen. Hans, ich will mich doch nicht mit dir streiten. Ich kann dir nur über den Abend berichten. Und der war interessant. Komm das nächste Mal mit, dann kannst du dich mit eigenen Augen überzeugen.“ Er erhob sich. „Aber jetzt ich bin müde und ich muss morgen früh aufstehen. Lass uns schlafen gehen und die Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen.“

      Als Eduard sich wenig später beim spärlichen Schein einer Kerze entkleidete, die er auf den Tisch neben seinem Bett gestellt hatte, spürte er deutlich, wie weit er sich doch von seinem Bruder entfernt hatte. Er hielt inne und blickte aus dem Fenster. Es war stockdunkel, nichts zu sehen außer den Umrissen einiger Dächer, die sich schwarz vom dunklen Himmel abhoben. Eine große Traurigkeit überkam ihn und er fühlte sich plötzlich so einsam, als sei er der einzige Mensch auf der Welt. Als würde Waldbrügg ihn umklammern, festhalten, zu Boden drücken, tief hinein durch die Pflastersteine ins Erdreich, und ihn nie mehr entlassen in die Welt, die ihm so frei schien. Er dachte an Robert Burton und es tröstete ihn ein bisschen, dass wenigstens kein Nebel herrschte, wie es auf den britischen Inseln zu dieser Jahreszeit üblich war. Beklommen ging er zu Bett.

      „Bitte, komm mit. Ich kann unmöglich alleine hinuntergehen.“

      Simon schüttelte den Kopf, dass seine Haare flogen, und lachte.

      „Wenn du als Einzige Geister siehst, dann musst du sie auch alleine austreiben“, sagte er.

      „Du musst“, beharrte Ava, verschränkte die Arme und blickte ihn mit funkelnden Augen an, als sei sie entschlossen, so lange vor ihm stehen zu bleiben, bis er sich erhob und mit ihr nach unten ging. „Ich kann einfach nicht …“ Beim Gedanken, das verlassene Kontor alleine zu durchsuchen, schüttelte es sie.

      „Ava.“ Simon schüttelte noch einmal den Kopf, dieses Mal ernsthafter. „Ich kann nicht. Es ist schon spät, ich muss weg.“

      „Du wirst doch wohl eine halbe Stunde Zeit für deine Schwester haben“, rief Ava mit einer Energie, die man ihr gar nicht zugetraut hätte. Sie war sehr schmal und der Kontrast zwischen der Blässe ihres Teints und ihren dunklen Haaren und Augen ließ sie oft etwas kränklich erscheinen. Der äußere Eindruck täuschte jedoch. Ava war sehr temperamentvoll, voller Tatkraft und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nur schwer davon abzubringen. „Bitte.“

      Simon seufzte.

      „Da unten steht alles voller Gerümpel. Bestimmt ist es schrecklich verstaubt. Spinnweben, Mäuse … Es gibt dort wirklich nichts, was für irgendjemanden von Interesse wäre. Nicht einmal für einen Geist. Überleg doch nur. Es wäre schrecklich langweilig für ihn. So ein Geist will doch bestimmt auffallen. Es macht überhaupt keinen Sinn, in einem verlassenen Kontor zu spuken.“

      „So ein Unsinn.“ Ava schüttelte unwirsch den Kopf, fasste Simon am Arm und zog ihn vom Frühstückstisch weg. „Geister spuken immer an verlassenen Orten. Und schließlich habe ich es ja bemerkt. Mir ist gestern Nacht beinahe das Herz stehen geblieben. Ein Wunder, dass du nichts gehört hast.“

      „Ich habe schon mehrfach betont, dass ich die Angewohnheit habe, nachts zu schlafen“, bemerkte Simon spöttisch.

      „… die Angewohnheit habe, nachts zu schlafen“, machte Ava ihn affektiert nach und verdrehte die Augen. „Ich auch … normalerweise.“ Sie zog am Ärmel von Simons Jacke. „Bitte.“

      Simon gab sich einen Ruck.

      „Also gut“, sagte er. „Wir sehen nach. Kurz, in Ordnung?“

      „In Ordnung“, rief Ava und klatschte vor Freude in die Hände. „Komm, schnell.“

      „Moment, Moment. Wir brauchen ja wenigstens eine Lampe. Da unten sind doch sämtliche Fenster zugestellt oder verhängt. Wir werden sonst kaum die Hand vor Augen sehen.“ Simon eilte in die Küche und kam mit der kleinen Laterne zurück, die Tante Lea immer benutzt hatte, wenn sie Kartoffeln oder Kohle aus dem Keller holte. Bevor sie krank geworden war … Jetzt benutzte Lina, ihr Hausmädchen, den Leuchter.

      Im Vorraum zum ehemaligen Kontor brannte lediglich eine schwache Wandlampe, die ein diffuses Licht von sich gab. Bestimmt zwei Jahre war die Tür zu den früheren Geschäftsräumen der Mandelbaum’schen Möbelmanufaktur nicht mehr geöffnet worden. Anfangs waren die Büros noch als Stauraum für allerhand Plunder, alte Möbel, veraltete Kataloge und erledigte Schriftsätze und Korrespondenz benutzt worden. Aber irgendwann war der Umzug ins neue Kontor auf der anderen Flussseite abgeschlossen gewesen und niemand hatte die Räume mehr genutzt. Warum auch? Im neuen Kontor war es hell, es war ausreichend Platz vorhanden und die Möbelproduktion war direkt angeschlossen. Es gab also keinen Grund, den alten, düsteren Räumen im Wohnhaus der Mandelbaums nachzutrauern, es sei denn, man war ein alter Nostalgiker wie der Prokurist Friedmann, der Vater von Avas Bräutigam Aaron. Ihm war das neue Gebäude viel zu modern, er sehnte sich nach den düsteren, mit dunklem Holz verschalten Büros, den engen, staubigen Räumen. Friedmann war einer der ältesten Angestellten des alten Mandelbaum, aber vor allem war er, zumindest laut Simon, ein echter, eingefleischter Misanthrop.

      „Ich kenne niemanden, dem Gesellschaft so abgrundtief zuwider ist wie Friedmann“, hatte er zu Ava gesagt, nachdem Aaron nach seinem ersten Antrittsbesuch im Mandelbaum’schen Haus wieder gegangen war. „Und er hasst Veränderungen. Ich hoffe, du weißt, worauf du dich einlässt.“

      „Ich will ja nicht den alten Friedmann heiraten“, hatte Ava schnippisch zurückgegeben, „sondern seinen Sohn.“

      Als Simon den großen Schlüssel im Schloss des Kontors drehte, hielt Ava unwillkürlich den Atem an. Langsam öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Dumpfe, stickige Luft kam ihnen entgegen und ein leiser Ton, fast wie ein Seufzen, als wolle das Dunkel hinter der Tür nach all den Jahren der Gefangenschaft tief einatmen. Mit einem Schlag hatte Avas Anspannung auch Simon gepackt. Gebannt starrte er ins Dunkel und versuchte, etwas zu erkennen. Es war unmöglich. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und stieß die Tür weit auf.

      „Sag mal, warum begleitet Aaron dich eigentlich nicht auf deiner Abenteuerreise?“, fragte er und drehte den Kopf halb zu Ava um, die dicht hinter ihm wartete.

      „Ach, Aaron.“ Ava winkte ab. „Der hat keinen Sinn für so etwas.“

      „Aber ich“,


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