Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler
Читать онлайн книгу.sicher angebracht. Ich hoffe jedenfalls, dass ich mit meinen Veranstaltungen und meinen Schriften ein klein wenig dazu beitragen kann. Und ich würde mich wirklich freuen, Sie alle öfter hier im Club begrüßen zu dürfen. Wir veranstalten zum Beispiel regelmäßig auch Diskussionsrunden, um den weniger gebildeten Schichten, unseren Arbeitern und Handwerkern politische Bildung näherzubringen. Das wäre doch vielleicht auch ein interessantes Betätigungsfeld für Sie, Professor Nehringer?“
Der Professor winkte ab.
„Zeit meines Lebens habe ich versucht, jungen Menschen einen Sinn für Geschichte und Politik einzupflanzen. Jetzt stehe ich kurz vor der Pensionierung und muss Ihnen sagen, dass ich froh bin, dieses hoffnungslose Unterfangen endlich aufgeben zu können. Ich lebe dann nur noch für meine privaten wissenschaftlichen Studien und darauf freue ich mich. Sehr …“
Alle lachten.
„Na, na“, rief Eduard und schwenkte den Zeigefinger in der Luft. „Zumindest bei meinem Bruder ist Ihre Saat auf fruchtbaren Boden gefallen. Noch heute beruft er sich auf Erkenntnisse, die er in Ihrem Geschichtsunterricht gewonnen hat.“
„Hans … ja“, sagte der Professor und nickte. „Das ist wahr. Hans hat sich immer für Geschichte begeistert und die Lehren, die man daraus ziehen kann. Ab und zu kommt es vor. Ich hoffe, dass er nicht der Einzige ist.“
„Ganz bestimmt nicht“, sagte Maarsen überzeugt. Er wandte sich an Eduard. „Apropos: Ihr Bruder hatte wohl kein Interesse, Herrn Weidenmanns Vortrag zu hören? Wenn er politisch und historisch so interessiert ist …?“
Eduard lächelte verbindlich.
„Nein“, sagte er nur.
Maarsen hob eine Augenbraue, erwiderte aber nichts, da in diesem Moment Weidenmann zu ihnen trat. Dr. Köhning begrüßte ihn überschwänglich und das Gespräch entfernte sich von Waldbrügg in die ostafrikanischen Gefilde.
Als Eduard später durch die dunklen Gassen nach Hause schlenderte, war er überrascht, dass der Abend trotz aller Vorbehalte und trotz des eher unangenehmen Eindrucks, den Michael Maarsen zu Anfang auf ihn gemacht hatte, äußerst anregend verlaufen war. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch. Der Frühling war zwar schon auf dem Vormarsch, sobald der Abend hereinbrach wurde es aber immer noch empfindlich kalt.
Auf der Straße war kaum mehr jemand unterwegs, nur ab und zu huschte eine dunkle Gestalt, die Mütze oder den Hut tief in die Stirn gezogen, über die Straße. Die Pflastersteine glänzten im trüben Gaslicht der wenigen Laternen, als wären sie feucht. Nach dem Verlassen des Clubs hatten sich die Zuhörer schnell in alle Winde zerstreut. Zwar hatte Eduard zu Anfang den Eindruck gehabt, ein paar der jungen Kerle, die an der Tür gestanden hatten, würden ihm folgen. Doch bald war niemand mehr zu sehen. Er wurde ruhiger und schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf über seine eigene Überspanntheit, zu der wohl auch das eine oder andere Glas Wein beigetragen hatte. Doch als er durch die schmale, unbeleuchtete Gasse am Rathaus vorbeiging und den Marktplatz fast erreicht hatte, zuckte er plötzlich zusammen. Unversehens war eine Gestalt aus dem Schatten eines Hauses getreten. Das Gesicht konnte er nicht erkennen, es war vom langen Schirm der Mütze fast vollständig verdeckt. Automatisch beschleunigte Eduard seine Schritte, doch der Mann trat ihm entschieden in den Weg.
„Feuer?“, fragte er, als Eduard vor ihm stehen blieb.
Eduard klopfte mechanisch die Taschen seines Mantels ab und brachte nach einer umständlichen Suche tatsächlich eine Schachtel mit Streichhölzern zum Vorschein. Er brauchte einige Versuche, um eines der Hölzer anzureißen, doch schließlich gelang es ihm. Der Mann beugte sich mit dem Gesicht über die Flamme und schützte sie mit seinen Händen. Im sparsamen Licht vermeinte Eduard, einen der Burschen aus dem Club zu erkennen, die wahrscheinlich fürs Schließen der Türen und … – ja, für was denn noch? – verantwortlich gewesen waren.
Was machte der Mann hier? War er ihm doch gefolgt, wie er anfangs vermutet hatte? Oder war das ein Zufall? Möglicherweise hatte er ja denselben Heimweg wie Eduard. Es war aber kaum möglich, dass er vor ihm gegangen war. Die Gruppe der Männer, zu denen er gehört hatte, war noch geschlossen versammelt gewesen, als die Gäste den Club verlassen hatten. Er musste also einen anderen Weg eingeschlagen haben. Und er musste sich beeilt haben, um jetzt hier an der Ecke im Schatten auf Eduard zu warten.
„Mhm“, machte der Mann, was wohl als Dank zu verstehen sein sollte. Er zog an seiner Zigarette und richtete sich wieder auf.
Eduard schüttelte das Streichholz, bis es erlosch, und warf es zu Boden.
„Keine Ursache“, sagte er steif. Seine Stimme klang hohl in seinen Ohren und etwas zu laut für seinen Geschmack.
Vielleicht bildete er sich alles auch nur ein und das hier war ein ganz anderer Mann. Er hatte ihn im sparsamen Schein der Flamme ja nur kurz und undeutlich gesehen.
„Sie bauen die neue Brücke, nicht wahr?“, fragte der Mann, und an seiner Art zu sprechen erkannte Eduard, dass er nicht von hier stammte.
„Ja“, sagte er und atmete tief ein. Er trat einen Schritt zur Seite, um an dem Mann vorbeizukommen, der keine Anstalten machte, ihm aus dem Weg zu gehen. „Entschuldigen Sie. Es ist spät …“
Damit eilte er weiter. Nachdem er einige Meter gegangen war, wandte er den Kopf, obwohl er sich eigentlich zwingen wollte, sich nicht umzudrehen. Der Mann folgte ihm nicht, aber er stand immer noch am selben Fleck und blickte ihm nach. Eduard sah, wie die Glut seiner Zigarette in der Dunkelheit aufleuchtete. Er beschleunigte seine Schritte und war bald auf dem Marktplatz, wo es heller war. Erstaunt schüttelte er den Kopf über diese seltsame Begegnung der unheimlichen Art. Was hatte das zu bedeuten? Es war doch eigentlich ganz unmöglich, um diese Zeit in Waldbrügg auf offener Straße angesprochen zu werden. Ja, drüben, auf der anderen Seite des Flusses, im Lager der Arbeiter, dort vielleicht. Aber hier? Die Zeiten änderten sich vielleicht doch auch in Waldbrügg …
Eduard wollte zu seinen ursprünglichen Gedanken zurückkehren und die Gespräche des Abends noch einmal rekapitulieren, konnte sich aber nicht mehr darauf konzentrieren. Erst als er den Platz überquert, das Haus erreicht hatte und in der düsteren Halle stand, atmete er auf. Und als er seinen Mantel aufhängte, kamen seine Gedanken langsam auf den Abend im Club zurück. Doch den Zwischenfall – er beschloss, diese Begegnung für sich zu behalten und nannte sie nur in Gedanken einen Zwischenfall, denn was war denn schon geschehen? Ein Mann hatte ihn nach Feuer gefragt … – konnte er nicht ganz vergessen. Immer spukte er in den hinteren Regionen seines Kopfs und verknüpfte sich ganz automatisch mit den Eindrücken im Club, als hingen beide Ereignisse auf geheimnisvolle Weise zusammen.
Bei dem Vortrag und auch danach, während der Unterhaltung mit Maarsen und Weidenmann, waren Eduard gewisse, ihm unangenehme Ansichten der beiden aufgestoßen, an denen weder Dr. Köhning noch Professor Nehringer scheinbar etwas auszusetzen hatten. Wobei auch er kaum Einwände vorgebracht hatte und auch die anderen sich vielleicht nur höflich zurückgehalten hatten. Und insgesamt war es, das erstaunte ihn selbst, ein anregendes und interessantes Gespräch gewesen. Wenn er ehrlich war, reduzierten sich die unangenehmen Aspekte der Unterhaltung im Nachhinein auf einige wenige, und die hatte er auch immer aus dem Blickwinkel seines Bruders betrachtet. Kleine Momente, in denen er sich gefragt hatte, was Hans wohl dazu sagen würde. Sicher, sie waren sich grundsätzlich in ihrer fortschrittlichen Haltung einig. Doch Hans war doch um einiges radikaler in seinen Ansichten.
Während des Studiums hatte Eduard sich in vielen Dingen eine etwas moderatere Sicht der Dinge zugelegt. Er hatte das genau durchdacht. Einerseits war es seinem Bestreben geschuldet, gesetzter und abgeklärter zu wirken, andererseits machte es aber auch vieles leichter. Er fand Freunde aus angesehenen Familien und schließlich resultierte daraus auch seine Anstellung im Büro von Dr. Köhning. Hätte er sich an der Universität mit den Aufsässigen, den Liberalen oder gar Sozialisten eingelassen, dann stünde er heute nicht da, wo er jetzt stand.
Das Verhältnis zu seinem Bruder hatte sich nach seiner Rückkehr nach Waldbrügg geändert. Hans billigte seine neuen Grundsätze keineswegs und war ihm gegenüber misstrauischer geworden. Doch ihre Positionen hatten sich auch wieder nicht so weit voneinander entfernt, dass