Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler
Читать онлайн книгу.erhellte einen niedrigen Raum aus Ziegeln. Die Luft war dick und feucht, wie mit gemahlenem Ziegelstaub und mit Sporen von Pilzen durchsetzt. Es fiel den beiden schwer zu atmen. Der Boden bestand aus gestampfter Erde. An der Wand lehnten einige Gerätschaften, eine Hacke, eine Sense und an der Mauer hingen ein paar schwere Ketten an einem Eisenhaken. Alles war verrostet und verschimmelt. In der Mitte stand ein großer Holzklotz, auf dem einige Fetzen von zerfasertem Stoff lagen. An dem Klotz lehnte ein Beil. In der hinteren Wand war eine niedrige, schmale Holztür eingelassen. Sie sah mehr nach einer Klappe aus als nach einer normalen Tür.
„Du meine Güte“, sagte Simon. „Was ist denn das?“
„Was haben die hier gemacht?“, fragte Ava entsetzt. „Ist das ein Verlies?“
Simon ging vorsichtig hinüber zur Tür und rüttelte daran. Sie ließ sich nicht öffnen.
„Ich habe keine Ahnung“, sagte er.
Vorsichtig drückte Lina die Türklinke von Leas Zimmer herunter. Einen Moment blieb sie in der halb geöffneten Tür stehen und sah sich mit stumpfem Blick um. Die dicken, ockergelben Lichtstreifen, die durch die Lamellen der nicht ganz geschlossenen Klappläden drangen, gaben dem süßlichen, überreifen Geruch nach Verwesung und Verfall den angemessenen farblichen Ausdruck. Lina zeigte keine Regung. Ihr Blick fiel auf die gelblichen Binden, die auf einem kleinen Nachttisch beim Bett lagen. Dort standen auch eine Reihe von Glasfläschchen und Tiegeln, an denen sich trotz strenger Hygienevorgaben an den Rändern stellenweise leicht verhärtete, schmierige Ablagerungen gebildet hatten. Einen Moment beobachtete Lina die Staubflusen, die sie mit dem Öffnen der Tür in Bewegung versetzt hatte und die jetzt beinahe widerwillig und träge durch die gelben Lichtstreifen taumelten. Dann wurde die Sonne wohl von einer Wolke verdeckt, denn alles versank in einem grauen, dämmrigen Halbdunkel, als würde jemand eine Gaslampe mit großer, aber gleichbleibender Geschwindigkeit auf die kleinste Stufe drehen.
Leise betrat Lina das Zimmer, scheinbar unempfindlich gegen den Gestank, der zwar durchzogen, aber nicht überdeckt wurde vom Geruch nach Medizin und Kampfer. Unter der weißen Decke im Bett regte sich etwas und als Lina sich vorsichtig darüberbeugte, blickte sie in Leas kalte, graue, starrende Augen. Lina verzog keine Miene, aber sie konnte sich nicht gleich von ihnen lösen, war wie fixiert von dem sezierenden Blick, der schien, als wolle er durch ihren eigenen Sehnerv tief hineinkriechen in ihr Innerstes, ihr vielleicht das Leben bis auf den letzten Rest aussaugen, um das eigene verzweifelt und auf Kosten egal welcher anderen zu erhalten, solange es ging.
Doch es war nur ein kurzer Moment, dann wandte Lina sich ab und ging hinüber zu einem kleinen Tischchen, das unter dem Fenster stand. Sie nahm einen Krug und goss Wasser in eine Schale, die sie mit einem Schwamm zum Bett hinübertrug. Lina stellte die Schale neben die Binden und schlug die Bettdecke mit einem Schwung zurück. Sie setzte sich auf die Bettkante neben Leas dürres Gerippe, das abgesehen von den Armen und Füßen bedeckt war von einem groben, weißen Nachthemd. Hinten wurde es nur von ein paar Bändern zusammengehalten. Lina drehte den dünnen Körper routiniert zur Seite, löste die Bänder und begann, Leas im Dämmerlicht graue, gelbliche Haut mit dem Schwamm abzuwaschen. Ihr Blick schweifte ab, während sie den Schwamm mechanisch über den Rücken führte, auf den Fußboden, dessen raue Dielen denen in ihrem Zimmer glichen, dann auf die Vielzahl von Fläschchen, Tiegeln und Gefäßen, deren Inhalt Leas Leben verlängern sollte. Nein, ihr das Leben zurückbringen … Lina dachte nicht daran, wie das sein würde, sollte Lea jemals wieder gesund werden. Sie dachte auch nicht darüber nach, ob und wann sie sterben würde. Ihre Pflege war wie die Hausarbeit jeden Tag zu erledigen.
Sie tauchte vielmehr ein in etwas, das man vielleicht als diffusen Nebel bezeichnen konnte, eine hellgraue, wogende Masse – obwohl das Wort Masse aufgrund der Dichte, die es suggerierte, irgendwie fehl am Platz wirkte –, in der sich nur undeutlich eine schattenhafte Gestalt abhob, eine durch ein etwas dunkleres Grau nur leicht konturierte Form eines Wesens, kaum als Gestalt zu bezeichnen. Ihr Traum … Eine Zeit lang verharrte Lina so, eigentlich nur einen kurzen Moment. Dann fokussierte sich ihr Blick wieder auf ihre Arbeit, Leas Rücken, den sie zu säubern hatte. Die gelbe, talgige Haut … An zwei Stellen, unten am Steißbein und am mageren linken Schulterblatt, dessen Knochen herausragte wie der lahme Flügel eines Kükens, waren lila Wundmale zu sehen, in deren Mitte jeweils ein kleiner Fleck rohen Fleischs zu sehen war. Hier hatte Lea sich aufgelegen, Lina konnte gar nicht sagen, wann das passiert war. Eines Morgens waren die Stellen da gewesen und jetzt breiteten sie sich langsam aus.
Lina tauchte den Schwamm ins Wasser, wrang ihn aus und tupfte vorsichtig um die Stellen herum. Lea stöhnte leise auf, die erste Regung überhaupt von ihr. Ansonsten ließ sie die Prozedur stumm und bewegungslos über sich ergehen. Nachdem sie den Rücken abgetrocknet hatte, nahm Lina mit einem kleinen Spachtel, an dem noch Reste von den Tagen zuvor klebten, Salbe aus einem der Tiegel und bestrich die Wundränder. Dann drehte sie Lea wieder auf den Rücken in ihre ursprüngliche Position. Lea blickte sie genauso unverwandt an wie zuvor. Es war, als würden sich ihre Augäpfel überhaupt nicht mehr bewegen, sondern immer nur in dieser einen Position vor sich hin starren. Doch dann bewegte sie plötzlich mit einer unerwarteten Flinkheit ihren Arm und griff unkontrolliert, aber fest in die dicke Wolle von Linas Haaren. Ihre knochigen Finger verfingen sich darin, krallten sich fest und zogen sie brutal und unbarmherzig zu sich herunter. Gleichzeitig ließ sie Lina nicht aus den Augen und sie hatte wieder das deutliche Gefühl, als würde Lea nicht zögern, ja, sogar alles daransetzen, ihr alles Leben bis aufs Mark aus den Knochen zu saugen.
Lina stemmte sich gegen den Zug, doch Lea ließ nicht locker. Der Schmerz trieb ihr schließlich die Tränen in die Augen, doch sie blieb ruhig und während sie so Auge in Auge halb auf der Frau lag, die ihr doch eigentlich schon fast tot erschien, befreite sie sich Finger für Finger aus der Umklammerung. Als sie sich schließlich gelöst hatte, sprang sie auf, machte einen schnellen Schritt vom Bett weg und atmete scharf ein. Mit dem Handrücken rieb sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Es war nicht das erste Mal, dass Lea ihr wehgetan hatte. Aber sie war überrascht von der Kraft, die noch in ihr war, besser gesagt in den Fingern, die mehr wie eine Klaue oder eine Kralle waren. Vielleicht war es ja aber auch das letzte Aufbäumen von Leben in diesem Körper gewesen, von dem nicht sicher war, ob der Geist nicht schon vorausgegangen war, wohin auch immer … Lina wusste nicht, welches Jenseits die jüdische Religion für ihre Mitglieder vorgesehen hatte. Ihre Kopfhaut brannte. Sie breitete die Decke über Lea und verließ den Raum beinahe so geräuschlos, wie sie gekommen war.
Dieses verlotterte Ding … Lea hielt ihren Blick auf Lina gerichtet, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Und auch als sie weg war, starrte sie weiter die Tür an, hinter der sie verschwunden war. Als gäbe es noch etwas zu sehen, als gelänge es ihr, wenn sie sich nur intensiv genug bemühte, die Tür zu durchdringen, die Wände, die Mauern des Hauses, der Stadt, und dann vielleicht endgültig hinter die Dinge zu blicken, hinter die Kulissen auf die … Wahrheit. Zu finden, was sie immer schon geahnt hatte, eine Art ewige Existenz der Seele ohne dieses lästige Fleisch.
Aber nein, sie kannte ja die Wahrheit. Und es war völlig gleichgültig, wohin sie blickte. Sie kannte jeden Winkel dieses Zimmers von ihrer jetzigen Position aus genau. Wie lange lag sie schon hier? Sie wusste es nicht. Dieser Schmutz überall … Und all dieser Schmerz … Sie atmete schwer. Es gibt noch ein Wesen und es ernährt sich von mir, dachte sie. Es frisst mich von innen. Oder ist das der Tod? Sind alle anderen am Leben und ich bin tot?
Aber nein. Erinnerung heißt leben. Und ich erinnere mich daran, dass es einmal anders war. Dass es andere Zeiten gab, in denen der Tod keine Rolle gespielt hat. Er war ein Eindringling von außen, ein Feind, dem man aus dem Weg gehen konnte. Er kam nicht von innen. Aber Jella und ich wussten schon von ihm. Wir waren noch Kinder und hatten Angst, aber nicht um uns. Wir hatten Angst um Jakob, der unbedingt in den Krieg ziehen wollte. Wir hatten keine Ahnung, welcher Krieg das sein sollte. Wir wussten nicht, worum es ging. Doch Vater hatte uns gesagt, in jedem Krieg geht es um etwas, aber nie um das Wohl von Menschen.
„In diesem schon“, hatte Jakob gesagt. „Es geht um die Freiheit der Gedanken und die Selbstbestimmung der Menschen.“
Jella und ich hatten keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Ich habe es vielleicht nie ganz begriffen und bin mir