Zu Vermieten. John Galsworthy
Читать онлайн книгу.»Macht’s gut!« und diese Art zu reden und ihr Gelächter – Mädchen, die ihn erschaudern ließen, wenn er daran dachte, dass Fleur Kontakt zu ihnen hatte, und die älteren patenten Frauen mit ihrem harten Blick, die im Leben zurechtkamen und ihn ebenfalls erschaudern ließen.
Nein! Seine alten Tanten, wenn sie auch nie ihre geistigen Horizonte, ihre Augen oder auch kaum ihre Fenster geöffnet hatten, hatten zumindest Manieren und Niveau gehabt, und Ehrfurcht vor Vergangenheit und Zukunft.
Mit einem Gefühl der Beklemmung schloss er die Tür und schlich leise die Treppe hinauf. Auf dem Weg nach oben sah er in einen der Räume: Hm! Perfekt erhalten im Stil der 1880er, mit einer Art gelbem Ölpapier an den Wänden. Oben an der Treppe zögerte er zwischen vier Türen. Welche davon war die zu Timothys Zimmer? Und er lauschte. Ein Geräusch wie das eines Kindes, das langsam ein Steckenpferd über den Boden zog, drang zu seinen Ohren. Das musste Timothy sein! Er klopfte und eine Tür wurde von Smither geöffnet, die sehr rot im Gesicht war.
Mr Timothy mache gerade seinen Spaziergang und sie habe ihn nicht dazu bringen können, ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn Mr Soames ins Hinterzimmer kommen wolle, könne er ihn durch die Tür sehen.
Soames ging ins Hinterzimmer und beobachtete ihn.
Der letzte der alten Forsytes war auf den Beinen und bewegte sich mit beeindruckender Langsamkeit und einer Ausstrahlung vollkommener Konzentration auf seine eigenen Angelegenheiten zwischen Bettende und Fenster hin und her, eine Strecke von gut drei Metern. Der untere Teil seines eckigen Gesichtes war nicht mehr glattrasiert, sondern von einem schneeweißen Bart bedeckt, der so kurz wie möglich geschnitten war, und sein Kinn sah so breit wie seine Stirn aus, über der das Haar auch ziemlich weiß war, während seine Nase, Wangen und Stirn recht gelblich waren. In der einen Hand hielt er einen dicken Stock, mit der anderen umfasste er den Stoff seines wollenen Morgenrocks, unter dem seine Knöchel in Bettsocken und seine in wollenen Hausschuhen steckenden Füße hervorschauten. Sein Gesichtsausdruck war der eines wütenden Kindes, das etwas wollte, was es nicht bekam. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, stieß er mit dem Stock auf und zog ihn dann hinter sich her, als wolle er zeigen, dass er ihn gar nicht brauchte.
»Er sieht immer noch kräftig aus«, flüsterte Soames.
»Oh ja, Sir. Sie sollten ihn sehen, wenn er sein Bad nimmt – es ist wundervoll, er genießt es so sehr.«
Diese recht lauten Worte brachten Soames zu einer Erkenntnis. Timothy war wieder auf dem Stand eines Kleinkindes.
»Zeigt er denn Anteil an den Dingen im Allgemeinen?«, sagte er ebenfalls laut.
»Aber ja, Sir! Am Essen und an seinem Testament. Es ist schon ein Anblick, ihn so zu sehen, wie er es wieder und wieder umdreht, natürlich nicht, um es zu lesen, und hin und wieder fragt er nach dem Preis von Staatsanleihen und ich schreibe es ihm auf eine Schiefertafel – ganz groß. Natürlich schreibe ich immer dasselbe, wie sie standen, als er das letzte Mal Notiz davon nahm, 1914. Wir haben den Arzt dazu gebracht, ihm zu verbieten, die Zeitung zu lesen, als der Krieg ausbrach. Oh, anfangs hat er sich fürchterlich darüber aufgeregt! Aber dann hat er sich schnell wieder beruhigt, weil er wusste, dass es ihn ermüdete, und es ist ein Wunder, wie er mit seiner Energie haushaltet, wie er es immer genannt hat, als meine lieben Herrinnen noch lebten, Gott habe sie selig! Wie er doch deswegen immer mit ihnen geschimpft hat, sie waren ja immer so rührig, wenn Sie sich erinnern, Mr Soames.«
»Was würde passieren, wenn ich zu ihm hineingehen würde?«, fragte Soames. »Würde er mich erkennen? Ich habe sein Testament erstellt, wissen Sie, nach Miss Hesters Tod 1907.«
»Ach, Sir«, erwiderte Smither zweifelnd, »dass kann ich nicht sagen. Ich halte es für möglich, er ist wirklich ein wundervoller Mann für sein Alter.«
Soames trat in die Tür, wartete darauf, dass Timothy sich umdrehte, und sagte mit lauter Stimme: »Onkel Timothy!«
Timothy ging die Strecke zur Hälfte zurück und blieb dann stehen.
»Eh?«, sagte er.
»Soames«, rief Soames so laut er konnte und streckte die Hand aus, »Soames Forsyte!«
»Nein!«, sagte Timothy, stieß mit seinem Stock laut auf den Boden und ging weiter.
»Scheint nicht zu funktionieren«, sagte Soames.
»Nein, Sir«, erwiderte Smither ziemlich niedergeschlagen. »Wissen Sie, er ist eben noch nicht fertig mit seinem Spaziergang. Bei ihm galt immer: eins nach dem anderen. Er wird mich wohl heute Nachmittag fragen, ob Sie wegen des Gaslichts da waren, und dann werde ich meine liebe Mühe haben, es ihm zu erklären.«
»Meinen Sie, er sollte einen Mann dahaben, der sich um ihn kümmert?«
Smither hob die Hände. »Einen Mann! Aber nein! Die Köchin und ich schaffen das sehr gut. Ein fremder Mann würde ihn in kürzester Zeit in den Wahnsinn treiben. Und meinen Herrinnen würde der Gedanke an einen Mann im Haus nicht gefallen. Außerdem sind wir so – stolz auf ihn.«
»Ich nehme an, der Arzt sieht nach ihm?«
»Jeden Morgen. Bei so häufigen Besuchen gewährt er Sonderkonditionen, und Mr Timothy ist so daran gewöhnt, dass er es gar nicht zur Notiz nimmt, außer dass er die Zunge herausstreckt.«
»Also mir«, sagte Soames, während er sich abwandte, »erscheint das ziemlich traurig und schmerzlich.«
»Aber Sir«, erwiderte Smither besorgt, »so dürfen Sie nicht denken. Nun, wo er sich um nichts mehr sorgen kann, genießt er sein Leben richtig, wirklich. Wie ich immer zur Köchin sage, Mr Timothy hat jetzt erst seine beste Zeit. Wissen Sie, wenn er nicht gerade seinen Spaziergang macht oder sein Bad nimmt, dann isst er, und wenn er nicht isst, dann schläft er, und das war es auch schon. Er ist völlig frei von Schmerz und Sorge.«
»Naja«, sagte Soames, »da ist wohl etwas dran. Ich gehe dann wieder nach unten. Ach, und lassen Sie mich sein Testament anschauen.«
»Dafür bräuchte ich etwas Zeit, Sir, er hat es unter seinem Kissen, und solange er in Aktion ist, würde er mich sehen.«
»Ich will nur wissen, ob es das ist, das ich aufgesetzt habe«, sagte Soames. »Sehen Sie mal nach dem Datum und lassen Sie es mich dann wissen.«
»Ja, Sir. Aber ich bin sicher, dass es das ist, wie Sie sich erinnern, waren ja die Köchin und ich Zeugen, und es stehen immer noch unsere Namen darauf, und wir haben nur einmal unterschrieben.«
»Richtig«, sagte Soames. Er erinnerte sich. Smither und Jane waren geeignete Zeugen gewesen, da ihnen im Testament nichts hinterlassen wurde, damit sie kein Interesse an Timothys Tod hätten. Es war – das gab er offen zu – eine fast schon unangemessene Vorsichtsmaßnahme gewesen, doch Timothy hatte es so gewollt, und schließlich hatte Tante Hester ja sehr gut für sie gesorgt.
»Gut«, sagte er, »Auf Wiedersehen, Smither. Passen Sie auf ihn auf, und sollte er irgendwann irgendetwas sagen, notieren Sie es und lassen Sie es mich wissen.«
»Aber ja, Sir! Das werde ich ganz sicher machen. Es war eine so schöne Abwechslung, Sie zu sehen. Die Köchin wird ganz aufgeregt sein, wenn ich ihr davon erzähle.«
Soames schüttelte ihre Hand und ging die Treppe hinunter. Er blieb ganze zwei Minuten neben dem Hutständer stehen, an den er seinen Hut schon so viele Male gehängt hatte. So vergeht alles, dachte er, es vergeht und fängt von Neuem an. Der arme alte Kerl! Und er lauschte, ob vielleicht das Geräusch des Steckenpferdes, das Timothy über den Boden zog, ins Treppenhaus hinunterklänge, oder ob der Geist irgendeines alten Gesichtes über dem Geländer auftauchen und eine alte Stimme sagen würde: Na sowas, der liebe Soames! Und wir haben gerade noch gesagt, dass wir ihn schon seit einer Woche nicht mehr gesehen haben!
Nichts – nichts! Nur der Duft von Kampfer, und Staubkörner in einem Sonnenstrahl, der durch das Fenster über der Tür hineinfiel. Das kleine alte Haus! Ein Mausoleum! Und er drehte sich um, ging hinaus und zu seinem Zug.
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