Manipuliert. Teri Terry
Читать онлайн книгу.Panisch sause ich die Klippe hinauf zurück ins Haus. Kai steht im Wohnzimmer, der Teppich, die Wand, alles ist in Rot getaucht, aber es ist nicht schlimm, es ist kein Blut. Bloß Wein. Überall liegen Scherben auf dem Boden verteilt. Offenbar hat Kai die Flasche mit aller Kraft an die Wand geworfen.
Mit geballten Fäusten steht er da, und auch wenn er mich nicht wahrnimmt, stelle ich mich mit geballten Fäusten neben ihn.
Er kann mich nicht hören, er kann mich nicht sehen, aber wir stehen das gemeinsam durch.
Wut reicht nicht aus, um meine Gefühle für Dr. 1 zu beschreiben. Er hat die Krankheit erschaffen, die mich und Shay verändert hat. Er hat mich geheilt, mich im Feuer verbrannt, sodass ich zu dem geworden bin, was ich bin.
Zusammen werden Kai und ich ihn aufspüren und dann wird er leiden.
Menschliche Gefühle und Reaktionen auf einen Reiz sind meistens vorhersagbar, nicht aber ihr anschließendes Handeln. Das wird nur selten von den Gesetzen der Logik oder der Evolution beeinflusst.
Xander, Manifest des Multiversums
Unterwegs zu sein, ist besser, als rumzusitzen. Der Regen tut auch gut: lieber nass sein und frieren, das lenkt ab.
Noch immer fühlt sich mein Brustkorb wie zugeschnürt an, aber wenn ich schnell laufe, muss ich ja atmen, muss mein Herz ja schlagen.
Noch mal verpatze ich es nicht. Darf ich nicht.
Ich finde dich, Shay.
Und dann? Was dann?
Das dann kann warten. Erst muss ich sie finden.
Als ich die kleine Wiese oberhalb der Klippen erreiche, wo Shay an mich gelehnt in der Sonne geschlafen hat, versagen mir die Beine.
Sofort spüre ich wieder ihren warmen Körper, rieche ihr Haar, das noch nass vom Wasserfall war. Genau hier ist es gewesen.
Los. Weiter.
Diesmal klettere ich direkt die Klippe hinunter und nehme nicht den leichteren Weg über die Felsspalte. Es hat aufgehört zu regnen, aber ich rutsche trotzdem auf den glitschigen Steinen weg.
Mit Händen und Füßen versuche ich, Halt zu finden, ramme die Hand zwischen zwei Felsen. Ein tierischer Schmerz, aber ich lasse nicht los. Mit den Fußspitzen suche ich zu beiden Seiten nach Halt, damit ich meine Hand entlasten kann. Und dann höre ich im Geist einen Schrei, ein Echo, so wie gestern, als ich hinterm Haus auf der Klippe stand.
»Bist du das, Callie? Keine Angst, mir passiert schon nichts.«
Etwas vorsichtiger klettere ich weiter, unten inspiziere ich meine Hand. Bloß eine Fleischwunde, blutet ein bisschen. Kein Ding.
Wäre Mum hier, würde sie mir sicher Wundspray und Pflaster verpassen. Mir fällt wieder die Situation in Callies Zimmer ein, als ich mich an dem Glasteddy geschnitten hatte und Mum sich um meine Wunde gekümmert hat. Sie wünschte, all meine Wunden wären so leicht zu verarzten, meinte sie damals. Doch sie werden nur schlimmer und schlimmer.
Das Wasser ist noch nicht ganz aufgelaufen. Als Shay und ich vom Ruderboot hier abgesetzt wurden, stand es höher, dafür war es nicht so stürmisch. Soll ich warten, bis sich die See beruhigt? Unschlüssig schaue ich aufs Meer.
Bleib in Bewegung.
Ich ziehe T-Shirt und Jeans aus, wickle sie in Plastik und packe sie in den Rucksack zu den Wasserflaschen und den restlichen Lebensmitteln, die ich im Haus noch finden konnte.
Als ich den Fuß ins Wasser tauche, muss ich losfluchen. Es ist so scheiße kalt. Am besten kurz und schmerzlos! Ich mache ein paar Schritte ins Wasser und stürze mich dann rein.
Der Schock schnürt mir den Atem ab, und alles in mir sträubt sich, die Arme auszustrecken und zu schwimmen. Ich will wieder raus aus dem Wasser, mich aufwärmen.
Ich kraule, so schnell ich kann, um wieder Gefühl in Arme und Beine zu bekommen. Bald habe ich die Bucht und auch die Felsen hinter mir gelassen, das Wasser wird tiefer. Hier ist auch mehr Wellengang. Die Höhle liegt vor der Küste links, aber sobald ich in die Richtung schwimme, muss ich gegen die Strömung ankämpfen, die mich nach rechts treibt. Also schwimme ich noch etwas aufs Meer hinaus, nehme leichten Kurs nach links in den immer heftiger schlagenden Wellen.
Mit jedem Zug wird es schwerer. Mir tanzen schon Sterne vor den Augen.
Erschöpft schließe ich die Augen, lasse mich ein wenig treiben und vom wirbelnden Wasser davontragen. Meine Gedanken sind diffus und sprunghaft. Shays, Mums und Callies Gesicht tauchen kurz auf und …
NEIN!
Ich zucke zusammen, reiße die Augen auf. Das war kein Echo mehr, eher ein Schrei.
»Alles klar, Callie. Weiter geht’s.« Ich treibe mich an, kämpfe mich nach links vor. Hier draußen auf dem Meer ist der Sog nicht so stark. Ich schwimme absichtlich an der Höhle vorbei, dann Richtung Land. Sobald ich mich der Küste nähere, wird die Strömung stärker und treibt mich wieder hinaus.
Doch allmählich beruhigt sich die See. Im Schatten der Klippen schwimme ich auf den dunklen Felsspalt zu.
Am Eingang der Höhle zieht sich Kai auf einen Felsen hoch und bleibt keuchend liegen.
Ich habe das Gefühl, dass mein Atem und mein Herz ebenso schnell gehen wie bei ihm. Kai schwamm immer weiter raus, dann erlahmten seine Kräfte und er ließ sich mit geschlossenen Augen aufs Meer treiben.
Auf jeden Fall hat er mich gehört. Ist richtig zusammengezuckt, als ich ihn angeschrien habe, er solle gefälligst an Land schwimmen. Da hatte ich erst recht Bammel, denn sonst hören mich die Leute nur, wenn sie gleich sterben. War er kurz davor aufzugeben?
Ich bin so auf Kai fixiert, auf das Heben und Senken seiner Brust, dass ich es zunächst nicht bemerke.
Da ist etwas in der Höhle hinter uns.
Ein Boot. Aber es sieht ganz anders aus als das Boot, mit dem wir gekommen sind. Dieses ist weiß, schön und gepflegt, nicht so derb und schäbig. Ich erkenne die heruntergelassenen Segel – ein Segelboot.
Es ist so still. Ist da jemand?
Kai rührt sich hinter mir. Er setzt sich auf, schnauft noch immer, seine Augen haben sich wohl mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Endlich bemerkt auch er das Boot, dreht sich danach um und macht große Augen.
Das Wasser in der Höhle ist ruhig. Kai gleitet wieder hinein und schwimmt ein paar Züge auf den Kahn zu. Dann klettert er auf einen Felsen beim Boot.
»Hallo?«, ruft er.
Kein Ton zu hören.
Mittlerweile zittert Kai wie verrückt, hat Gänsehaut an Armen und Beinen. Er nimmt den Rucksack ab, holt seine Klamotten raus und kämpft damit, sie über die nasse Haut zu ziehen.
»Hallo?«, ruft er wieder. Dann hält er sich Mund und Nase zu, als würde es stinken.
Ich schwebe an ihm vorbei an Bord.
Nach kurzer Zeit entdecke ich sie.
Drei rothaarige Kinder. Eine Frau mit langem rotem Haar liegt daneben. Ihre Augen offen, starr. Noch mehr Rot, rot vom Blut. Die sind schon eine Weile tot.
Aber da ist noch jemand neben ihnen. Ein Mann. Am Leben. Ausgestreckt wäre er ziemlich groß, doch jetzt kauert er zusammengefaltet an Deck. Hat die Arme um die Knie geschlungen, wiegt sich summend mit geschlossenen Augen vor und zurück.