Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen. Kai Fritzsche

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Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen - Kai Fritzsche


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Die 45-jährige Patientin ruft mich von einem Ort der Stadt an, den sie nicht kenne, und sie wisse nicht, wie sie dorthin gelangt sei. Sie sei in ihrem Auto und kenne weder die Gegend noch den Anlass der Fahrt, noch habe sie eine Idee, wie sie nach Hause gelangen könnte. Dissoziativer Stupor Die 26-jährige Patientin verfällt mehrmals in Behandlungssitzungen in bewegungslose Zustände, in denen sie nicht mehr ansprechbar ist. Sie reagiert nicht auf meine Stimme, ebenfalls nicht auf meine Bewegungen. Die Zustände stehen in Zusammenhang mit der Nähe, die wir zu traumatischen Ereignissen ihrer Biografie herstellen. Dissoziative Bewegungsstörung Der 48-jährige Patient wurde aufgrund von Bewegungsstörungen (der unteren Extremitäten) in einer neurologischen Spezialklinik behandelt, ohne dass eine neurologische Verursachung gefunden werden konnte. Mehrere Monate verbrachte er im Rollstuhl, bis er das Gehen langsam wieder lernte. Sein Gangbild war in der Therapie überwiegend unauffällig, änderte sich jedoch deutlich in Sitzungen, in denen das Belastungsniveau anstieg. Solche Sitzungen verließ er humpelnd. Dissoziative Krampfanfälle Die 23-jährige Patientin berichtete von Krampfanfällen, die sie zu Hause erlebt hatte und die ihr große Angst machten. Im Behandlungsverlauf wird ein Zusammenhang mit traumatischem Stress deutlich. Während einer geplanten Konfrontation mit traumatischem Erinnerungsmaterial tritt ein solcher Krampfanfall in der Praxis auf. Die Anfälle gehen in dem Ausmaß zurück, in dem die Bearbeitung der Traumafolgestörung Fortschritte zeigt. Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen Der 28-jährige Patient beschreibt, wie er im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Verlust, den er erlebte und weshalb er in Behandlung ist, wiederholt in Zustände gerate, in denen er mich nur noch wie aus weiter Ferne wahrnehmen würde, wie durch ein herumgedrehtes Fernrohr. Seine Wahrnehmung würde auf einen minimalen Punkt zusammenschmelzen (stecknadelgroß) und alles andere wäre wie eingefroren. Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) Der 47-jährige Patient beschwert sich über ein neues Tattoo, das sich plötzlich auf seiner Brust befindet. Er könne sich denken, wer dafür verantwortlich sei, und zeigt sich sehr verärgert, dass er keine Möglichkeit hatte, diesen Persönlichkeitsanteil daran zu hindern. Er schäme sich für dieses kindliche Motiv und würde sich so etwas niemals tätowieren lassen (da wüsste er ganz andere Motive, die er mir lieber nicht verraten möchte). Depersonalisations-/Derealisationssyndrom Die 25-jährige Patientin berichtet davon, wie sie eine stationäre traumatherapeutische Behandlung sozusagen ohne ihr Beisein absolvierte. Die meiste Zeit habe sie jeweils an der Zimmerdecke verbracht. Sie habe die Behandlungen von dort aus beobachtet und sich selbst als fremd erlebt. Die Szenerie sei ihr ebenfalls als fremd und unwirklich vorgekommen. Mit ihr habe das alles offensichtlich nichts zu tun gehabt.

       Tab. 3: Praxisbeispiele für dissoziative Störungen

       2.2Orientierung mittels traumatischer Ereignisse

      Die Definition traumatischer Ereignisse ist ein weites und viel diskutiertes Feld. Sie bewegt sich neben den durch das DSM-5 und die ICD-10 festgelegten Kriterien von der Mahnung vor der Inflation des Traumabegriffs (Quindeau 2019, S. 26) bis hin zum Aufzeigen von Grenzen der Traumadefinition und dem Vorschlag von Ergänzungen (Sack 2013). Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb bietet sich die Betrachtung der traumatischen Ereignisse ebenfalls als eine Orientierung in der Traumalandschaft, d. h. zur Behandlung von Traumafolgestörungen an.

      Traumatische Ereignisse werden entsprechend der ICD-10 als kurz- oder langanhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß definiert, die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würden.

      Für das ICD-11 werden folgende Beispiele angeführt (Pfeiffer, de Haan u. Sachser 2019, S. 42):

      •direktes Erleben von durch Menschen verursachten Katastrophen oder Naturkatastrophen, Krieg, schweren Unfällen, Folter, sexueller Gewalt, Terrorismus, körperlicher Gewalt oder lebensbedrohlichen Krankheiten

      •Zeugenschaft von bedrohlicher oder plötzlicher Verletzung oder vom Tod anderer in einer unerwarteten oder gewaltsamen Weise

      •Erfahren über den unerwarteten oder gewaltsamen Tod eines geliebten Menschen

      Martin Sack (2013, S. 14) schlägt eine Ergänzung der Traumadefinition vor, die Vernachlässigung und psychische Gewalt einbezieht:

      »Die betroffene Person war Situationen ausgesetzt, in denen die folgenden Bedingungen erfüllt waren:

      •Die Person war in ihrer Kindheit wiederholt Situationen emotionaler oder physischer Vernachlässigung ausgesetzt oder wurde wiederholt vorsätzlich und ohne Grund entwertet, gedemütigt oder angeschrien.

      •Die betroffene Person reagierte mit starker Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen.«

      Der wissenschaftlichen und vermeintlich nüchternen Definition und Betrachtung von traumatischen Ereignissen und ihren Folgen steht das traumatische Erleben betroffener Menschen gegenüber. Die Orientierung wird häufig schwierig, wenn wir auf eine (teilweise extrem ausgeprägte) Kombination, Häufung oder Ausprägung (Intensität) von Traumata stoßen. Nüchtern hieße es: Multitrauma oder Komplextrauma. Was dies für das Leben und die Entwicklung der betroffenen Person bedeutet, ist damit noch nicht beantwortet. Vielleicht geht es hier mehr um eine Sensibilisierung als um eine Orientierung im engeren Sinne.

      Hecker und Maercker (2015, S. 549) geben über alle Studien und Traumaarten zusammengefasst eine bedingte Wahrscheinlichkeit, eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, von 8 bis 15 % an. Die bedingten Wahrscheinlichkeiten sind in verschiedenen Ländern annähernd gleich hoch:

      •ca. 50–65 % nach direktem Kriegserleben als Zivilist

      •ca. 50 % nach Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch

      •ca. 25 % nach anderen Gewaltverbrechen

      •ca. 5 % nach schweren Verkehrsunfällen

      •unter 5 % nach Natur-, Brand- und Feuerkatastrophen

      •unter 5 % bei Zeugen von Unfällen und Gewalthandlungen

      Traumata sind ihrem Wesen nach unerträglich, schreibt Bessel van der Kolk (2017, S. 9). Entsprechend viel Aufwand wird von betroffenen Menschen betrieben, all das, was mit Trauma und Traumafolgen zu tun hat, aus ihrem Bewusstsein, aus ihrem Leben zu verbannen, um jeden Preis. Sie zahlen in einer spezifischen Währung. Die Währung besteht aus den Strategien, sich selbst vor dem eigenen Schrecken zu schützen, zu distanzieren, in Sicherheit zu bringen. Die Strategien sind für die Patienten nicht verhandelbar. Sie lassen sich nicht »auf Zuruf« verändern. Sie können bewusst oder unbewusst sein und ermöglichten die Bewältigung des traumatischen Ereignisses.

      Hinsichtlich der Orientierung und Topografie lassen sich hier bei Patientinnen und Patienten deutliche und für die Behandlung wichtige Unterschiede finden. Der Behandlungsverlauf bei Betroffenen, die sich gut gewappnet und sicher ihrem traumatischen Ereignis stellen können und wollen, sieht anders aus als der von Patientinnen, denen dies nicht möglich ist. Ebenso wie im Hinblick auf die Diagnosen der Traumafolgestörungen und unterschiedlicher Störungsbilder finden wir auch im Bereich der traumatischen Ereignisse Unterscheidungen und somit Entscheidungshilfen für die Behandlungsplanung. Die Art der Traumatisierung, der Zeitpunkt, der Zeitraum, die Umstände,


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