Gesammelte Werke. Ricarda Huch

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Gesammelte Werke - Ricarda Huch


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Rechte und Pflichten von Herrschaft und Untertan regelten, so daß eigentliche Leibeigenschaft nicht vorkam. Die Spitze des reichgegliederten Körpers bildeten zwei Häupter, Papst und Kaiser, die die Staatslehre mit Sonne und Mond zu vergleichen pflegte. Beide waren auf der Höhe des Mittelalters grundsätzlich absolut, nur von Gott abhängig, tatsächlich aber mannigfach beschränkt, sowohl durch die Beziehung zu ihren Wählern wie durch ihre Beziehung zueinander, die wie alles in diesem lebendig strömenden Gebilde nur durch Gewohnheit oder durch auf den jeweiligen Fall berechnete Bestimmungen geregelt wurde. Beide strebten nach Unabhängigkeit voneinander und nach Herrschaft übereinander, woraus sich ein dauernder, nur gelegentlich durch Friedensschlüsse unterbrochener Kampf ergab, unendlich, weil diese beiden Mächte durch ihre Stellung im Reich unauflöslich miteinander verbunden und einander unentbehrlich waren. Wenn der Papst die Fülle der geistlichen Macht besaß, so nannte sich der Kaiser Herr des Erdkreises, dominus mundi, insbesondere war er Herr des Reiches, Inhaber des gesamten Bodens und aller Rechte, was alles er besaß, um davon auszuteilen; es strömte von ihm aus, um wie zum Herzen des Körpers zu ihm zurückzufließen. Diejenigen, welche am meisten Empfänger seiner Gnaden waren, trachteten, je reicher sie wurden desto mehr danach, unabhängig und selbständig zu werden, und wurden dadurch zu einer dem Kaiser entgegenwirkenden Macht. Indem sie sich auf den stets zur Intrige bereiten Papst stützten und sich mit sehr wirksamen geistigen Waffen ausrüsteten, waren sie ihm oft überlegen, und der Herr des Reiches mußte sich dies Reich mit der Waffe erobern.

      Wie auf dem Papst die Einheit des Glaubens, so beruhte auf dem Kaiser die Einheit der inneren und äußeren Politik. Das Zusammenwirken der Reichsglieder wurde bewirkt durch die Gefolgschaft, die bei Reichskriegen dem Kaiser zu leisten war, und durch den Reichstag, auf dem allerdings nicht alle Stände vertreten waren: die Bauern und Ritter fehlten ganz, die Städte wurden nur dann zugezogen, wenn die Fürsten ihrer bedurften; erst gegen das Ende des Mittelalters erreichten sie die eigentliche Reichsstandschaft, und auch dann nicht unbestritten.

      Wie im menschlichen Körper geistiges und leibliches Leben einander stetig durchdringen, so verband sich im Körper des Reiches kirchliche Betätigung mit jeder staatlichen und gesellschaftlichen; in Krieg und Frieden, in Handel und Handwerk, auf dem Markt und beim Geldverkehr, im Hause und im Stalle leuchtete die goldene Ader des Ewigen auf, das Alltagstreiben der menschlichen Begierden adelnd. Soweit es auf Erden möglich ist, kann man von dem Reich sagen, daß es in seiner Mannigfaltigkeit und Gelenkigkeit, in der Fülle seiner aufeinander bezogenen Individualitäten, die Sternen und Sternbildern gleich durcheinanderschwärmten und sich gelten ließen, in der Großartigkeit und Freiheit seiner Anlage, wo es ohne Zwang stetigen Umschwung um den Mittelpunkt, ohne mechanische Verkettung Zusammenhang gab, wo Macht sich segensreich ausblühen konnte, weil keine ohne gegenwirkende Macht blieb, den Kosmos spiegelte.

      Dasselbe kosmische Allumspannen, wie dem staatlichen Teil des Reiches eigen war, zeichnete den kirchlichen aus. Wie der Staat republikanische, monarchische, aristokratische und demokratische Bildungen in sich duldete, ja aus sich hervorbrachte und ineinandergreifen ließ, so litt die Kirche die verschiedensten Ausprägungen der Beziehung zum Göttlichen. Sie pflegte die Askese und Weltabgeschiedenheit der Mönche neben der Pracht und Weltfreudigkeit der Weltgeistlichen, nebeneinander die ackerbautreibenden und die gelehrten Klöster, die Prediger und die Bettelmönche, sie schützte die freien Vereinigungen von Männern und Frauen, die im Nordwesten des Reiches entstanden, gegen die Angriffe der Fanatiker, sie schonte die Frömmigkeit der Mystiker, die auf dem Wege der Verinnerlichung oder der Ekstase die Vereinigung mit Gott suchten, und schritt erst dann gegen sie ein, wenn sie die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf zu verwischen, Gottverwandtschaft mit Gottgleichheit zu verwechseln schienen. Auch über die große Masse derer, die ganz in der Lust oder den Sorgen der Welt aufgingen, wenig um den Willen Gottes bekümmert, ließ sie die segnende Sonne leuchten, zufrieden, wenn sie die vorgeschriebenen Gebräuche mitmachten und Glieder des geheiligten Körpers blieben, innerhalb dessen sie von dem Strom der göttlichen Gnade, der ihn durchflutete, ergriffen werden konnten. Gehorsam gegen den Organismus, der der Idee nach die gesamte Christenheit umfaßte und in dem allein die Seligkeit erlangt werden konnte, war das einzige, was die Kirche unbedingt von jedem verlangte: es war gleichbedeutend mit dem Gehorsam gegen Gott. Ungehorsam war Ketzerei, die unerbittlich bestraft wurde; denn mit der Ausrottung des Ketzers war eigentlich nur die Verdammnis vollstreckt, der derjenige, welcher aus der Kirche heraustrat, verfiel. Diesen unbedingten Gehorsam nun, der der Kirche geschuldet wurde, nahm mehr und mehr der Papst als Inhaber der kirchlichen Gewalt für sich in Anspruch. Während Kaiser und Reich, anfangs eine Einheit, im Verlauf des Mittelalters immer mehr auseinandertraten und sich sogar gegeneinander wenden konnten, verschlang der Papst die Rechte der Kirche in seine Person. Der Papst war die Kirche, der Kaiser war keineswegs das Reich; insofern entwickelte sich die Stellung des geistlichen Herrn des Erdkreises umgekehrt wie die des weltlichen. Es war, als ob das ewige Rom seinen gegenwärtigen Herren den Imperialismus der Cäsaren mitteilte, deren Nachfolger sie sich mit ganz anderer Berechtigung hätten nennen können als die deutschen Kaiser. Zwar war die Macht des Papstes eine rein geistige; aber gerade deshalb konnte keine Überlegenheit der Waffen sie vernichten. Weil das Abendland an ihn glaubte, konnte er seine Könige gegeneinander ausspielen und konnte er innerhalb der Kirche Kardinäle und Bischöfe, die ursprünglich seinesgleichen waren, seiner Herrschaft unterwerfen.

      Diesem wie ein gigantischer Baum gewachsenen Reichskörper war die Neigung zum Verwildern, die nach einem Worte Goethes der Natur eigen ist, die Neigung zur Ausartung und Entartung angeboren. Nur in einzelnen Höhepunkten seiner Geschichte erfüllte er seine Idee ganz; sehr bald machten sich störende, zerstörende Schäden bemerkbar. Jede menschliche Einrichtung erfordert, um sich blühend und fruchtbar zu erhalten, den immer neuen Einsatz menschlicher Kräfte unter der Führung der Idee, die sie entstehen ließ. Ist es immer selten, daß ein solcher dauernd erfolgt, so standen ihm gewisse Eigenschaften der Deutschen besonders im Wege: Streben nach Unabhängigkeit und maßloses Wuchernlassen aller Triebe auf der einen Seite, auf der anderen Bequemlichkeit, die lieber Lasten trägt, als sich wehrt. Das Verfolgen eigener Interessen auf Kosten der Gesamtheit nicht selten bis zum Verrat, woran fast alle Reichsstände, hauptsächlich die höchsten und mächtigsten, sich gewöhnten, und die Unfähigkeit der kaiserlichen Zentralgewalt, die der stete Kampf mit dem Papst lähmte, sich Gehorsam zu verschaffen, führten dahin, daß die Reichsglieder nur noch mit Mühe und oft gar nicht zu einem produktiven Zusammenwirken zu bringen waren. Anstatt dessen drohte der Krieg aller gegen alle.

      Allen Forderungen des Kaisers mißtrauisch gegenüberstehend, gingen die Fürsten ganz auf in dem Streben, aus den vereinzelten Gebieten und Rechten, die ihnen zustanden, ein zusammenhängendes Territorium zu bilden, dessen unumschränkte Herren sie wären. Dabei standen ihnen im römischen Recht erfahrene Räte zur Seite, die das fein durchdachte, der Zentralisierung günstige fremde Recht auf die fließenden Verhältnisse des Reiches anwendeten, bei dem es mehr als auf Herrschaft auf zu erkämpfende Ausgleichung ankam. Noch waren sie fern davon, eine absolute Herrschaft über ihre Untertanen ausüben zu können: die Geistlichen, Herren, Ritter und Städte, die ihr Gebiet umfaßte, hatten sich im Maße, wie die Lehensbeziehungen an Kraft verloren, zu den sogenannten Landständen vereinigt, ohne deren Zustimmung der Fürst weder Steuern erheben noch Krieg führen konnte. Neben den Landständen stellte sich dem Machtstreben der Fürsten das Gegengewicht der Reichsritter und Reichsstädte entgegen, deren Selbständigkeit durch sie bedroht war. Wie es dem Fürsten untertänige Landstädte gab, so gab es auch landsässige Ritter; die Reichsritter, unmittelbar dem Kaiser unterstellt, eingeteilt in eine fränkische, eine schwäbische und eine rheinische Gruppe, waren stolz darauf, selbständige Reichsstände zu sein wie die Fürsten, und hätten ihre Herrschaft, mochte sie noch so armselig sein, nicht gegen ein reichlicheres Dasein in der Untertänigkeit unter einem Fürsten getauscht. Vereinigt hätten Reichsritter und Reichsstädte vielleicht etwas gegen die Fürsten ausrichten können; allein zwischen ihnen bestand ein ebenso scharfer Gegensatz wie zwischen ihnen beiden und den Fürsten, da die verarmende Ritterschaft die reich gewordenen Bürger haßte und verachtete und sich nicht selten an ihnen schadlos zu halten suchte.

      Das deutsche Recht gab jedem freien Manne die Befugnis, den, von dem er sich verunrechtet glaubte, zu befehden, wenn er bei den zuständigen Gerichten vergeblich Recht gesucht hatte. Als nun die Ritterschaft infolge der veränderten Kriegsweise überflüssig und zum Teil


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