Gesammelte Werke. Ricarda Huch
Читать онлайн книгу.erzeugt, daß nicht vom Beichtvater vorgeschriebene gute Werke Verdienst erwerben und von Sünde reinigen können, war der Grundgedanke der »Brüder vom gemeinsamen Leben« wie auch vieler anderer Theologen, ein Gedanke, der den Ausgangspunkt und Mittelpunkt der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts bilden sollte. »Ohne die Liebe Gottes und des Nächsten«, sagte der 1380 geborene Thomas a Kempis, »nützen keine Werke, wenn sie auch von Menschen gelobt werden, sondern sie sind wie leere Gefäße, die kein Öl haben, und wie Lampen, die in der Finsternis nicht leuchten.« Indem er so dachte und sprach, fiel es Thomas nicht ein, daß er damit die Kirche angreife oder gar außer ihr stehe; er ging, wie seine Gefährten, still seinen Weg an der Kirche vorüber, als wäre sie nicht da, die mit ihrer Macht und Pracht die Welt erfüllte. Dies gelassene Verkünden evangelischer Gedanken, als wären sie selbstverständlich, dies Nichtbeachten der Kirche hat vielleicht ihre Fundamente ebenso erschüttert wie der bewußte Angriff.
Von den Kämpfern war der bedeutendste Johann Ruckrath, nach der Stadt, wo er im Beginn des 15. Jahrhunderts geboren war, Johann von Wesel genannt, Doktor der Theologie, Professor in Erfurt, später Prediger in Mainz und Worms. Er verband scharfe Urteilskraft und unnachsichtige Logik mit streitbarem Temperament. Seine Kritik wendete sich gegen den im Jahre 1450 durch den Papst eingesetzten und in Deutschland durch Nikolaus von Cusa verkündeten Jubelablaß, im allgemeinen gegen die Entartung der Geistlichen und die Äußerlichkeit der kirchlichen Frömmigkeit. Gleich den »Brüdern vom gemeinsamen Leben« fand er im Evangelium nichts von Werkheiligkeit, sondern Christus und die aus ihm entspringende Liebe, die das Gesetz freiwillig erfüllt. »Denn eine andere Erfüllung des Gesetzes gibt es nicht, als daß die Liebe Gottes ausgegossen ist in das Herz der Menschen. Wer diese festhält, der ist mit Gott ein Geist geworden.« Anders aber als etwa Thomas von Kempen war er sich des Gegensatzes gegen die Kirche durchaus bewußt und rücksichtslos im Ausdruck seiner Kritik, wobei er vor dem Papst selbst nicht haltmachte. Man solle sich nicht schrecken lassen, sagte er, durch päpstliche Blitze, Verwünschungen und Verdammungen, die aus den Bullen – sie wären Papier und Blei – nur kalte Strahlen sendeten. Er starb, bald nachdem er zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt war, 1481 im Augustinerkloster zu Mainz.
In der geistigen Luft, die die »Brüder vom gemeinsamen Leben« umgab, war Nikolaus von Cusa erzogen, und von ihnen ist ihm wohl seine Auffassung von dem ewigen Geheimnis Gott und der Beziehung des Menschen zu Gott überkommen. Auch er dachte nicht an eine Trennung von der Kirche, nicht einmal an einen Gegensatz zu ihr. Den Hussiten hielt er vor, daß es diabolische Vermessenheit sei, eine Überzeugung bis zur Zerreißung der kirchlichen Gemeinschaft, bis zum Schisma durchführen zu wollen. Selbst wenn der Gebrauch des Kelches zu Recht bestehe, werde er zum Unrecht, sowie der Frieden und die Einheit der Kirche darunter leide. Auch insofern kann man ihn keinen Vorläufer Luthers nennen, als er von einem Sichberufen auf die Heilige Schrift nichts wissen wollte; die Heilige Schrift, sagte er, habe nur die Autorität, die die Kirche ihr zubillige. Eher könnte man ihn in mancher Beziehung einen Vorläufer moderner Denkungsart nennen. Wenn er die Bekenntnisse der nichtchristlichen Völker unter dem Aspekt vergleichender Wissenschaft betrachtete, wenn er fand, daß die menschliche Erkenntnis sich der Gottheit, dem unergründlichen Geheimnis, auf verschiedenen Stufen annähere, je nachdem sie von ihrem Lichte getroffen wird, und wenn er glaubte, daß, wenn dies einmal von allen eingesehen werde, ein allgemeiner Religionsfriede alle Völker vereinigen werde, so bereitete er eine Auffassung vor, wie sie erst Jahrhunderte später nicht das Gemeingut aller, aber die Errungenschaft einzelner Geister war.
Wie edel und weise nun aber diese Art zu denken sein mag, unendlich verschieden, wie Mondlicht vom Sonnenlicht verschieden ist, war sie von der religiösen Glut, die einst das Christentum im Abendland entzündete. Cusa mochte es an sich selbst erlebt haben, daß, wie er klagte, die Beschäftigung mit den Künsten und Wissenschaften den Geschmack am Worte Gottes und die Einfalt des Glaubens raube. Die Glut, sagt er, sei erkaltet. Der Gott solcher Denker war nicht mehr der mächtigste unter allen Göttern, der seinen Anbetern Sieg verleiht, das Christentum nicht mehr die Formel, die die Tore des Paradieses auch dem Sünder öffnet. Diese verfeinerte Religion war keine Magie mehr, und wurde sie dadurch auch von mancher düsteren Beimischung geläutert, so büßte sie doch an Jenseitszauber ein. Das Jenseits begann mit dem Diesseits zu verschmelzen. Das bedeutete Veredelung und zugleich Verarmung: auf Kosten des Himmels wurde die Erde ein angenehmer Aufenthalt.
Der eherne Marsch von der unendlichen Herrschaft Roms, dessen triumphierenden Klängen sich einst das Abendland gebeugt hatte, verlor seine Gewalt über die Seelen; ein anderer Gesang, stark, leidenschaftlich, süß, wurde in deutschen Landen angestimmt, der die europäische Welt verwandeln sollte, der Gesang von Freiheit und Gläubigkeit. Er brachte zunächst nur Wirrsal und beförderte die Auflösung. Die Reinheit und Kraft der Urkirche, die das Neue Testament so ergreifend darstellt, ließ sich sowenig wiederbringen, wie die kaiserliche Macht des frühen Mittelalters und damit die Einheit des Reiches sich erneuern ließ. Die Schwächung der bisherigen Ideale, des Himmels, wo alle Dunkelheiten in Klarheit sich lösen und alle Tränen versiegen werden, der Kirche, welche die irrenden Menschen zum Himmel leitet, des heiligen Reiches, das die Gerechtigkeit auf Erden zu verwirklichen und Frieden zu schaffen sucht, kam einer irdischen Macht zugute, nämlich dem Staat, den nicht der Kaiser, sondern den die Fürsten ausbildeten. Stimmte doch der junge Piccolomini der Ansicht des französischen Königs zu, das beste würde sein, von einem Konzil ganz abzusehen, anstatt dessen sollten die Fürsten zusammenkommen und alles bereden; die Kirche sei da, wo sich die Fürsten versammelten. Die Fürsten könnten, so meinte auch Piccolomini, selbst wider den Willen des Klerus das Friedenswerk vollziehen, denn der sei der Papst, dem die sämtlichen Fürsten huldigten. »Wir haben alle den Glauben«, sagte er, »den unsere Fürsten haben; würden diese Götzen anbeten, so würden auch wir dieselben anbeten, ja wir würden nicht bloß den Papst, sondern Christus selbst verleugnen, wenn es die weltliche Macht befiehlt.« Der, welcher das geschrieben hatte, wurde später selbst Papst und stattete sich als solcher mit ganz anderen Ansichten aus; aber es war ausgesprochen worden, weil Tatsächliches ihm entsprach. Die Kirche hatte das Reich bekämpft und erniedrigt, und das Reich riß im Sturze die Kirche mit sich in den Abgrund; der absolute Staat wurde der Erbe ihrer Ansprüche.
So war denn das Reich, war Deutschland auseinandergefallen. Das christliche Abendland, in dem Papst und Kaiser die Völker zu einer Einheit zusammengefaßt hatten, wie heftig sie sich auch bekriegen mochten, wurde zu einem Nebeneinander von Nationen, die sich eifersüchtig, mißtrauisch, gerüstet gegenüberstanden, ohne eine von allen anerkannte Macht über sich, die sie friedlich hätte verbinden können.
Zweiter Band:
Das Zeitalter der Glaubensspaltung
Einleitung: Der Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltanschauung
Der Zustand des Reiches im 15. Jahrhundert
Der Streit um das Bistum Brixen
Reuchlin und die Dunkelmännerbriefe