Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer. Arthur Schopenhauer
Читать онлайн книгу.der Aenderung der Form und Qualität; aber zu einem Entstehn oder Verschwinden von Materie gebricht es uns an Formen der Vorstellbarkeit. Daher ist jene Wahrheit zu allen Zeiten, überall und Jedem evident gewesen, noch jemals im Ernst bezweifelt worden; was nicht seyn könnte, wenn ihr Erkenntnißgrund kein anderer wäre, als ein so schwieriger auf Nadelspitzen einherschreitender Kantischer Beweis. Ja überdies habe ich (wie im Anhange ausgeführt) Kants Beweis falsch befunden und oben gezeigt, daß nicht aus dem Antheil, den die Zeit, sondern aus dem, welchen der Raum an der Möglichkeit der Erfahrung hat, das Beharren der Materie abzuleiten ist. Die eigentliche Begründung aller in diesem Sinn metaphysisch genannter Wahrheiten, d.h. abstrakter Ausdrücke der nothwendigen und allgemeinen Formen des Erkennens, kann nicht wieder in abstrakten Sätzen liegen; sondern nur im unmittelbaren, sich durch apodiktische und keine Widerlegung besorgende Aussagen a priori kund gebenden Bewußtsein der Formen des Vorstellens. Will man dennoch einen Beweis derselben geben, so kann dieser nur darin bestehn, daß man nachweist, in irgend einer nicht bezweifelten Wahrheit sei die zu beweisende schon als Theil, oder als Voraussetzung enthalten: so habe ich z. B, gezeigt, daß alle empirische Anschauung schon die Anwendung des Gesetzes der Kausalität enthält, dessen Erkenntniß daher Bedingung aller Erfahrung ist und darum nicht erst durch diese gegeben und bedingt seyn kann, wie Hume behauptete. – Beweise sind überhaupt weniger für die, welche lernen, als für die, welche disputiren wollen. Diese leugnen hartnäckig die unmittelbar begründete Einsicht: nur die Wahrheit kann nach allen Seiten konsequent seyn; man muß daher jenen zeigen, daß sie unter einer Gestalt und mittelbar zugeben, was sie unter einer andern Gestalt und unmittelbar leugnen, also den logisch nothwendigen Zusammenhang zwischen dem Geleugneten und dem Zugestandenen.
Außerdem bringt aber auch die wissenschaftliche Form, nämlich Unterordnung alles Besonderen unter ein Allgemeines und so immerfort aufwärts, es mit sich, daß die Wahrheit vieler Sätze nur logisch begründet wird, nämlich durch die Abhängigkeit von andern Sätzen, also durch Schlüsse, die zugleich als Beweise auftreten. Man soll aber nie vergessen, daß diese ganze Form nur ein Erleichterungsmittel der Erkenntniß ist, nicht aber ein Mittel zu größerer Gewißheit. Es ist leichter, die Beschaffenheit des Thieres aus der Species, zu der es gehört, und so aufwärts aus dem genus, der Familie, der Ordnung, der Klasse zu erkennen, als das jedesmal gegebene Thier für sich zu untersuchen; aber die Wahrheit aller durch Schlüsse abgeleiteter Sätze ist immer nur bedingt und zuletzt abhängig von irgend einer, die nicht auf Schlüssen, sondern auf Anschauung beruht. Läge diese letztere uns immer so nahe, wie die Ableitung durch einen Schluß, so wäre sie durchaus vorzuziehn. Denn alle Ableitung aus Begriffen ist, wegen des oben gezeigten mannigfaltigen Ineinandergreifens der Sphären und der oft schwankenden Bestimmung ihres Inhalts, vielen Täuschungen ausgesetzt; wovon so viele Beweise falscher Lehren und Sophismen jeder Art Beispiele sind. – Schlüsse sind zwar der Form nach völlig gewiß: allein sie sind sehr unsicher durch ihre Materie, die Begriffe; weil theils die Sphären dieser oft nicht scharf genug bestimmt sind, theils sich so mannigfaltig durchschneiden, daß eine Sphäre theilweise in vielen andern enthalten ist, und man also willkürlich aus ihr in die eine oder die andere von diesen übergehn kann und von da wieder weiter, wie bereits dargestellt. Oder mit andern Worten: der terminus minor und auch der medius können immer verschiedenen Begriffen untergeordnet werden, aus denen man beliebig den terminus major und den medius wählt, wonach dann der Schluß verschieden ausfällt. – Ueberall folglich ist unmittelbare Evidenz der bewiesenen Wahrheit weit vorzuziehn, und diese nur da anzunehmen, wo jene zu weit herzuholen wäre, nicht aber, wo sie eben so nahe oder gar näher liegt, als diese. Daher sahen wir oben, daß in der That bei der Logik, wo die unmittelbare Erkenntniß uns in jedem einzelnen Fall näher liegt, als die abgeleitete wissenschaftliche, wir unser Denken immer nur nach der unmittelbaren Erkenntniß der Denkgesetze leiten und die Logik unbenutzt lassen24.
§ 15
Wenn wir nun mit unserer Ueberzeugung, daß die Anschauung die erste Quelle aller Evidenz, und die unmittelbare oder vermittelte Beziehung auf sie allein absolute Wahrheit ist, daß ferner der nächste Weg zu dieser stets der sicherste ist, da jede Vermittelung durch Begriffe vielen Täuschungen aussetzt; – wenn wir, sage ich, mit dieser Ueberzeugung uns zur Mathematik wenden, wie sie vom Eukleides als Wissenschaft aufgestellt und bis auf den heutigen Tag im Ganzen geblieben ist; so können wir nicht umhin, den Weg, den sie geht, seltsam, ja verkehrt zu finden. Wir verlangen die Zurückführung jeder logischen Begründung auf eine anschauliche; sie hingegen ist mit großer Mühe bestrebt, die ihr eigenthümliche, überall nahe, anschauliche Evidenz muthwillig zu verwerfen, um ihr eine logische zu substituiren. Wir müssen finden, daß dies ist, wie wenn Jemand sich die Beine abschnitte, um mit Krücken zu gehn, oder wie wenn der Prinz, im »Triumph der Empfindsamkeit«, aus der wirklichen schönen Natur flieht, um sich an einer Theaterdekoration, die sie nachahmt, zu erfreuen. – Ich muß hier an dasjenige erinnern, was ich im sechsten Kapitel der Abhandlung über den Satz vom Grunde gesagt habe, und setze es als dem Leser in frischem Andenken und ganz gegenwärtig voraus; so daß ich hier meine Bemerkungen daran knüpfe, ohne von Neuem den Unterschied auseinanderzusetzen zwischen dem bloßen Erkenntnißgrund einer mathematischen Wahrheit, der logisch gegeben werden kann, und dem Grunde des Seyns, welcher der unmittelbare, allein anschaulich zu erkennende Zusammenhang der Theile des Raumes und der Zeit ist, die Einsicht in welchen allein wahre Befriedigung und gründliche Kenntniß gewährt, während der bloße Erkenntnißgrund stets auf der Oberfläche bleibt, und zwar ein Wissen, daß es so ist, aber keines, warum es so ist, geben kann. Eukleides gieng diesen letztern Weg, zum offenbaren Nachtheil der Wissenschaft. Denn z.B. gleich Anfangs, wo er ein für alle Mal zeigen sollte, wie im Dreieck Winkel und Seiten sich gegenseitig bestimmen und Grund und Folge von einander sind, gemäß der Form, die der Satz vom Grund im bloßen Raume hat, und die dort, wie überall, die Nothwendigkeit giebt, daß Eines so ist, wie es ist; weil ein von ihm ganz verschiedenes Anderes so ist, wie es ist; statt so in das Wesen des Dreiecks eine gründliche Einsicht zu geben, stellt er einige abgerissene, beliebig gewählte Sätze über das Dreieck auf und giebt einen logischen Erkenntnißgrund derselben, durch einen mühsäligen, logisch, gemäß dem Satz des Widerspruchs geführten Beweis. Statt einer erschöpfenden Erkenntniß dieser räumlichen Verhältnisse, erhält man daher nur einige beliebig mitgetheilte Resultate aus ihnen, und ist in dem Fall, wie Jemand, dem die verschiedenen Wirkungen einer künstlichen Maschine gezeigt, ihr innerer Zusammenhang und Getriebe aber vorenthalten würde. Daß, was Eukleides demonstrirt, alles so sei, muß man, durch den Satz vom Widerspruch gezwungen, zugeben: warum es aber so ist, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung, wie nach einem Taschenspielerstreich, und in der That sind einem solchen die meisten Eukleidischen Beweise auffallend ähnlich. Fast immer kommt die Wahrheit durch die Hinterthür herein, indem sie sich per accidens aus irgend einem Nebenumstand ergiebt. Oft schließt ein apagogischer Beweis alle Thüren, eine nach der andern zu, und läßt nur die eine offen, in die man nun bloß deswegen hinein muß. Oft werden, wie im Pythagorischen Lehrsatze, Linien gezogen, ohne daß man weiß warum: hinterher zeigt sich, daß es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehn und den Assensus des Lernenden gefangen nehmen, der nun verwundert zugeben muß, was ihm seinem innern Zusammenhang nach völlig unbegreiflich bleibt, so sehr, daß er den ganzen Eukleides durchstudiren kann, ohne eigentliche Einsicht in die Gesetze der räumlichen Verhältnisse zu gewinnen, sondern statt ihrer nur einige Resultate aus ihnen auswendig lernt. Diese eigentliche empirische und unwissenschaftliche Erkenntniß gleicht der des Arztes, welcher Krankheit und Mittel dagegen, aber nicht den Zusammenhang Beider kennt. Dieses alles aber ist die Folge, wenn man die einer Erkenntnißart eigenthümliche Weise der Begründung und Evidenz grillenhaft abweist, und statt ihrer eine ihrem Wesen fremde gewaltsam einführt. Indessen verdient übrigens die Art, wie vom Eukleides dieses durchgesetzt ist, alle Bewunderung, die ihm so viele Jahrhunderte hindurch geworden und so weit gegangen ist, daß man seine Behandlungsart der Mathematik für das Muster aller wissenschaftlichen Darstellung erklärte, nach der man sogar alle andern Wissenschaften zu modeln sich bemühte, später jedoch hievon zurückkam,