Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
Читать онлайн книгу.deren Werth ganz nach der Wahrheit abgewogen wird. Denn wenn man in derselben nicht, wie man sagt, die offene Brust sieht und die seinige offen zeigt; so hat man nichts Getreues, nichts Zuverlässiges, nicht einmal das Gefühl der Liede und Gegenliebe, da man nicht weiß, inwieweit dasselbe aufrichtig ist. Indeß kann diese Schmeichelei, so verderblich sie auch ist, doch Niemandem schaden, als dem, der ihr Zutritt zu sich verstattet und an ihr Wohlgefallen findet. So geschieht es, daß der den Schmeichlern seine Ohren am Meisten öffnet, der sich selbst schmeichelt und an sich selbst den größten Wohlgefallen findet 178. 98. Allerdings liebt die Tugend sich selbst; denn sie kennt sich selbst am Besten und weiß, wie liebenswürdig sie ist. Ich rede aber jetzt nicht von der wirklichen Tugend, sondern von der Scheintugend. Denn wirklich tugendhaft wollen nicht so Viele sein als scheinen. Diese erfreut die Schmeichelei. Wenn man sich ihnen mit einem nach ihrem Wunsche ausgesonnenen Gespräche naht, so glauben sie, jene eitle Rede sei ein Zeugniß ihrer vortrefflichen Eigenschaften. Das ist also keine Freundschaft, wenn der Eine die Wahrheit nicht hören will, der Andere zum Lügen bereit ist. Auch die Schmeichelei der Schmarotzer in Lustspielen würde uns nicht witzig erscheinen, wenn es keine großprahlerischen Soldaten gäbe 179.
Die Thais sagt mir also wirklich großen Dank? 180
Es wäre genug gewesen zu antworten: »großen«. »Ungeheuren«, erwiderte er. Immer vergrößert der Schmeichler das, was der, nach dessen Wunsche geredet wird, groß wissen will.
99. Wiewol also diese schmeichelnde Liebedienerei nur bei denen Geltung hat, die selbst dazu anlocken und auffordern; so bedürfen doch auch ernstere und gesetztere Männer der Erinnerung darauf zu achten, daß sie sich nicht durch schlaue Schmeichelei berücken lassen. Denn den unverhohlenen Schmeichler erkennt Jedermann, wenn er nicht ganz dumm ist. Daß sich aber der schlaue und versteckte Schmeichler nicht bei uns einschleiche, davor müssen wir uns sorgfältig hüten. Denn man erkennt ihn nicht so leicht, da er ja oft auch durch Widerspruch schmeichelt und scheinbar hadernd schön thut und zuletzt die Hände reicht 181 und sich für besiegt erklärt, damit der Getäuschte mehr Einsicht zu besitzen meine. Was ist aber schimpflicher als sich täuschen zu lassen? Daß dieß aber nicht geschehe, davor muß man sich um so mehr in Acht nehmen 182:
Vor allen Narren der Komödie
Willst du mich foppen heut und hudeln wunderschön.
100. Denn auch auf der Bühne spielen die unvorsichtigen und leichtgläubigen Greise die albernste Rolle.
Doch mein Vortrag ist, ich weiß nicht wie, von der Freundschaft vollkommener, das heißt weiser Männer – ich rede hier von der Weisheit, welche, wie es scheint, der Mensch zu erreichen im Stande ist 183, – zu den gehaltlosen Freundschaften gerathen. Darum wollen wir zu dem Früheren zurückkehren und ebendamit endlich einmal zum Schlusse kommen.
XXVII. Die Tugend, sag' ich, mein Gajus Fannius und mein Quintus Mucius, schließt die Freundschaften und erhält sie. Denn auf ihr beruht die Uebereinstimmung in allen Dingen 184, auf ihr die Beharrlichkeit, auf ihr die Charakterfestigkeit. Wenn sie nun zum Vorschein kommt und ihr Licht zeigt und an einem Anderen ein gleiches Licht erblickt und erkennt, so nähert sie sich diesem und nimmt dagegen das Licht, das in dem Anderen ist, in sich auf. Und hieraus entzündet sich die Flamme der Liebe oder Freundesliebe; denn Beides ist vom Lieben benannt 185. Lieben aber ist nichts Anderes als den Gegenstand der Liebe aus Achtung werthschätzen 186, ohne Rücksicht auf eigenes Bedürfniß, ohne Absicht aus eigenen Vortheil, der jedoch von selbst aus der Freundschaft erblüht, auch wenn man nicht darnach trachtet.
101. Ein solches Wohlwollen war es, mit welchem ich in meiner Jugend jene Greise, den Lucius Paullus 187, Marcus Cato 188, Gajus Gallus 189, Publius Nasica 190, Tiberius Gracchus 191, den Schwiegervater unseres Scipio, liebte. Noch schöner leuchtet es zwischen Altersgenossen hervor, wie zwischen mir und Scipio, Lucius Furius 192, Publius Rupilius 193, Spurius Mummius 194. Dagegen finden wir Greise eine erquickende Befriedigung in der Liebe junger Männer, wie in der eurigen, in der des Quintus Tubero 195. Ja auch der vertraute Umgang mit dem noch sehr jungen Publius Rutilius 196 und Aulus Verginius 197 macht mir Freude.
Weil nun überhaupt unser Leben und unsere Natur so eingerichtet ist, daß ein Menschenalter aus dem anderen erwächst; so wäre es freilich sehr wünschenswerth, wenn man mit denselben Altersgenossen, mit denen man gleichsam aus den Schranken 198 entlassen wurde, auch, wie man sagt, zum Ziel der Rennbahn gelangen könnte. 102. Allein weil alles Irdische gebrechlich und hinfällig ist, so muß man sich immer nach Menschen umsehen, die man lieben und von denen man geliebt werden kann. Denn nimmt man die Liebe und das Wohlwollen hinweg, so nimmt man allen Reiz aus dem Leben. Für mich lebt Scipio, obwol er mir plötzlich entrissen ward, dennoch und wird immer leben; denn ich liebte die Tugend dieses Mannes, und diese ist nicht erloschen. Doch nicht mir allein, der ich sie immer vor mir sah, schwebt sie vor Augen; auch für die Nachkommen wird sie in ausgezeichnetem Glanze strahlen. Nie wird Jemand den Entschluß zur Ausführung großer Thaten noch die Hoffnung darauf in seinem Geiste fassen, der sich nicht sein Andenken und Vorbild vergegenwärtigen zu müssen glauben sollte.
103. Ich wenigstens habe unter allen Gütern, die mir das Glück oder die Natur zutheilte, Nichts, was ich mit der Freundschaft des Scipio vergleichen könnte. In ihr fand ich Uebereinstimmung in Staatsgeschäften, in ihr Rath für häusliche Angelegenheiten, in ihr auch genußreiche Erholung. Nie habe ich ihn, auch nicht im Geringsten, beleidigt, so viel ich wenigstens weiß; Nichts habe ich von ihm gehört, das ich nicht gewünscht hätte. Ein Haus, derselbe Tisch auf gemeinsame Kosten, und nicht allein der Kriegsdienst, sondern auch die Reisen und der Aufenthalt auf dem Lande 199 , – Alles war uns gemeinschaftlich. 104. Und was soll ich ferner von unseren wissenschaftlichen und gelehrten Bestrebungen sagen, in denen wir, fern von den Augen des Volkes, jede von Amtsgeschäften freie Zeit zubrachten?
Wäre nun die Erinnerung und Vergegenwärtigung dieser Dinge zugleich mit ihm untergegangen, so würde ich die Sehnsucht nach einem so eng verbundenen und liebevollen Manne auf keine Weise ertragen können. Aber nicht erloschen sind sie, sondern werden vielmehr genährt und erhöht durch den Gedanken und die Erinnerung an ihn, und wäre ich auch dieser ganz beraubt, so würde mir doch schon mein Alter großen Trost gewähren; denn sehr lange kann ich in diesem Zustande des Sehnens nicht bleiben. Alles aber, was von kurzer Dauer ist, muß erträglich sein, wenn es auch bedeutend ist.
Dieses