Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.sie befindet sich also in völliger Übereinstimmung mit der Marxschen Voraussetzung: allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise. Die eine Fiktion deckt sich theoretisch mit der anderen. Ebenso zulässig ist die Annahme der absoluten Herrschaft des Kapitalismus bei der Analyse der Akkumulation des Einzelkapitals, wie sie im ersten Bande des "Kapitals" gegeben ist. Die Reproduktion des Einzelkapitals ist das Element der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion. Aber ein Element, dessen Bewegung selbständig verläuft, im Widerspruch mit den Bewegungen der übrigen, und wobei die Gesamtbewegung des gesellschaftlichen Kapitals nicht etwa eine mechanische Summe der Einzelbewegungen der Kapitale, sondern ein eigenartig verschobenes Resultat ergibt. Stimmt auch die Wertsumme der Einzelkapitale sowie ihrer respektiven Teile: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert, mit der Wertgröße des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, seiner beiden Bestandteile und des Gesamtmehrwerts aufs genaueste überein, so fällt doch die sachliche Darstellung dieser Wertgröße in den respektiven Teilen des gesellschaftlichen Produkts mit der Sachverkörperung der Wertverhältnisse der Einzelkapitale völlig auseinander. Die Reproduktionsverhältnisse der Einzelkapitale decken sich somit in ihrer sachlichen Gestalt weder miteinander noch mit denen des Gesamtkapitals. Jedes Einzelkapital macht seine Zirkulation, also auch Akkumulation völlig auf eigene Faust durch und ist darin - bei normalem Verlauf des Zirkulationsprozesses - nur soweit von anderen abhängig, als es sein Produkt überhaupt realisieren und die für seine individuelle Betätigung erforderlichen Produktionsmittel vorfinden muß. Ob jene Realisierung und diese Produktionsmittel selbst an kapitalistisch produzierende Kreise gebunden sind oder nicht, ist für das Einzelkapital völlig gleichgültig. Umgekehrt ist die günstigste theoretische Voraussetzung für die Analyse der Akkumulation des Einzelkapitals die Annahme, daß die kapitalistische Produktion das einzige Milieu dieses Prozesses darstellt, d.h. allgemeine und ausschließliche Herrschaft erreicht hat.192
Nun entsteht aber die Frage, ob wir die Voraussetzungen, die für das Einzelkapital maßgebend sind, auch bei dem Gesamtkapital als zulässig betrachten dürfen.
Daß Marx tatsächlich die Akkumulationsbedingungen des Gesamtkapitals mit denen des Einzelkapitals identifizierte, bestätigt er selbst ausdrücklich an folgender Stelle:
"Die Frage ist jetzt so zu formulieren: Allgemeine Akkumulation vorausgesetzt, d.h. vorausgesetzt, daß in allen trades das Kapital mehr oder minder akkumuliert, was in fact Bedingung der kapitalistischen Produktion und was ebensosehr der Trieb des Kapitalisten als Kapitalisten, wie es der Trieb des Schatzbildners, Geld aufzuhäufen (aber auch notwendig ist, damit die kapitalistische Produktion vorangehe) - was sind die Bedingungen dieser allgemeinen Akkumulation, worin löst sie sich auf?"
Und er antwortet: "Die Bedingungen für die Akkumulation des Kapitals also ganz dieselben, wie für seine ursprüngliche Produktion oder Reproduktion überhaupt.
Diese Bedingungen aber waren, daß mit einem Teil des Geldes Arbeit gekauft wurde, mit dem andern Waren (Rohmaterial und Maschinerie etc.)." "Die Akkumulation von neuem Kapital kann also nur unter denselben Bedingungen vor sich gehn wie die Reproduktion des schon vorhandnen Kapitals."193
In Wirklichkeit sind die realen Bedingungen bei der Akkumulation des Gesamtkapitals ganz andere als bei dem Einzelkapital und als bei der einfachen Reproduktion. Das Problem beruht auf folgendem: Wie gestaltet sich die gesellschaftliche Reproduktion unter der Bedingung, daß ein wachsender Teil des Mehrwerts nicht von den Kapitalisten konsumiert, sondern zur Erweiterung der Produktion verwendet wird? Das Draufgehen des gesellschaftlichen Produkts, abgesehen von dem Ersatz des konstanten Kapitals, in der Konsumtion der Arbeiter und Kapitalisten ist hier von vornherein ausgeschlossen, und dieser Umstand ist das wesentlichste Moment des Problems. Damit ist aber auch ausgeschlossen, daß die Arbeiter und die Kapitalisten selbst das Gesamtprodukt realisieren können. Sie können stets nur das variable Kapital, den verbrauchten Teil des konstanten Kapitals und den konsumierten Teil des Mehrwerts selbst realisieren, auf diese Weise aber nur die Bedingungen für die Erneuerung der Produktion in früherem Umfang sichern. Der zu kapitalisierende Teil des Mehrwerts hingegen kann unmöglich von den Arbeitern und Kapitalisten selbst realisiert werden. Die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe. Merkwürdigerweise gingen sämtliche Theoretiker, die das Problem der Akkumulation analysierten, von Ricardo und Sismondi bis Marx, gerade von dieser Voraussetzung aus, die die Lösung des Problems unmöglich machte. Das richtige Gefühl für die Notwendigkeit "dritter Personen", d.h. Konsumenten außerhalb der unmittelbaren Agenten der kapitalistischen Produktion: der Arbeiter und Kapitalisten, zur Realisierung des Mehrwerts, führte zu allerlei Ausflüchten: zu der "unproduktiven Konsumtion", die bei Malthus in der Person des feudalen Grundbesitzers, bei Woronzow in dem Militarismus, bei Struve in den "liberalen Berufen" und sonstigem Anhang der Kapitalistenklasse verkörpert ist, ferner zur Heranziehung des auswärtigen Handels, der bei allen Skeptikern der Akkumulation von Sismondi bis Nikolai-on als Sicherheitsventil eine hervorragende Rolle spielte. Zum andern Teil führte die Unlösbarkeit der Aufgabe zum Verzicht auf die Akkumulation, wie bei v. Kirchmann und Rodbertus, oder wenigstens zur angeblichen Notwendigkeit, die Akkumulation möglichst zu dämpfen, wie bei Sismondi und dessen russischen Epigonen, den "Volkstümlern".
Doch erst die tiefere Analyse und die exakte schematische Darstellung des Prozesses der Gesamtproduktion durch Marx, namentlich seine geniale Darstellung des Problems der einfachen Reproduktion, konnte den springenden Punkt des Akkumulationsproblems und die wunde Stelle der früheren Versuche seiner Lösung bloßlegen. Die Analyse der Akkumulation des Gesamtkapitals, die bei Marx abbricht, kaum daß sie begonnen hat, und die obendrein, wie erwähnt, durch die dem Problem ungünstige Polemik gegen die Smithsche Analyse beherrscht ist, hat direkt keine fertige Lösung gegeben, sie vielmehr gleichfalls durch die Voraussetzung von der Alleinherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise erschwert. Aber gerade die ganze Analyse der einfachen Reproduktion bei Marx sowie die Charakteristik des kapitalistischen Gesamtprozesses mit dessen inneren Widersprüchen und ihrer Entfaltung (im dritten Bande des "Kapitals") enthalten implicite eine Auflösung des Akkumulationsproblems, die sich mit den übrigen Teilen der Marxschen Lehre wie mit der historischen Erfahrung und der täglichen Praxis des Kapitalismus in Einklang befindet, und geben somit die Möglichkeit, das Unzureichende des Schemas zu ergänzen. Das Schema der erweiterten Reproduktion weist bei näherem Zusehen selbst in allen seinen Beziehungen über sich hinaus auf Verhältnisse, die außerhalb der kapitalistischen Produktion und Akkumulation liegen.
Wir haben bis jetzt die erweiterte Reproduktion nur von einer Seite betrachtet, nämlich von der Frage aus: Wie wird der Mehrwert realisiert? Dies war die Schwierigkeit, mit der sich die Skeptiker bis jetzt ausschließlich beschäftigten. Die Realisierung des Mehrwerts ist in der Tat die Lebensfrage der kapitalistischen Akkumulation. Sehen wir der Einfachheit halber ganz von dem Konsumtionsfonds der Kapitalisten ab, so erfordert die Realisierung des Mehrwerts als erste Bedingung einen Kreis von Abnehmern außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Wir sagen: von Abnehmern und nicht: von Konsumenten. Denn die Realisierung des Mehrwerts besagt von vornherein gar nichts über die Sachgestalt des Mehrwerts. Das Entscheidende ist, daß der Mehrwert weder durch Arbeiter noch durch Kapitalisten realisiert werden kann, sondern durch Gesellschaftsschichten oder Gesellschaften, die selbst nicht kapitalistisch produzieren. Es sind dabei zwei verschiedene Fälle denkbar. Die kapitalistische Produktion liefert Konsumtionsmittel über den eigenen (der Arbeiter und Kapitalisten) Bedarf hinaus, deren Abnehmer nichtkapitalistische Schichten und Länder sind. Z.B. die englische Baumwollindustrie lieferte während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts (und liefert zum Teil jetzt) Baumwollstoffe an das Bauerntum und städtische Kleinbürgertum auf dem europäischen Kontinent, ferner an das Bauerntum in Indien, Amerika, Afrika usw. Hier war es die Konsumtion nichtkapitalistischer Schichten und Länder, die für die enorme Erweiterung der Baumwollindustrie in England die Basis bildete.194 Für diese Baumwollindustrie aber entwickelte sich in England selbst eine ausgedehnte Maschinenindustrie, die Spindeln und Webstühle lieferte, ferner im Anschluß daran die Metall und Kohlenindustrie usw. In diesem Fall realisierte die Abteilung