Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.Produktivkraft der Gesellschaft, die andren durch die Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Diese letztre ist aber bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. Dies ist Gesetz für die kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als Erhaltungsmittel und bei Strafe des Untergangs. Der Markt muß daher beständig ausgedehnt werden, so daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden. Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion. Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse beruhen. Es ist auf dieser widerspruchsvollen Basis durchaus kein Widerspruch, daß Übermaß von Kapital verbunden ist mit wachsendem Übermaß von Bevölkerung; denn obgleich, beide zusammengebracht, die Masse des produzierten Mehrwerts sich steigern würde, steigert sich eben damit der Widerspruch zwischen den Bedingungen, worin dieser Mehrwert produziert, und den Bedingungen, worin er realisiert wird."189
Vergleicht man diese Schilderung mit dem Schema der erweiterten Reproduktion, so stimmen sie durchaus nicht überein. Nach dem Schema besteht zwischen der Produktion des Mehrwerts und seiner Realisierung gar kein immanenter Widerspruch, vielmehr immanente Identität. Der Mehrwert kommt hier von vornherein in einer ausschließlich für die Bedürfnisse der Akkumulation berechneten Naturalgestalt zur Welt. Er kommt als zuschüssiges Kapital schon aus der Produktionsstätte heraus. Damit ist seine Realisierbarkeit gegeben, nämlich in dem Akkumulationstrieb der Kapitalisten selbst. Diese lassen, als Klasse, den von ihnen angeeigneten Mehrwert im voraus ausschließlich in der Sachgestalt produzieren, die seine Verwendung zur weiteren Akkumulation sowohl ermöglicht als bedingt. Die Realisierung des Mehrwerts und seine Akkumulation sind hier nur zwei Seiten eines und desselben Vorgangs, sind begrifflich identisch. Für den Prozeß der Reproduktion, wie er im Schema dargestellt ist, ist die Konsumtionskraft der Gesellschaft deshalb auch keine Schranke der Produktion. Hier schreitet die Erweiterung der Produktion von Jahr zu Jahr automatisch fort, ohne daß die Konsumtionskraft der Gesellschaft über ihre "antagonistischen Distributionsverhältnisse" hinausgegangen wäre. Dieses automatische Fortschreiten der Erweiterung, der Akkumulation, ist freilich "Gesetz für die kapitalistische Produktion - bei Strafe des Untergangs". Aber nach der Analyse im dritten Bande "muß der Markt daher beständig ausgedehnt werden", "der Markt" offenbar über die Konsumtion der Kapitalisten und der Arbeiter hinaus. Und wenn Tugan-Baranowski den unmittelbar darauffolgenden Satz bei Marx: "Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion" so interpretiert, als ob Marx mit dem "äußern Feld der Produktion" eben die Produktion selbst gemeint habe, so tut er damit nicht bloß dem Sinn der Sprache, sondern auch dem klaren Gedankengang Marxens Gewalt an. Das "äußere Feld der Produktion" ist hier klar und unzweideutig nicht die Produktion selbst, sondern die Konsumtion, die "beständig ausgedehnt werden muß". Daß Marx so und nicht anders dachte, dafür zeugt genügend z.B. die folgende Stelle in den "Theorien über den Mehrwert": "Ric{ardo} leugnet daher konsequent die Notwendigkeit einer Erweiterung des Markts mit Erweiterung der Produktion und Wachstum des Kapitals. Alles Kapital, das in einem Lande vorhanden ist, kann auch vorteilhaft in diesem Lande verwandt werden. Er polemisiert daher gegen A. Smith, der einerseits seine (Ric{ardos}) Ansicht aufgestellt und mit seinem gewöhnlichen vernünftigen Instinkt ihr auch widersprechen hat."190
Und noch eine andere Stelle bei Marx zeigt deutlich, daß ihm der Tugan-Baranowskische Einfall einer Produktion um der Produktion willen völlig fremd war: "Außerdem findet, wie wir gesehn haben (Buch II, Abschn. III), eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital (auch abgesehn von der beschleunigten Akkumulation), die insofern zunächst unabhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie definitiv begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst willen stattfindet, sondern nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehn."191
Nach dem Schema im zweiten Bande, an das sich Tugan-Baranowski allein klammert, ist freilich der Markt mit der Produktion identisch. Den Markt erweitern heißt hier die Produktion erweitern, denn die Produktion ist sich hier selbst ausschließlicher Markt (die Konsumtion der Arbeiter ist nur ein Moment der Produktion, nämlich Reproduktion des variablen Kapitals). Daher hat Ausdehnung der Produktion und des Marktes eine und dieselbe Schranke: die Größe des gesellschaftlichen Kapitals oder die Stufe der bereits erreichten Akkumulation. Je mehr Mehrwert - in Naturalform des Kapitals - ausgepreßt worden ist, desto mehr kann akkumuliert werden, und je mehr akkumuliert wird, um so mehr kann Mehrwert in Kapitalgestalt, die seine Naturalgestalt ist, untergebracht, realisiert werden. Nach dem Schema existiert also der in der Analyse des dritten Bandes gekennzeichnete Widerspruch nicht. Es liegt hier - im Prozeß, wie er im Schema dargestellt ist - gar keine Notwendigkeit vor, den Markt über die Konsumtion der Kapitalisten und Arbeiter hinaus beständig auszudehnen, und die beschränkte Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ist gar kein Hindernis für einen glatten Fortgang und die unumschränkte Ausdehnungsfähigkeit der Produktion. Das Schema läßt wohl Krisen zu, aber ausschließlich aus Mangel an Proportionalität der Produktion, d.h. aus Mangel an gesellschaftlicher Kontrolle über den Produktionsprozeß. Es schließt dagegen den tiefen fundamentalen Widerstreit zwischen Produktionsfähigkeit und Konsumtionsfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft aus, der sich gerade aus der Kapitalakkumulation ergibt, der sich periodisch in Krisen Luft macht und der das Kapital zur beständigen Markterweiterung antreibt.
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Die Reproduktion des Kapitals und ihr Milieu
Das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion vermag uns also den Prozeß der Akkumulation, wie er in der Wirklichkeit vorgeht und sich geschichtlich durchsetzt, nicht zu erklären. Woran liegt das? An nichts anderem als an den Voraussetzungen des Schemas selbst. Dieses Schema unternimmt es, den Akkumulationsprozeß unter der Voraussetzung darzustellen, daß Kapitalisten und Arbeiter die einzigen Vertreter der gesellschaftlichen Konsumtion sind. Wir haben gesehen, daß Marx konsequent und bewußt als die theoretische Voraussetzung seiner Analyse in allen drei Bänden des "Kapitals" die allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise annimmt. Unter diesen Bedingungen gibt es freilich, wie im Schema, keine anderen Gesellschaftsklassen als Kapitalisten und Arbeiter - alle "dritten Personen" der kapitalistischen Gesellschaft: Beamte, liberale Berufe, Geistliche usw., sind als Konsumenten jenen beiden Klassen und vorzugsweise der Kapitalistenklasse zuzuzählen. Diese Voraussetzung ist theoretischer Notbehelf - in Wirklichkeit gab und gibt es nirgends eine sich selbst genügende kapitalistische Gesellschaft mit ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktion. Sie ist aber ein vollkommen zulässiger theoretischer Notbehelf dort, wo sie die Bedingungen des Problems selbst nicht alteriert, sondern sie bloß in ihrer Reinheit darstellen hilft. So bei der Analyse der einfachen Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Hier beruht das Problem selbst auf folgender Fiktion: In einer kapitalistisch produzierenden, also Mehrwert erzeugenden Gesellschaft wird der ganze Mehrwert von seinen Aneignern, der Kapitalistenklasse, konsumiert. Es ist darzustellen, wie sich unter diesen Bedingungen die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion gestalten muß. Hier setzt die Stellung