Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.wobei sie ihrerseits durch die eigene Akkumulation eine steigende Nachfrage nach den einheimischen Produkten der Abteilung I (Produktionsmittel) schuf und dadurch dieser Abteilung zur Realisierung des Mehrwerts und zur steigenden Akkumulation verhalf.
Nehmen wir den umgekehrten Fall. Die kapitalistische Produktion liefert Produktionsmittel über den eigenen Bedarf hinaus und findet Abnehmer in nichtkapitalistischen Ländern. Z.B. die englische Industrie lieferte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Konstruktionsmaterial zum Eisenbahnbau in den amerikanischen und australischen Staaten. Der Eisenbahnbau bedeutet an sich noch lange nicht die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in einem Lande. Tatsächlich waren die Eisenbahnen selbst in diesen Fällen nur eine der ersten Voraussetzungen für den Einzug der kapitalistischen Produktion. Oder die deutsche chemische Industrie liefert Produktionsmittel, wie Farbstoffe, die massenhaft Absatz finden in nicht kapitalistisch produzierenden Ländern in Asien, Afrika usw.195 Hier realisiert die Abteilung I der kapitalistischen Produktion ihre Produkte in außerkapitalistischen Kreisen. Die daraus entstehende fortschreitende Erweiterung der Abteilung I ruft im Lande der kapitalistischen Produktion eine entsprechende Erweiterung der Abteilung II hervor, die für die wachsende Armee der Arbeiter der Abteilung I Konsumtionsmittel liefert.
Jeder dieser Fälle unterscheidet sich von dem Marxschen Schema. In dem einen Fall übersteigt das Produkt der Abteilung II die Bedürfnisse der beiden Abteilungen, gemessen an variablem Kapital und dem konsumierten Teil des Mehrwerts beider; im zweiten Fall übersteigt das Produkt der Abteilung I die Größe des konstanten Kapitals beider Abteilungen, auch unter Berücksichtigung seiner Vergrößerung zu Zwecken der Erweiterung der Produktion. In beiden Fällen kommt der Mehrwert nicht in der Naturalgestalt zur Welt, die seine Kapitalisierung innerhalb einer der beiden Abteilungen ermöglichen und bedingen würde. - In Wirklichkeit kreuzen sich die beiden typischen Fälle auf jedem Schritte, ergänzen einander und schlagen ineinander um.
Ein Punkt scheint dabei unklar. Wenn z.B. ein Überschuß an Konsummitteln, sagen wir Baumwollstoffen, in nichtkapitalistischen Kreisen abgesetzt wird, so ist es klar, daß diese Baumwollstoffe als kapitalistische Ware nicht bloß Mehrwert, sondern konstantes und variables Kapital repräsentieren. Es scheint ganz willkürlich anzunehmen, gerade diese außerhalb der kapitalistischen Gesellschaftskreise abgesetzten Waren repräsentieren nichts als Mehrwert. Andererseits stellt sich heraus, daß in diesem Falle auch die andere Abteilung (I) nicht bloß ihren Mehrwert realisiert, sondern auch akkumulieren kann, ohne jedoch ihr Produkt außerhalb der beiden Abteilungen der kapitalistischen Produktion abzusetzen. Beide Einwände sind indes nur scheinbar, sie erledigen sich durch die proportionelle Wertdarstellung der Produktmasse in ihren entsprechenden Teilen. Unter der kapitalistischen Produktion enthält nicht bloß das Gesamtprodukt, sondern auch jede einzelne Ware Mehrwert. Das hindert aber nicht, daß, wie der Einzelkapitalist beim sukzessiven Verkauf seiner speziellen Warenmasse, erst den Ersatz seines ausgelegten konstanten Kapitals, dann des variablen Kapitals (oder unrichtiger, aber der Praxis entsprechend: erst seines fixen, dann seines zirkulierenden Kapitals) berechnet, um den Resterlös als seinen Profit zu buchen, auch das gesellschaftliche Gesamtprodukt in drei proportionelle Teile abgesondert werden kann, die ihrem Werte nach dem in der Gesellschaft verbrauchten konstanten Kapital, dem variablen Kapital und dem ausgepreßten Mehrwert entsprechen. Bei der einfachen Reproduktion entspricht diesen Wertproportionen auch die sachliche Gestalt des Gesamtprodukts: Das konstante Kapital erscheint in Gestalt von Produktionsmitteln wieder, das variable in Gestalt von Lebensmitteln für Arbeiter, der Mehrwert in Gestalt von Lebensmitteln für Kapitalisten. Indes ist die einfache Reproduktion in diesem kategorischen Sinne - Verzehr des ganzen Mehrwerts durch die Kapitalisten -, wie wir wissen, theoretische Fiktion. Was die erweiterte Reproduktion oder Akkumulation betrifft, so besteht nach dem Marxschen Schema auch hier eine strenge Proportionalität zwischen der Wertzusammensetzung des gesellschaftlichen Produkts und seiner sachlichen Gestalt: Der Mehrwert kommt in seinem zur Kapitalisierung bestimmten Teil von vornherein in der proportionellen Einteilung von sachlichen Produktionsmitteln und Lebensmitteln für Arbeiter zur Welt, die der Erweiterung der Produktion auf gegebener technischer Basis entsprechen. Diese Auffassung, die auf der Selbstgenügsamkeit und Isoliertheit der kapitalistischen Produktion fußt, scheitert jedoch, wie wir gesehen, schon an der Realisierung des Mehrwerts. Nehmen wir aber an, der Mehrwert werde außerhalb der kapitalistischen Produktion realisiert, so ist damit gegeben, daß seine sachliche Gestalt mit den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktion selbst nichts zu tun hat. Seine sachliche Gestalt entspricht den Bedürfnissen jener nichtkapitalistischen Kreise, die ihn realisieren helfen. Der kapitalistische Mehrwert kann deshalb - je nachdem in Form von Konsumtionsmitteln, so z.B. als Baumwollstoffe, oder in Form von Produktionsmitteln, so z.B. als Eisenbahnmaterial, zur Welt kommen. Daß dabei dieser in Gestalt von Produkten der einen Abteilung realisierte Mehrwert bei der darauffolgenden Produktionserweiterung auch den Mehrwert der anderen Abteilung realisieren hilft, ändert nichts an der Tatsache, daß der gesellschaftliche Mehrwert als Ganzes zum Teil direkt, zum Teil indirekt außerhalb der beiden Abteilungen realisiert worden ist. Diese Tatsache fällt unter denselben Gesichtspunkt unter dem der Einzelkapitalist seinen Mehrwert realisieren kann, auch wenn seine ganze Ware nur erst das variable oder das konstante Kapital eines anderen Kapitalisten ersetzt.
Die Realisierung des Mehrwerts ist indes nicht das einzige Moment der Reproduktion, auf das es ankommt. Nehmen wir an, die Abteilung I habe den Mehrwert auswärts (außerhalb der beiden Abteilungen) abgesetzt und könnte die Akkumulation ins Werk setzen. Nehmen wir ferner an, sie habe Aussicht auf neue Vergrößerung des Absatzes in jenen Kreisen. Damit ist jedoch erst die Hälfte der Bedingungen zur Akkumulation gegeben. Zwischen Lipp' und Kelchesrand kann noch manches passieren. Jetzt stellt sich nämlich als zweite Voraussetzung der Akkumulation die Notwendigkeit ein, entsprechende sachliche Elemente der Produktionserweiterung vorzufinden. Wo nehmen wir die her, da wir soeben das Mehrprodukt gerade in Gestalt der Produkte I, d.h. als Produktionsmittel, in Geld verwandelt, und zwar außerhalb der kapitalistischen Produktion abgesetzt haben? Die Transaktion, die uns zur Realisierung des Mehrwerts verholfen, hat uns gleichsam durch die andere Tür die Voraussetzungen zur Verwandlung dieses realisierten Mehrwerts in die Gestalt des produktiven Kapitals entführt. Und so scheint es, daß wir vom Regen in die Traufe gekommen sind. Sehen wir näher zu.
Wir operieren hier mit dem c sowohl in der Abteilung I wie in der Abteilung II, wie wenn es der gesamte konstante Kapitalteil der Produktion wäre. Dies ist aber, wie wir wissen, falsch. Nur der Einfachheit des Schemas halber ist hier davon abgesehen worden, daß das c, welches in der I. und II. Abteilung des Schemas figuriert, bloß ein Teil des gesamten konstanten Kapitals ist, nämlich der jährlich zirkulierende, in der Produktionsperiode aufgezehrte, auf die Produkte übertragene Teil. Es wäre aber total absurd, anzunehmen, die kapitalistische Produktion (und auch jede beliebige) würde in jeder Produktionsperiode ihr gesamtes konstantes Kapital aufbrauchen und es in jeder Periode von neuem schaffen. Im Gegenteil, im Hintergrund der Produktion, wie sie im Schema dargestellt, ist die ganze große Masse von Produktionsmitteln vorausgesetzt, deren periodische Gesamterneuerung im Schema durch die jährliche Erneuerung des aufgebrauchten Teils angedeutet ist. Mit der Steigerung der Produktivität der Arbeit und der Erweiterung des Produktionsumfangs wächst diese Masse nicht nur absolut, sondern auch relativ zu dem Teil, der jeweilig in der Produktion konsumiert wird. Damit wächst aber auch die potentielle Wirksamkeit des konstanten Kapitals. Für die Erweiterung der Produktion kommt zunächst die stärkere Anspannung dieses Teils des konstanten Kapitals ohne dessen direkte Wertvergrößerung in Betracht.
"In der extraktiven Industrie, den Bergwerken z.B., bilden die Rohstoffe keinen Bestandteil des Kapitalvorschusses. Der Arbeitsgegenstand ist hier nicht Produkt vorhergegangner Arbeit, sondern von der Natur gratis geschenkt. So Metallerz, Minerale, Steinkohlen, Steine etc. Hier besteht das konstante Kapital fast ausschließlich in Arbeitsmitteln, die ein vermehrtes Arbeitsquantum sehr gut vertragen können (Tag- und Nachtschicht von Arbeitern z.B.). Alle andern Umstände gleichgesetzt, wird aber Masse und Wert des Produkts steigen in direktem Verhältnis der angewandten Arbeit. Wie am ersten Tag der Produktion, gehn hier die ursprünglichen Produktionsbildner, daher auch die Bildner der stofflichen Elemente des Kapitals, Mensch und Natur, zusammen. Dank der Elastizität der Arbeitskraft hat sich das Gebiet der Akkumulation erweitert ohne vorherige Vergrößerung