Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.somit den Bedürfnissen des Kapitals in jeder Hinsicht starre Schranken entgegen. Der Kapitalismus führt deshalb vor allem stets und überall einen Vernichtungskampf gegen die Naturalwirtschaft in jeglicher historischer Form, auf die er stößt, gegen die Sklavenwirtschaft, gegen den Feudalismus, gegen den primitiven Kommunismus, gegen die patriarchalische Bauernwirtschaft. In diesem Kampfe bilden politische Gewalt (Revolution, Krieg), staatlicher Steuerdruck und Billigkeit der Waren die Hauptmethoden, die teils nebeneinander laufen, teils einander folgen und sich gegenseitig unterstützen. Äußerte sich die Gewalt im Kampfe gegen den Feudalismus in Europa in revolutionärer Gestalt (die bürgerlichen Revolutionen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts gehören in letzter Linie hierher), so in außereuropäischen Ländern - im Kampfe gegen primitivere soziale Formen - in der Gestalt der Kolonialpolitik. Das hier praktizierte Steuersystem wie der Handel, namentlich mit primitiven Gemeinwesen, stellen ein Gemisch dar, in dem politische Gewalt und ökonomische Faktoren eng ineinandergreifen.
Die ökonomischen Zwecke des Kapitalismus im Kampfe mit naturalwirtschaftlichen Gesellschaften sind im einzelnen:
1. sich wichtiger Quellen von Produktivkräften direkt zu bemächtigen, wie Grund und Boden, Wild der Urwälder, Mineralien, Edelsteine und Erze, Erzeugnisse exotischer Pflanzenwelt, wie Kautschuk usw.;
2. Arbeitskräfte "frei" zu machen und zur Arbeit für das Kapital zu zwingen;
3. die Warenwirtschaft einzuführen;
4. Landwirtschaft von Gewerbe zu trennen.
Bei der primitiven Akkumulation, d.h. in den ersten geschichtlichen Anfängen des Kapitalismus in Europa am Ausgang des Mittelalters und bis ins 19. Jahrhundert hinein, bildete das Bauernlegen in England und auf dem Kontinent das großartigste Mittel zur massenhaften Verwandlung der Produktionsmittel und Arbeitskräfte in Kapital. Indes dieselbe Aufgabe wird bis auf den heutigen Tag durch das herrschende Kapital in ganz anders großartigem Maßstab ausgeführt - in der modernen Kolonialpolitik. Es ist eine Illusion, zu hoffen, der Kapitalismus würde sich je nur mit Produktionsmitteln begnügen, die er auf dem Wege des Warenhandels erstehen kann. Die Schwierigkeit für das Kapital besteht in dieser Hinsicht schon darin, daß auf gewaltigen Strecken der exploitierbaren Erdoberfläche die Produktivkräfte sich im Besitz von gesellschaftlichen Formationen befinden, die entweder zum Warenhandel nicht neigen oder aber gerade die wichtigsten Produktionsmittel, auf die es dem Kapital ankommt, überhaupt nicht feilbieten, weil die Eigentumsformen wie die ganze soziale Struktur dies von vornherein ausschließen. Dahin gehören vor allem Grund und Boden mit dem ganzen Reichtum an mineralischem Gehalt im Innern sowie mit dem Wiesen-, Wälder- und Wasserbestand an der Oberfläche, ferner Viehherden bei viehzüchtenden primitiven Völkern. Sich hier auf den Prozeß der langsamen auf Jahrhunderte berechneten inneren Zersetzung dieser naturalwirtschaftlichen Gebilde verlassen und ihre Resultate erst abwarten, bis sie zur Entäußerung der wichtigsten Produktionsmittel auf dem Wege des Warenhandels führen, würde für das Kapital soviel bedeuten, wie überhaupt auf die Produktivkräfte jener Gebiete verzichten. Daraus folgert der Kapitalismus gegenüber den Kolonialländern die gewaltsame Aneignung der wichtigsten Produktionsmittel als eine Lebensfrage für sich. Da aber gerade die primitiven sozialen Verbände der Eingeborenen der stärkste Schutzwall der Gesellschaft wie ihrer materiellen Existensbasis sind, so erfolgt als einleitende Methode des Kapitals die systematische, planmäßige Zerstörung und Vernichtung der nichtkapitalistischen sozialen Verbände, auf die es in seiner Ausbreitung stößt. Hier haben wir es nicht mehr mit der primitiven Akkumulation zu tun, der Prozeß dauert fort bis auf den heutigen Tag. Jede neue Kolonialerweiterung wird naturgemäß von diesem hartnäckigen Krieg des Kapitals gegen die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge der Eingeborenen begleitet sowie von dem gewaltsamen Raub ihrer Produktionsmittel und ihrer Arbeitskräfte. Die Hoffnung, den Kapitalismus ausschließlich auf den "friedlichen Wettbewerb", d.h. auf den regelrechten Warenhandel, wie er zwischen kapitalistisch produzierenden Ländern geführt wird, als die einzige Grundlage seiner Akkumulation verweisen zu können, beruht auf der doktrinären Täuschung, als ob die Kapitalakkumulation ohne die Produktivkräfte und die Nachfrage primitiverer Gebilde auskommen, sich auf den langsamen inneren Zersetzungsprozeß der Naturalwirtschaft verlassen könnte. Sowenig die Kapitalakkumulation in ihrer sprunghaften Ausdehnungstätigkeit auf den natürlichen Zuwachs der Arbeiterbevölkerung zu warten und mit ihm auszukommen vermag, sowenig wird sie auch die natürliche langsame Zersetzung der nichtkapitalistischen Formen und ihren Übergang zur Warenwirtschaft abwarten und sich mit ihm begnügen. Das Kapital kennt keine andere Lösung der Frage als Gewalt, die eine ständige Methode der Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß ist, nicht bloß bei der Genesis, sondern bis auf den heutigen Tag. Für die primitiven Gesellschaften aber gibt es, da es sich in jedem solchen Falle um Sein oder Nichtsein handelt, kein anderes Verhalten als Widerstand und Kampf auf Tod und Leben, bis zur völligen Erschöpfung oder bis zur Ausrottung. Daher die ständige militärische Besetzung der Kolonien, die Aufstände der Eingeborenen und die Kolonialexpeditionen zu ihrer Niederwerfung als permanente Erscheinungen auf der Tagesordnung des Kolonialregimes. Die gewaltsame Methode ist hier die direkte Folge des Zusammenpralls des Kapitalismus mit naturalwirtschaftlichen Formationen, die seiner Akkumulation Schranken setzen. Ohne ihre Produktionsmittel und Arbeitskräfte kann er nicht auskommen, sowenig wie ohne ihre Nachfrage nach seinem Mehrprodukt. Um ihnen aber Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu entnehmen, um sie in Warenabnehmer zu verwandeln, strebt er zielbewußt danach, sie als selbständige soziale Gebilde zu vernichten. Diese Methode ist vom Standpunkt des Kapitals die zweckmäßigste, weil sie zugleich die rascheste und profitabelste ist. Ihre andere Seite ist nämlich der wachsende Militarismus, über dessen Bedeutung für die Akkumulation in anderem Zusammenhang weiter unten. Die klassischen Beispiele der Anwendung dieser Methoden des Kapitals in den Kolonien bieten die Politik der Engländer in Indien und die der Franzosen in Algier.
Die uralte Wirtschaftsorganisation der Inder - die kommunistische Dorfgemeinde - hatte sich in ihren verschiedenen Formen durch Jahrtausende erhalten und eine lange innere Geschichte durchgemacht, trotz aller Stürme "in den politischen Wolkenregionen". Im 6. Jahrhundert vor der christlichen Ära drangen in das Indusgebiet die Perser und unterwarfen sich einen Teil des Landes. Zwei Jahrhunderte später zogen die Griechen ein und hinterließen als Ableger einer ganz fremden Kultur die alexandrinischen Kolonien. Die wilden Skythen machten eine Invasion ins Land. Jahrhundertelang herrschten die Araber in Indien. Später kamen von den Höhen des Iran die Afghanen, bis auch diese durch den ungestümen Ansturm der Tatarenhorden aus Transoxanien vertrieben wurden. Schrecken und Vernichtung bezeichneten den Weg, auf dem die Mongolen vorüberzogen, ganze Dörfer wurden niedergemetzelt, und die friedlichen Fluren mit den zarten Reishalmen färbten sich purpurn von Strömen vergossenen Blutes. Aber die indische Dorfgemeinde hat alles überdauert. Denn alle mohammedanischen Eroberer, die einander ablösten, ließen schließlich das innere soziale Leben der Bauernmasse und seine überlieferte Struktur unangetastet. Sie setzten bloß in den Provinzen ihre Statthalter ein, die die militärische Organisation überwachten und Abgaben von der Bevölkerung einsammelten. Alle Eroberer gingen auf die Beherrschung und Ausbeutung des Landes aus, keiner hatte ein Interesse daran, dem Volke seine Produktivkräfte zu rauben und seine soziale Organisation zu vernichten. Der Bauer mußte im Reiche des Großmoguls jährlich seinen Tribut in Naturalien an die Fremdherrschaft entrichten, aber er konnte in seinem Dorf ungeschoren leben und auf seiner Sholgura wie seine Urväter Reis bauen. Dann kamen die Engländer, und der Pesthauch der kapitalistischen Zivilisation vollbrachte in kurzer Zeit, was Jahrtausende nicht vermocht und was das Schwert der Nogaier nicht fertiggebracht hatte: die ganze soziale Organisation des Volkes zu zertrümmern. Der Zweck des englischen Kapitals war in letzter Linie, die Existenzbasis selbst der indischen Gemeinde: den Grund und Boden, in die eigene Macht zu kriegen.
Zu diesem Zwecke diente vor allem die bei den europäischen Kolonisatoren seit jeher beliebte Fiktion, wonach alles Land in der Kolonie Eigentum der politischen Herrscher wäre. Die Engländer schenkten nachträglich ganz Indien als Privatbesitz dem Großmogul und seinen Statthaltern, um es als deren "rechtmäßige" Nachfolger zu erben. Die angesehensten Gelehrten der Nationalökonomie, wie James Mill, stützten diese Fiktion diensteifrig mit "wissenschaftlichen" Gründen, so namentlich mit dem famosen Schluß: man müsse annehmen, daß das Grundeigentum in Indien dem Herrscher gehörte, "denn wollten wir annehmen, daß nicht er der Grundeigentümer war, so wären