Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.150.000 (in derselben Zeit, von 1870 bis 1880, wuchs das gesamte Eisenbahnnetz Europas von 130.000 auf 169.000 Kilometer). Die Eisenbahnen und die Bodenspekulanten riefen eine massenhafte Einwanderung aus Europa nach den Vereinigten Staaten herbei. Die Einwanderung betrug in den 23 Jahren 1869 bis 1892 mehr als 41/2 Millionen Menschen. Im Zusammenhang damit emanzipierte sich die Union nach und nach von der europäischen, hauptsächlich englischen Industrie und schuf eigene Manufakturen, eine eigene Textil Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie. Am raschesten wurde die Landwirtschaft revolutioniert. Bereits in den ersten Jahren nach dem Bürgerkriege wurden die Plantagenbesitzer der Südstaaten durch die Emanzipation der Neger gezwungen, den Dampfpflug einzuführen. Besonders aber wurden die im Westen im Anschluß an den Eisenbahnbau frisch entstehenden Farmen von vornherein auf die modernste Maschinentechnik gestellt. "Zur selben Zeit", schrieb der Bericht der landwirtschaftlichen Kommission der Vereinigten Staaten im Jahre 1867, "während die Anwendung der Maschinerie den Landbau im Westen revolutioniert und das Verhältnis der angewandten menschlichen Arbeit auf das niedrigste bisher erreichte Maß herabdrückt, ... widmen sich hervorragende administrative und organisatorische Talente der Landwirtschaft. Farmen von mehreren tausend Hektar werden mit mehr Geschick geleitet, mit einer zweckmäßigeren und ökonomischeren Ausnutzung der vorhandenen Mittel und einem höheren Ertrag als Farmen von 40 Hektar."224
Gleichzeitig stieg die Last der direkten wie der indirekten Steuern enorm. Mitten im Bürgerkriege wurde ein neues Finanzgesetz geschaffen. Der Kriegstarif vom 30. Juni 1864, der die Hauptgrundlage des noch heute geltenden Systems bildet, erhöhte die Verbrauchssteuern und die Einkommenssteuern in außerordentlichem Maße. Hand in Hand damit begann eine wahre Orgie der Schutzzöllnerei, die jene hohen Kriegssteuern als Vorwand nahm, um die Belastung der einheimischen Produktion durch Zölle auszugleichen.225 Die Mr. Morrill, Stevens und die anderen Gentlemen, die den Krieg benutzten, um mit ihrem protektionistischen Programm Sturm zu laufen, haben das System begründet, wonach die Zollpolitik offen und zynisch zum Werkzeug jeglicher Privatinteressen der Plusmacherei gemacht wurde. Jeder einheimische Produzent, der vor dem gesetzgebenden Kongreß erschien, um irgendeinen speziellen Zoll zu verlangen, damit er seine Taschen füllen konnte, sah sein Verlangen in willfähriger Weise erfüllt. Die Zollsätze wurden so hoch hinaufgeschraubt, wie nur irgend jemand es forderte. "Der Krieg", schreibt der Amerikaner Taussig, "hatte in mancher Hinsicht auf unser Nationalleben erfrischend und veredelnd gewirkt, aber seine unmittelbare Wirkung auf das Geschäftsleben und auf die ganze Gesetzgebung betreffend Geldinteressen war eine demoralisierende. Die Grenzlinie zwischen öffentlicher Pflicht und Privatinteressen war von den Gesetzgebern oft aus dem Auge verloren. Große Vermögen wurden gemacht durch Gesetzesveränderungen, die von denselben Leuten verlangt und durchgesetzt wurden, die die Nutznießer der neuen Gesetze waren, und das Land sah mit Bedauern, daß die Ehre und die Ehrlichkeit der Männer der Politik nicht unangetastet blieben." Und dieser Tarif, der eine ganze Umwälzung im ökonomischen Leben des Landes bedeutete, der zwanzig Jahre lang unverändert gelten sollte und im Grunde genommen bis jetzt die Basis der zollpolitischen Gesetzgebung der Vereinigten Staaten bildet, wurde buchstäblich in 3 Tagen im Kongreß und in 2 Tagen im Senat durchgepeitscht - ohne Kritik, ohne Debatte, ohne jede Opposition.226
Mit diesem Umschwung in der Finanzpolitik der Vereinigten Staaten begann die schamlose parlamentarische Korruption der Union, der offene und skrupellose Gebrauch der Wahlen, der Gesetzgebung und der Presse als Werkzeuge nackter Tascheninteressen des Großkapitals. Das Enrichissez-vous wurde zur Losung des öffentlichen Lebens seit dem "edlen Kriege" um die Befreiung der Menschheit vom "Schandfleck der Sklaverei"; der Negerbefreier-Yankee feierte Orgien als Glücksritter der Spekulation an der Börse, schenkte sich selbst als Gesetzgeber nationale Ländereien, bereicherte sich selbst durch Zölle und Steuern, durch Monopole, Schwindelaktien, Diebstahl des öffentlichen Vermögens. Die Industrie kam in Blüte. Jetzt waren die Zeiten vorbei, wo der kleine und mittlere Farmer fast ohne Bargeld auskommen und seinen Weizenvorrat noch nach Bedarf hie und da dreschen konnte, um ihn zu Geld zu machen. Jetzt mußte der Farmer immer Geld, recht viel Geld haben, um seine Steuern zu zahlen, er mußte bald alles, was er hervorbrachte, verkaufen, um wieder alles, was er brauchte, aus der Hand der Manufakturisten als Ware zu erwerben. "Wenn wir uns der Gegenwart zuwenden", schreibt Peffer, "so finden wir, daß sich fast alles verändert hat. Im ganzen Westen besonders dreschen alle Farmer ihren Weizen gleichzeitig, sie verkaufen ihn ebenfalls auf einmal. Der Farmer verkauft sein Vieh und kauft irisches Fleisch oder Speck, er verkauft seine Schweine und kauft Schinken und Schweinefleisch, er verkauft sein Gemüse und Obst und kauft sie wieder in Form der Konserven. Wenn er überhaupt Flachs baut, so drischt er den Flachs, anstatt ihn zu verspinnen, sodann Leinwand daraus zu weben und Wäsche für seine Kinder zu verfertigen, wie das vor 50 Jahren gemacht wurde, verkauft den Samen, das Stroh aber verbrennt er. Von fünfzig Farmern züchtet jetzt kaum einer Schafe; er rechnet auf die großen Zuchtfarmen und bezieht seinerseits die Wolle schon in fertiger Gestalt als Tuch oder Kleid. Sein Anzug wird nicht mehr zu Hause genäht, sondern in der Stadt gekauft. Anstatt selbst die nötigen Gerätschaften, Gabeln, Harke usw., anzufertigen, begibt er sich nach der Stadt, um das Heft zum Beil oder den Stiel zum Hammer zu kauten; er kauft Taue und Schnüre und allerlei Faserzeug, er kauft Kleiderstoffe oder selbst Kleider, er kauft konservierte Früchte, er kauft Speck und Fleisch und Schinken, er kauft heute fast alles, was er einst selbst produzierte, und er braucht zu alledem Geld. Außer alledem und was seltsamer scheint als alles andere, ist folgendes: Während früher die Heimstätte des Amerikaners frei und unverschuldet blieb - nicht in einem Fall auf tausend war eine Heimstätte mit Hypotheken belastet, um eine Geldanleihe zu sichern - und während bei dem geringen Bedarf an Geld zur Führung des Betriebes stets Geld genug unter den Farmern vorhanden war, ist jetzt, wo zehnmal soviel Geld benötigt wird, nur wenig oder gar keines zu haben. Etwa die Hälfte der Farmen haben Hypothekenschulden, die ihren ganzen Wert verschlingen, und die Zinsen sind exorbitant. Die Ursache dieses merkwürdigen Umschwungs liegt in dem Manufakturisten mit seinen Wollen- und Leinenfabriken, Holzbearbeitungsfabriken, Baumwollspinnereien und Webereien, mit seinen Fleisch- und Obstkonservenfabriken usw. usw.; die kleinen Farmwerkstätten haben den großen städtischen Werken den Platz geräumt. Die nachbarliche Wagnerwerkstatt hat dem enormen städtischen Werk Platz gemacht, wo hundert oder zweihundert Wagen pro Woche hergestellt werden; an Stelle der Schusterwerkstatt ist die große städtische Fabrik getreten, wo der größte Teil der Arbeit vermittels der Maschinen gemacht wird."227 Und endlich ist auch die landwirtschaftliche Arbeit des Farmers selbst zur Maschinenarbeit geworden. "Jetzt pflügt, sät und schneidet der Farmer mit Maschinen. Die Maschine schneidet, bindet Garben, und mit Hilfe des Dampfes wird gedroschen. Der Farmer kann beim Pflügen seine Morgenzeitung lesen, und er sitzt auf gedecktem Sitz der Maschine, während er schneidet."228
Diese Umwälzung in der amerikanischen Landwirtschart seit dem "großen Kriege" war aber nicht das Ende, sondern der Anfang des Strudels, in den der Farmer hineingeraten war. Seine Geschichte leitet von selbst zur zweiten Phase der Entwicklung der kapitalistischen Akkumulation über, die sie gleichfalls trefflich illustriert. Der Kapitalismus bekämpft und verdrängt überall die Naturalwirtschaft, die Produktion für den Selbstbedarf, die Kombinierung der Landwirtschaft mit dem Handwerk, um an ihre Stelle die einfache Warenwirtschaft zu setzen. Er braucht die Warenwirtschaft als Absatz für den eigenen Mehrwert. Die Warenproduktion ist die allgemeine Form, in der der Kapitalismus erst gedeihen kann. Hat sich aber auf den Ruinen der Naturalwirtschaft bereits die einfache Warenproduktion ausgebreitet, dann beginnt alsbald der Kampf des Kapitals gegen diese. Mit der Warenwirtschaft tritt der Kapitalismus in ein Konkurrenzverhältnis; nachdem er sie ins Leben gerufen. macht er ihr die Produktionsmittel streitig, die Arbeitskräfte und den Absatz. Zuerst war der Zweck die Isolierung des Produzenten, seine Trennung von der schützenden Gebundenheit des Gemeinwesens, dann die Trennung der Landwirtschaft vom Handwerk, jetzt ist die Trennung des kleinen Warenproduzenten von seinen Produktionsmitteln die Aufgabe.
Wir haben gesehen, daß der "große Krieg" in der amerikanischen Union eine Ära der grandiosen Plünderung der nationalen Ländereien durch