Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.verschuldeten und ruinierten Farmer blieb nichts anderes übrig, als entweder in Nebenverdiensten als Lohnarbeiter sein Heil zu suchen oder seine Wirtschaft ganz zu verlassen und den Staub des "gelobten Landes" des "Weizenparadieses", das für ihn zur Hölle geworden, von seinen Pantoffeln zu schütteln, vorausgesetzt, daß seine Farm nicht schon wegen Zahlungsunfähigkeit in die Krallen des Gläubigers geriet, was mit Tausenden der Farmen der Fall war. Verlassene und verfallende Farmen konnte man massenhaft um die Mitte der 80er Jahre beobachten. "Kann der Farmer zu den festgesetzten Terminen seine Schulden nicht bezahlen", schrieb Sering 1887 "so steigt der von ihm zu entrichtende Zins auf 12, 15, ja 20 Prozent. Die Bank, der Maschinenhändler, der Krämer drängen auf ihn ein und berauben ihn der Früchte seiner harten Arbeit ... Der Betreffende bleibt dann entweder als Pächter auf der Farm, oder er zieht weiter fort gegen Westen, um sein Glück von neuem zu versuchen. Nirgendwo in Nordamerika habe ich in der Tat so viele verschuldete, enttäuschte und mißvergnügte Farm er getroffen wie in den Weizendistrikten der nordwestlichen Prärien, keinen einzigen Farmer habe ich in Dakota gesprochen, der nicht bereit gewesen wäre, seine Farm zu verkaufen."234 Der Kommissar der Landwirtschaft in Vermont teilte 1889 über die weit verbreitete Tatsache des Verlassens der Farmen mit: "In diesem Staate", schrieb er, "kann man große Strecken unbebauten, aber zum Anbau geeigneten Bodens finden, den man zu Preisen kaufen kann, die sich denjenigen in den Weststaaten nähern, dazu in der Nähe von Schulen und Kirchen und obendrein mit den Bequemlichkeiten der nahegelegenen Eisenbahn. Der Kommissar hat nicht alle Bezirke des Staates besucht, über die berichtet wird, er hat aber genug besucht, um sich zu überzeugen, daß ein bedeutendes Gebiet verlassenen, früher aber bebauten Landes jetzt zu Ödland geworden ist, obwohl ein bedeutender Teil davon der tüchtigen Arbeit ein gutes Einkommen liefern könnte."
Der Kommissar des Staates New Hampshire veröffentlichte 1890 eine Schrift, in der 67 Seiten mit der Beschreibung von Farmen gefüllt sind, die zu den billigsten Preisen zu haben waren. Es sind darin 1.442 verlassene Farmen mit Wohngebäuden beschrieben, die erst vor kurzem aufgegeben wurden. Dasselbe auch in anderen Gegenden. Tausende von Acres Weizen- und Maiskulturen lagen brach und wurden zu Ödland. Um das verlassene Land wieder zu bevölkern, trieben die Bodenspekulanten eine raffinierte Reklame, und sie zogen neue Scharen Einwanderer, neue Opfer ins Land, die dem Schicksal ihrer Vorgänger nur noch rascher anheimfielen.235
"In der Nähe der Eisenbahnen und Absatzmärkte", hieß es in einem Privatbrief, "gibt es nirgends mehr staatliches Land, es ist ganz in den Händen der Spekulanten. Der Ansiedler übernimmt freies Land und zählt als Farmer. Aber seine Wirtschaft als Farm sichert ihm kaum die Existenz, und er kann unmöglich dem großen Farmer Konkurrenz machen. Er bebaut den gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtteil seiner Farm, aber zur Unterstützung seines Wohlstandes muß er einen Nebenerwerb außerhalb der Landwirtschaft suchen. In Oregon z.B. habe ich einen Ansiedler getroffen, der während fünf Jahren Eigentümer von 160 Acres war, zur Sommerzeit aber, Ende Juni, am Wegebau arbeitete, 12 Stunden täglich für 1 Dollar Tageslohn. Auch dieser figurierte natürlich als Einheit unter den 5 Millionen Farmern, die vom Zensus 1890 gezählt worden sind. Oder in Eldorado County sah ich z.B. viele Farmer, die den Boden nur in dem Umfang bebauten, um sich selbst und das Vieh zu ernähren, nicht aber für den Markt, denn das wäre unvorteilhaft; ihr Haupterwerb aber besteht im Goldgraben, Holzfällen und Holzverkauf usw. Diese Leute leben im Wohlstand, aber ihr Wohlstand rührt nicht von der Landwirtschaft her. Vor zwei Jahren arbeiteten wir in Long Cañon, Eldorado County, und wohnten die ganze Zeit in einer cabin auf einer Parzelle, deren Eigentümer nur einmal im Jahr für einige Tage nach Hause kam, die übrige Zeit aber in Sacramento an der Eisenbahn arbeitete, Seine Parzelle wurde gar nicht bebaut. Vor einigen Jahren wurde ein kleiner Teil davon angebaut, um dem Gesetz Genüge zu tun, einige Acres sind mit Drahtzaun eingezäunt, eine log cabin und ein Schuppen sind errichtet. Aber in den letzten Jahren steht das alles leer: Der Schlüssel von der Hütte befindet sich beim Nachbar, der uns auch die Hütte zur Verfügung gestellt hatte. Im Verlaufe unserer Wanderungen haben wir viele verlassene Parzellen gesehen, auf denen Versuche gemacht waren, die Wirtschaft zu führen. Vor drei Jahren wurde mir der Vorschlag gemacht, eine Farm mit Wohnhaus für 100 Dollar zu übernehmen. Später ist das leere Haus unter der Last des Schnees zusammengebrochen. In Oregon sahen wir viele verlassene Farmen mit Wohnhäuschen und Gemüsegärtchen. Eins davon, das wir besucht haben, war ausgezeichnet gebaut: ein kräftiges von Meisterhand zusammengefügtes Blockhaus mit einigen Gerätschaften. Und alles das war vom Farmer verlassen. Jedermann konnte alles unentgeltlich in Besitz nehmen."236
Wohin wendet sich der ruinierte Farmer der Union? - Er zieht mit seinem Wanderstab dem "Weizenzentrum" und den Eisenbahnen nach. Das Weizenparadies verschiebt sich zum Teil nach Kanada an den Saskatschewan und den Mackenziefluß, wo Weizen noch unter dem 62. Grad nördlicher Breite gedeiht. Ihm folgt ein Teil der Farmer der Union 237, um nach einiger Zeit in Kanada noch einmal dasselbe Schicksal durchzumachen. Kanada ist in den letzten Jahren auf dem Weltmarkt in die Reihe der Weizenausfuhrländer eingetreten, dort wird aber die Landwirtschaft noch mehr vom Großkapital beherrscht.238
Die Verschleuderung der öffentlichen Ländereien an privatkapitalistische Gesellschaften ist in Kanada noch ungeheuerlicher betrieben worden als in den Vereinigten Staaten. Der Charter und Landgrant der kanadischen Pazifikbahngesellschaft ist etwas Beispielloses an öffentlichem Raub durch das Privatkapital. Der Gesellschaft war nicht bloß das Monopol auf den Eisenbahnbau für 20 Jahre gesichert, die ganze zu bebauende Strecke von etwa 713 englischen Meilen im Werte von zirka 35 Millionen Dollar gratis zur Verfügung gestellt, nicht bloß hatte der Staat auf 10 Jahre eine Zinsgarantie für 3 Prozent auf das Aktienkapital von 100 Millionen Dollar übernommen und ein bares Darlehen von 271/2 Millionen Dollar gewährt. Außer alledem ist der Gesellschaft ein Landgebiet von 25 Millionen Acres geschenkt worden. und zwar zur beliebigen Auswahl unter den fruchtbarsten und bestgelegenen Ländereien auch außerhalb des unmittelbar die Bahn begleitenden Gürtels. Alle die künftigen Ansiedler auf der
ungeheuren Fläche waren so von vornherein dem Eisenbahnkapital auf Gnade und Ungnade überantwortet. Die Eisenbahnkompanie hat ihrerseits 5 Millionen Acres, um sie möglichst rasch zu Geld zu machen, gleich weiter an die Nordwest-Landkompanie, d.h. an eine Vereinigung von englischen Kapitalisten unter Führung des Herzogs von Manchester verschleudert. Die zweite Kapitalgruppe, an die öffentliche Ländereien mit vollen Händen verschenkt wurden, ist die Hudsonbaikompanie, die für den Verzicht auf ihre Privilegien im Nordwesten einen Anspruch auf nicht weniger als ein Zwanzigstel allen Landes in dem ganzen Gebiet zwischen dem Lake Winnipeg, der Grenze der Vereinigten Staaten, den Rocky Mountains und dem nördlichen Saskatschewan erhielt. Die zwei Kapitalgruppen haben so zusammen fünf Neuntel des besiedelungsfähigen Landes in ihre Hände bekommen. Von den übrigen Ländereien hatte der Staat einen bedeutenden Teil 26 kapitalistischen "Kolonisationsgesellschaften" zugewiesen.239 So befindet sich der Farmer in Kanada fast von allen Seiten in den Netzen des Kapitals und seiner Spekulation. Und trotzdem die Masseneinwanderung nicht nur aus Europa, sondern auch aus den Vereinigten Staaten!
Dies sind die Züge der Kapitalsherrschaft auf der Weltbühne: Aus England trieb sie den Bauern, nachdem sie ihn vom Boden verdrängt hatte, nach dem Osten der Vereinigten Staaten, vom Osten nach dem Westen, um aus ihm auf den Trümmern der Indianerwirtschaft wieder einen kleinen Warenproduzenten zu machen, vom Westen treibt sie ihn, abermals ruiniert, nach dem Norden - die Eisenbahnen voran und den Ruin hinterher, d.h. das Kapital als Führer vor sich und das Kapital als Totschläger hinter sich. Die allgemeine zunehmende Teuerung der landwirtschaftlichen Produkte ist wieder an Stelle des tiefen Preisfalls der 90er Jahre getreten, aber der amerikanische kleine Farmer hat davon sowenig Nutzen wie der europäische Bauer.
Die Anzahl der Farmen wächst freilich unaufhörlich. Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts ist sie von 4,6 Millionen auf 5,7 Millionen gewachsen, und auch im letzten Jahrzehnt ist sie absolut gestiegen. Gleichzeitig