Das Bildnis des Dorian Gray. Oscar Wilde

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Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde


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      „Ist es auch. Das ist der Grund, warum sie, wie Eva, es so eilig haben, herauszukommen“, sagte Lord Henry. „Leb wohl, Onkel George. Ich komme zu spät zum Mittagessen, wenn ich jetzt nicht gehe. Danke schon für deine Auskunft. Ich erfahre immer gern alles über meine neuen Freunde und nichts über meine alten.“

      „Wo isst du zu Mittag, Harry?“

      „Bei Tante Agatha. Ich habe mich und Herrn Gray zu Tisch gebeten. Er ist ihr neuester Protégé.“

      „Hm! Sag deiner Tante Agatha, Harry, sie solle mich künftig mit ihren Wohltätigkeitsaufrufen in Ruhe lassen. Ich habe sie satt. Weiss der Kuckuck, die gute Frau bildet sich ein, ich hätte nichts zu tun, als Schecks für ihre albernen Schrullen zu schreiben.“

      „Schon recht, Onkel George. Ich werde es ihr sagen, aber es wird nicht die geringste Wirkung tun. Philanthropische Leute verlieren jeden Sinn für Menschlichkeit. Es gehört zu ihnen. Man kann sie daran erkennen.“

      Der alte Mann knurrte zustimmend und schellte nach seinem Diener. Lord Henry ging durch den niederen Torbogen nach Burlington Street und wandte sich dann in die Richtung von Berkeley Square.

      Also das war die Geschichte von Dorian Grays Abstammung. So grob sie ihm erzählt worden war, sie hatte ihn doch gepackt durch die sonderbare, beinahe moderne Romantik, die darin lag. Eine wunderschöne Frau, die alles für eine tolle Leidenschaft wagt. Ein paar wilde Wochen Glück, die ein scheussliches, meuchlerisches Verbrechen kurz abschneidet. Monate stummer Qual und dann ein Kind, in Schmerzen geboren. Die Mutter durch den Tod entrissen, der Knabe der Einsamkeit und der Tyrannei eines alten lieblosen Mannes überlassen. Ja; es war ein interessanter Hintergrund. Es gab dem Jungen Relief, rundete ihn ab sozusagen. Hinter allem Vollkommenen auf der Welt steht etwas Tragisches. Welten müssen in Wehen liegen, soll die ärmste Blume blühen. . . . Und wie reizend war er gestern beim Abendessen gewesen, als er mit erstaunten Augen und freudig erschrockenen Lippen ihm im Klub gegenübergesessen hatte, indes die roten Kerzenschatten das erwachende Wunder seines Gesichts mit Rosenschimmer übergossen hatten. Zu ihm sprechen war wie das Spielen auf einer kostbaren Geige. Er antwortete auf jede Berührung, jedes Zittern des Bogens . . . Es lag etwas grauenvoll Berückendes in dem Ausüben eines Einflusses, etwas, womit sich keine andere Tätigkeit vergleichen konnte. Seine Seele in eine anmutige Form zu giessen und dort augenblickslang verweilen zu lassen; die eigenen geistigen Anschauungen im Widerhall zu vernehmen, verstärkt durch das Feuer der Leidenschaft und der Jugend; seine Natur auf eine andere zu übertragen, als sei sie eine feine Flüssigkeit oder ein seltsamer Duft: darin lag wirklich Genuss — vielleicht der feinste, der uns in einer so beschränkten und vulgären Zeit wie der unseren geblieben war, dieser Zeit grobsinnlicher Vergnügungen und grobsinnlicher Zwecke . . . Und er war ein wundervoller Typus, dieser Jüngling, den er durch einen so sonderbaren Zufal in Basils Atelier getroffen hatte, oder konnte jedenfalls zu einem wundervollen Typus geschaffen werden. Sein waren Anmut und die weisse Reinheit des Knabenalters und solche Schönheit, wie sie alte griechische Marmorbilder für uns bewahrt haben. Es gab nichts, was man nicht aus ihm machen konnte. Man konnte einen Titanen aus ihm machen oder ein Spielzeug. Wie schade, dass auch solche Schönheit zu welken bestimmt war! . . . Und Basil? Wie merkwürdig war auch er vom psychologischen Standpunkt aus! Eine neue Kunstweise, eine neue Einstellung zum Leben, auf unbegreifliche Art hervorgerufen durch die blosse sichtbare Gegenwart eines Menschen, dem all dies ganz unbewusst war; die schweigende Gottheit, die im dämmernden Hain wohnte und ungesehen durch die Landschaft schritt und nun plötzlich hervortrat wie eine Dryade, furchtlos und herrlich, weil in seiner suchenden Seele die wunderbare Vision erwacht war, der allein sich die Wunder enthüllen; so dass gleichsam die Umrisse und Muster der Dinge sich verfeinern und symbolische Bedeutung erhalten, als wären sie selbst Muster von anderen und vollkommeneren Formen, deren Schatten sie Leben verleihen: wie seltsam war das alles! Er erinnerte sich an etwas Ähnliches aus der Geschichte. War es nicht Plato, jener Künstler im Denken, der es zuerst analysiert hatte? Hatte es nicht Buonarotti in den farbigen Marmor einer Sonettenreihe gemeisselt? Aber in unserem Jahrhundert war es seltsam . . . Ja; er wollte versuchen, Dorian Gray das zu sein, was der Jüngling unbewusst dem Maler war, der das wundervolle Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, ihn zu beherrschen — hatte es zur Hälfte schon getan. Er wollte sich diesen wunderbaren Geist unterwerfen. Es war etwas Faszinierendes in diesem Sohn der Liebe und des Todes.

      Plötzlich hielt er inne und sah zu den Häusern hinauf. Er merkte, dass er das Haus seiner Tante schon ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, lächelte über sich selbst und kehrte um. Als er die etwas düstere Halle betrat, sagte ihm Der Diener, dass die Herrschaften schon bei Tisch seien. Er gab einem Lakaien Hut und Stock und ging ins Esszimmer.

      „Spät wie gewöhnlich, Harry“, rief seine Tante kopfschüttelnd.

      Er erfand eine billige Ausrede, setzte sich auf den leeren Stuhl neben sie und blickte um den Tisch, wer sonst da sei. Dorian grüsste vom anderen Tischende schüchtern zu ihm hinüber, während ein freudiges Erröten sich in seine Wangen stahl. Ihm gegenüber sass die Herzogin von Harley, eine ebenso gutherzige wie frohlaunige Dame, geliebt von allen, die sie kannten, von jenen stattlichen architektonischen Formen, die bei Frauen, welche nicht Herzoginnen sind, von den zeitgenössischen Geschichtsschreibern als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten sass Sir Thomas Burdon, ein radikaler Abgordneter, der im öffentlichen Leben seinem Führer, im Privatleben den besten Köchen zu folgen pflegte, mit den Konservativen speiste und mit den Liberalen dachte, wie eine weise und wohlbekannte Regel empfiehlt. Der Platz zu ihrer Linken wurde von Herrn Erskine von Treadley eingenommen, einem alten Herrn von grosser Feinheit und Bildung, der jedoch die schlechte Gewohnheit des Schweigens angenommen hatte, weil er, wie er Lady Agatha einmal erklärte, alles, was er zu sagen gehabt, vor seinem dreissigsten Jahr gesagt habe. Seine eigene Tischnachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante und eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so entsetzlich geschmacklos, dass sie einen an ein schlecht gebundenes Gebetbuch ermahnte. Zum Glück für ihn sass an ihrer anderen Seite Lord Faudel, eine sehr gescheite bejahrte Mittelmässigkeit, kahl wie eine ministerielle Erklärung im Unterhaus, und mit diesem sprach sie in jenem tiefernsten Ton, welcher, wie er selbst einmal gesagt hatte, der einzige unverzeihliche Fehler ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen und dem keiner von ihnen je völlig entgeht.

      „Wir reden eben über den armen Dartmoor, Lord Henry“, rief die Herzogin und nickte ihm über den Tisch herzlich zu. „Glauben Sie wirklich, dass er jenes berückende Frauenzimmer heiraten wird?“

      „Ich glaube, sie ist entschlossen, ihm ihre Hand anzutragen, Herzogin.“

      Wie schrecklich!“ rief Lady Agatha aus. „Es müsste wirklich jemand eingreifen.“

      „Ich weiss aus guter Quelle, dass ihr Vater ein amerikanisches Gemischtwarenlager führt“, sagte Sir Thomas Burdon mit hochnäsigem Ausdruck.

      ,,Mein Onkel hat schon Konservenfabrikation vermutet, Sir Thomas.“

      „Gemischtwaren! Was sind amerikanische Gemischtwaren?“ fragte betont die Herzogin und hob verwundert die grossen Hände.

      „Amerikanische Romane“, antwortete Lord Henry und nahm sich eine Wachtel.

      Die Herzogin sah verblüfft aus.

      „Achten Sie nicht auf ihn, meine Liebe“, flüsterte Lady Agatha. „Er meint nichts von dem, was er sagt.“

      ,,Als Amerika entdeckt wurde“, sagte der radikale Abgeordnete und begann ein paar langweilige Tatsachen aufzuzählen. Wie alle Leute, die einen Gegenstand zu erschöpfen suchen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und machte von ihrem Vorrecht, Gespräche zu unterbrechen, Gebrauch. Ich wollte wahrhaftig, es wäre nie entdeckt worden!“ rief sie aus. „Weiss der Himmel, unsere Mädchen haben heutzutage keine Aussichten mehr. Es ist wirklich ungerecht.“

      „Vielleicht ist im Grunde Amerika noch unentdeckt,“ sagte Herr Erskine, „ich möchte sagen, es sei eben erst erahnt.“

      „Oh! Aber ich habe Proben von den Bewohnerinnen gesehen“, antwortete die Herzogin unbestimmt. „Ich muss gestehen, dass die meisten ausnehmend hübsch sind. Und obendrein ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alles aus


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