Das Bildnis des Dorian Gray. Oscar Wilde

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Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde


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ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Oxforder Studienfreund. Ich habe ihm gerade erzählt, was für ein glänzendes Modell du bist, und jetzt hast du alles verdorben.“

      „Aber nicht mein Vergnügen, Ihnen zu begegnen, Herr Gray“, sagte Lord Henry mit einem Schritt auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Meine Tante hat zu mir oft von Ihnen gesprochen, Sie gehören zu ihren Bevorzugten und, ich, fürchte, auch zu ihren Opfern.“

      „Ich stehe jetzt in Lady Agathes schwarzem Buch“, antwortete Dorian mit komisch zerknirschtem Ausdruck. „Ich versprach, letzten Dienstag mit ihr in einen Klub in Whitechapel zu gehen, und ich habe es wirklich ganz vergessen. Wir hätten ein Duett miteinander spielen sollen — drei Duette, glaube ich. Ich weiss nicht, was sie mir sagen wird. Ich habe viel zu viel Angst, um hinzugehen.“

      „Oh, ich werde sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist ganz entzückt von Ihnen. Und ich glaube, es war wirklich nicht schlimm, dass Sie nicht dort waren. Das Publikum hat wahrscheinlich gedacht, es sei ein Duett. Wenn Tante Agatha sich ans Klavier setzt, macht sie genug Lärm für zwei.“

      „Das ist abscheulich gegen sie und nicht sehr nett gegen mich“, antwortete Dorian lachend.

      Lord Henry sah ihn an. Ja, er war sicherlich wunderbar schön, mit seinen feingeschwungenen Scharlachlippen, seinen kühnen, blauen Augen und seinem goldblonden Kraushaar. In seinem Gesicht war etwas, was einem sofort Vertrauen einflösste. Die ganze Offenheit der Jugend lag darin und ihre ganze leidenschaftliche Reinheit. Man fühlte, dass er sich von der Welt unbefleckt bewahrt hatte. Kein Wunder, dass Basil Hallward ihn vergötterte.

      „Sie sind zu reizend, um sich mit Philanthropie zu befassen, Herr Gray, viel zu reizend.“ Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.

      Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel vorbereitet. Er sah gequält aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung hörte, warf er ihm einen Blick zu, zögerte ein wenig und sagte dann: „Harry, ich möchte dieses Bild heute fertig malen. Würdest du es arg unhöflich von mir finden, wenn ich dich bäte, zu gehen?“

      Lord Henry lächelte und blickte Dorian Gray an. „Soll ich gehen, Herr Gray?“ fragte er.

      „Oh, bitte nicht, Lord Henry. Ich sehe, dass Basil wieder mal brummiger Laune ist; und ich kann ihn nicht ertragen, wenn er brummt. Ausserdem möchte ich, dass Sie mir sagen, warum ich mich nicht mit Philanthropie befassen soll.“

      „Ich weiss nicht, ob ich Ihnen das sagen werde, Herr Gray. Es ist ein so langweiliger Gegenstand, dass man unbedingt ernsthaft darüber sprechen müsste. Aber ich werde sicher nicht fortlaufen, jetzt, wo Sie mich gebeten haben, zu bleiben. Du hast doch ernstlich nichts dagegen, Basil, nicht wahr? Du hast mir oft gesagt, es sei dir lieb, wenn deine Modelle jemanden zum Plaudern haben.“

      Hallward biss sich auf die Lippen. „Wenn Dorian es wünscht, musst du natürlich bleiben. Dorians Launen find Befehle für jedermann, ausser für ihn selbst.“

      Lord Henry griff nach Hut und Handschuhen. „Du drängst mich zwar sehr, Basil, aber ich fürchte, ich muss gehen. Ich habe einem Bekannten versprochen, ihn im Orleans zu treffen. Leben Sie wohl, Herr Gray. Besuchen Sie mich einmal nachmittags in der Eurzon Street. Um fünf Uhr finden Sie mich fast immer zu Hause. Schreiben Sie mir, wann Sie kommen. Es täte mir leid, Sie zu verfehlen.“

      „Basil,“ rief Dorian Gray, „wenn Lord Henry Wotton geht, werde ich auch gehen. Du machst nie den Mund auf, während du malst, und es ist entsetzlich langweilig, auf einem Podium zu stehen und ein liebenswürdiges Gesicht zu schneiden. Bitte ihn zu bleiben. Ich bestehe darauf.“

      „Bleib, Harry, Dorian zuliebe und mir zuliebe“, sagte Hallward, ohne den Blick von der Leinwand zu wenden. „Es ist ganz richtig, ich spreche nie während der Arbeit und höre nicht einmal zu, und es muss schrecklich eintönig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte dich zu bleiben.“

      „Aber was wird aus meinem Bekannten im Orleans?“

      Der Maler lachte. „Ich glaube nicht, dass dies Schwierigkeiten machen wird. Setz’ dich wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, stell’ dich auf das Podium und mach’ nicht zu viel Bewegungen und achte nicht auf das, was Lord Henry sagt. Er hat einen sehr schlechten Einfluss auf alle seine Freunde, mich allein ausgenommen.“

      Dorian Gray bestieg die Estrade mit der Miene eines jungen griechischen Märtyrers und machte ein Schmollgesicht gegen Lord Henry, für den er geradezu eine Vorliebe gefasst hatte. Er war so ganz anders als Basil. Sie bildeten einen wundervollen Gegensatz. Und er hatte eine so schöne Stimme. Nach einer kleinen Weile sagte er zu ihm: „Haben Sie wirklich einen schlechten Einfluss, Lord Henry? So schlecht, wie Basil sagt?“

      „Es gibt keinen guten Einfluss, Herr Gray. Jeder Einfluss ist unmoralisch — unmoralisch vom wissenschaftlichen Gesichtspunkte aus.“

      „Warum?“

      „Weil einen Menschen beeinflussen so viel ist, wie ihm die eigene Seele geben. Er denkt nicht mehr seine natürlichen Gedanken, er glüht nicht mehr in seinen natürlichen Leidenschaften. Seine Tugenden haben für ihn keine Wirklichkeit. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind geliehen. Er wird Echo einer fremden Musik, Darsteller einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Ziel des Lebens ist Entwicklung des Selbst. Die eigene Natur vollkommen zu verwirklichen — das ist es, wofür jeder von uns geboren wurde. Aber heutzutage haben die Menschen Angst vor sich. Sie haben die höchsten aller Pflichten, die Pflicht gegen das eigene Selbst, vergessen. Natürlich sind sie wohltätig. Sie füttern den Hungrigen und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen hungern und frieren. Es ist kein Mut mehr in unserer Rasse. Vielleicht war er nie wirklich darin. Furcht vor der Gesellschaft, der Grundlage der Moral — Furcht vor Gott, dem Geheimnis der Religion —, das sind die zwei Dinge, die uns beherrschen. Und doch —“

      „Dreh’ deinen Kopf ein wenig mehr nach rechts, Dorian, wie ein braver Bub“, sagte der Maler, ganz in die Arbeit vertieft und nichts bemerkend, als dass ein Ausdruck in des Jünglings Gesicht getreten war, den er dort noch nie gesehen hatte.

      „Und doch,“ fuhr Lord Henry fort mit seiner leisen, melodischen Stimme und jener anmutigen Handbewegung, die so bezeichnend für ihn war und die ihm schon als Schulknaben eigen gewesen war, „ich glaube, wenn ein Mensch sein Leben voll und ganz auslebte, jedem Gefühl Gestalt, jedem Gedanken Ausdruck, jedem Traum Verwirklichung gebend — ich glaube, die Welt würde einen solchen frischen Antrieb von Freude gewinnen, dass wir alle Krankheiten des Mittelalters vergessen und zum hellenischen Ideal zurückkehren würden — ja vielleicht zu etwas Schönerem und Reinerem als selbst das hellenische Ideal gewesen ist. Aber auch der Tapferste unter uns hat Angst vor sich. Die Selbstverstümmelung der Wilden lebt tragisch fort in der Selbstverleugnung, die unser Leben entstellt. Wir werden gestraft für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, brütet in unserer Seele und vergiftet uns. Der Leib sündigt einmal und ist dann mit seiner Sünde fertig, denn Tun ist eine Art Reinigung. Nichts bleibt zurück als die Erinnerung an eine Lust oder der Luxus eines Bedauerns. Das einzige Mittel, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben. Widerstehe ihr, und deine Seele wird krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich versagt hat, vor Verlangen nach allem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuer und ungesetzlich gemacht haben. Man hat gesagt, die grossen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn vor sich. Aber es ist im Gehirn, und nur im Gehirn, wo die grossen Sünden der Welt Ereignis werden. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrem rosenroten Mund und Ihrer rosenweissen Jugend, Sie haben Leidenschaften empfunden, die Sie mit Furcht erfüllt haben, Gedanken, die Sie erschrecken liessen, Träume in Schlaf und Wachen, deren blosse Erinnerung Ihre Wangen mit Erröten färben würde —“

      „Hören Sie auf!“ stammelte Dorian Gray, „hören Sie auf! Sie verwirren mich. Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort auf all das, aber ich kann sie nicht finden. Sprechen Sie nicht. Lassen Sie mich nachdenken. Oder besser, laffen Sie mich versuchen, nicht nachzudenken.“

      Fast zehn Minuten lang stand er so, unbeweglich, mit geöffneten Lippen und einem seltsamen Glanz in den Augen. Er war sich dunkel bewusst, dass ganz neue Einflüsse in ihm arbeiteten.


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