Das Bildnis des Dorian Gray. Oscar Wilde

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Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde


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Lord Henry Wotton von Curzon Street nach Albany, um seinen Onkel, Lord Fermor, zu besuchen. Lord Fermor war ein ebenso humorvoller wie rauhbeiniger, alter Junggeselle, den die Welt selbstsüchtig nannte, weil sie keinen sonderlichen Nutzen von ihm zog, während die Gesellschaft ihn für freigebig erklärte, weil er die Leute fütterte, die ihm Spass machten. Sein Vater war englischer Botschafter in Madrid gewesen, als Isabella noch jung und von Prim keine Rede war, hatte aber in einem Anfall von Verärgerung den diplomatischen Dienst verlassen, als man ihm den Botschafterposten in Paris nicht anbot, auf den er mit Rücksicht auf seine Geburt, seine Trägheit, das gute Englisch seiner Berichte und seine hemmungslose Vergnügungssucht den vollsten Anspruch zu haben glaubte. Der Sohn, der seines Vaters Sekretär gewesen war, hatte mit ihm demissioniert, etwas vorschnell, wie damals gemeint wurde; und als ein paar Monate darauf seines Vaters Titel auf ihn überging, widmete er sich voll und ganz dem ernsten Studium der hohen aristokratischen Kunst des absoluten Nichtstund. Er besass zwei grosse Stadtpaläste, zog es aber vor, möbliert zu wohnen, da es weniger Umstände machte, und ass meist in seinem Klub. Er gab sich ein wenig mit der Verwaltung seiner Kohlengruben in Mittelengland ab, wobei er als Entschuldigung für diese industrielle Neigung geltend machte, Kohle zu besitzen, habe wenigstens den Vorteil, dass es einen Gentleman instandsetze, sich den anständigen Luxus von Holz für den eigenen Herd zu leisten. Politisch war er konservativ, ausser wenn die Konservativen am Ruder waren, in welchem Fall er sie als eine Bande von Radikalen zu beschimpfen pflegte. Er war ein Held für seinen Kammerdiener, der ihn tyrannisierte, und ein Schrecken für die meisten seiner Angehörigen, die er seinerseits tyrannisierte. Nur England konnte ihn hervorgebracht haben, und er behauptete stets, das Land ginge vor die Hunde. Seine Grundsätze waren veraltet, aber seine Vorurteile hatten Hand und Fuss.

      Als Lord Henry eintrat, fand er seinen Onkel in einem derben Jagdanzug sitzend, eine Manilazigarre rauchend und über der Times brummend. „Na, Harry,“ sagte der alte Herr, „welcher Wind hat dich so zeitig hergeweht? Ich dachte, ihr Dandies stündet nie vor zwei auf und wärt nicht vor fünf sichtbar.“

      „Reine Familienliebe, ich versichere dir, Onkel George. Ich möchte etwas aus dir herausbekommen.“

      „Geld wahrscheinlich“, sagte Lord Fermor mit einem sauren Gesicht. „Na, setz dich und erzähl mir die Sache. Heutzutage bilden sich die jungen Leute ein, Geld sei alles.“

      „Ja,“ murmelte Lord Henry und brachte seine Knopflochblume in Ordnung, „und wenn sie älter werden, dann wissen sie’s. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen das, Onkel George, und ich zahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines jüngeren Sohnes, und man lebt prächtig davon. Ausserdem suche ich mir immer Dartmoors Lieferanten aus, und die Folge ist, dass sie mich nie behelligen. Was ich brauche, ist eine Auskunft: keine nützliche natürlich; eine ganz unnütze.“

      „Nun, ich kann dir alles erzählen, was in einem englischen Blaubuch steht, Harry, obgleich diese Kerls heute einen Haufen Unsinn schreiben. Als ich in der Diplomatie war, stand es viel besser. Aber ich höre, man lässt die Leute jetzt auf Grund von Prüfungen zu. Ich bitte dich, was kann man da erwarten? Prüfungen sind nichts als Humbug von A bis Z. Ist einer ein Gentleman, so weiss er genug, und ist er keiner, so ist ihm Wissen nur schädlich.“

      „Herr Dorian Gray gehört nicht zu den Blaubüchern, Onkel George“, sagte Lord Henry nachlässig.

      „Herr Dorian Gray? Wer ist das?“ fragte Lord Fermor und zog seine buschigen weissen Brauen zusammen.

      „Das möchte ich gerade erfahren, Onkel George. Das heisst, wer er ist, weiss ich. Er ist der Enkel des verstorbenen Lord Kelso. Seine Muter war eine Devereur — Lady Margaret Devereux. Du sollst mir sagen, was du von ihr weisst. Wie sah sie aus? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit so ungefähr die ganze Welt gekannt, vielleicht war sie darunter. Herr Gray interessiert mich augenblicklich lebhaft. Ich habe ihn eben erst kennengelernt.“

      „Der Enkel von Kelso!“ wiederholte der alte Herr, „der Enkel von Kelso! . . . Natürlich . . . Ich habe seine Mutter genau gekannt. Ich glaube, ich war bei ihrer Taufe. Sie war ein wunderschönes Mädchen, diese Margaret Devereux, und brachte alle Männer zur Raserei, indem sie mit einem bettelarmen jungen Laffen durchging, einem reinen Niemand, einem kleinen Leutnant in einem Infanterieregiment oder so was Ähnlichem. Ich erinnere mich an die ganze Geschichte, als sei’s gestern gewesen. Der arme Teufel fiel in einem Duell in Spa ein paar Monate nach der Hochzeit. Es gab ein hässliches Gerede darüber. Man sagte, Kelso habe irgendeinen schuftigen Glücsritter, einen belgischen Rohling, angestiftet, seinen Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen — ihn dafür bezahlt, ja, mit Geld bezahlt — und Dass der Schurke seinen Mann abgestochen habe, wie man ein Huhn absticht. Die Sache wurde vertuscht, aber, potz Blitz! Kelso ass eine ganze Weile danach sein Hammelkotelett im Klub allein. Er brachte damals seine Tochter zurück, hat man mir erzählt, aber sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm. Ja, ja, es war ein übler Handel. Das Mädel starb noch im selben Jahr. Also hat sie einen Sohn hinterlassen? Das hatte ich vergessen. Wie sieht der Junge aus? Wenn er seiner Mutter gleicht, so muss er ein hübscher Kerl sein.“

      „Mehr als hübsch“, sagte Lord Henry.

      „Ich hoffe, er kommt in die richtigen Hände“, fuhr der alte Mann fort. „Er müsste einen ganzen Haufen Geld zu erwarten haben, wenn Kelso sich anständig gegen ihn benommen hat. Seine Mutter hatte auch Geld. Sie hat das ganze Selbysche Vermogen geerbt, durch ihren Grossvater mütterlicherseits. Der hasste den alten Kelso und hielt ihn für einen gemeinen Hund. Und das war er auch. Einmal, als ich in Madrid war, kam er hin. Weiss Gott, ich habe mich für ihn geschämt. Die Königin hat mich gefragt, wer der englische Baron sei, der immer mit den Kutschern über den Fahrpreis stritte. Es hat ordentliches Aufsehen erregt. Ich konnte mich einen Monat lang nicht mehr bei Hofe blicken lassen. Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser behandelt als die Droschenkutscher.“

      „Ich weiss nicht“, antwortete Lord Henry. „Aber ich glaube, der Junge wird gut daran sein. Er ist noch nicht grossjährig. Schloss Selby gehört ihm, das weiss ich. Er hat es mir erzählt. Und . . . seine Mutter war sehr schön? . . .

      „Margaret Devereux war eins der bezauberndsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe, Harry. Was in aller Welt sie bewogen hat, so zu handeln, wie sie es tat, habe ich nie begriffen. Sie hätte jeden Mann heiraten können, den sie mochte. Carlington war ganz vernarrt in sie. Aber sie war romantisch wie alle Weiber aus dieser Familie. An den Männern war nicht viel dran, aber weiss Gott, die Weiber, die waren prachtvoll. Carlington hat auf den Knien vor ihr gelegen. Hat es mir selbst erzählt. Sie hat ihn bloss ausgelacht, und doch gab es damals kein Mädchen in London, das nicht hinter ihm her war. Übrigens, weil wir von dummen Heiraten reden, was hat mir dein Vater da für einen Unsinn erzählt, dass Dartmoor eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische Mädels nicht gut genug für ihn?“

      „Es ist eben modern, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel George.“

      „Ich wette auf englische Frauen gegen die ganze Welt, Harry“, und Lord Fermor schlug mit der Faust auf den Tisch.

      „Die Amerikanerin ist jetzt Favorit.“

      „Sie hält nicht, was sie verspricht, höre ich“, brummte sein Onkel.

      „Eine lange Verlobung erschöpft sie, aber in einem Hindernisrennen ist sie prima. Sie siegt im Sturm. Ich glaube nicht, dass Dartmoor noch zu retten ist.“

      „Was sind ihre Leute?“ grollte der alte Herr. „Hat sie überhaupt welche?“

      Lord Henry schüttelte den Kopf. „Amerikanerinnen haben ein solches Geschick, ihre Abstammung zu verheimlichen, wie Engländerinnen, ihre Vergangenheit zu verbergen“, sagte er, indem er sich zu gehen anschickte.

      „Vermutlich Konservenfabrikanten von Schweinefleisch oder so was?“

      „Ich hoffe, Onkel George, ich hoffe es für Dartmoor. Es heisst, Konservenmachen, und gar von Schweinefleisch, sei nach der Politik das einträglichste Geschäft in Amerika.“

      „Ist sie hübsch?“

      „Sie benimmt sich, als ob sie eine Schönheit wäre. Die meisten Amerikanerinnen tun das. Es ist das Geheimnis ihres Erfolgs.“


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