Maigret und Pietr der Lette. Georges Simenon
Читать онлайн книгу.Offenbar war er mit sich zufrieden. Mortimer ging mit eisigem Blick weiter und verschwand im Aufzug.
Es war kurz nach halb zehn. Das klassische Orchester, das beim Abendessen gespielt hatte, räumte seinen Platz für die Jazzband. Von draußen kamen Leute herein.
Maigret hatte nicht zu Abend gegessen. Mitten in der Hotelhalle blieb er stehen, ohne Ungeduld an den Tag zu legen. Der Geschäftsführer warf ihm von Weitem immer wieder beunruhigte und missbilligende Blicke zu. Auch die einfachen Angestellten sahen mürrisch aus, wenn sie an ihm vorbeikamen, einige rempelten ihn sogar an.
Das Majestic nahm ihn nicht in sich auf. Trotzig bildete er einen großen schwarzen, reglosen Fleck inmitten der Vergoldungen, der Lichter, des Hin und Her der Abendroben, der Pelzmäntel, der duftenden und glitzernden Gestalten.
Mrs. Mortimer-Levingston trat als Erste aus dem Aufzug. Sie hatte sich umgezogen. Ein Cape aus hermelingefüttertem Lamé umhüllte ihre Schultern.
Sie schien verwundert zu sein, dass niemand auf sie wartete, und begann auf und ab zu gehen, wobei ihre hohen vergoldeten Absätze rhythmisch auf dem Boden klackerten.
Unvermittelt blieb sie vor der Mahagonitheke mit den Angestellten und Dolmetschern stehen, um ihnen etwas zu sagen. Einer der Angestellten drückte einen roten Knopf und nahm einen Telefonhörer ab.
Er wirkte überrascht und winkte einem Boy, der zum Aufzug eilte.
Mrs. Mortimer-Levingston war sichtlich beunruhigt. Hinter der gläsernen Eingangstür konnte man am Bordstein die weichen Umrisse einer amerikanischen Limousine erkennen.
Der Liftboy kam zurück und sprach mit dem Angestellten. Dieser wandte sich an Mrs. Mortimer-Levingston. Sie protestierte. Offenbar sagte sie:
»Das ist unmöglich!«
Da ging Maigret die Treppe hoch, blieb vor Nummer 17 stehen und klopfte an die Tür. Wie nicht anders zu erwarten, kam keine Antwort.
Er öffnete die Tür. Der Salon war leer. Im Schlafzimmer lag der Smoking von Pietr dem Letten auf dem Bett. Ein Schrankkoffer stand offen. Die Lackschuhe lagen weit voneinander entfernt auf dem Teppich.
Der Geschäftsführer erschien und brummte:
»Sie sind also auch schon da. Und? Verschwunden, was? … Mortimer auch, oder?
Aber wir sollten nichts dramatisieren. Sie sind beide nicht in ihren Zimmern, aber bestimmt werden wir sie irgendwo im Hotel ausfindig machen.«
»Wie viele Ausgänge?«
»Drei … Der zu den Champs-Élysées … der zu den Arcades und dann der Personaleingang, Rue de Ponthieu.«
»Gibt es da einen Portier? … Rufen Sie ihn!«
Der Geschäftsführer war wütend. Er regte sich über den Telefonisten auf, der ihn nicht verstand. Der Blick, den er auf Maigret gerichtet hielt, war nicht eben wohlwollend.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er, während er auf den Portier des Personaleingangs wartete, der in einer kleinen verglasten Loge Dienst tat.
»Nichts, oder fast nichts, wie Sie sagten …«
»Ich hoffe, es handelt sich nicht um ein … um ein …«
Das Wort »Verbrechen«, Albtraum aller Hoteliers der Welt, von den kleinen Vermietern möblierter Zimmer bis zu den Geschäftsführern von Luxushotels, blieb ihm im Hals stecken.
»Das werden wir bald erfahren.«
Mrs. Mortimer-Levingston erschien und erkundigte sich:
»Nun … Was ist?«
Der Geschäftsführer verbeugte sich und versuchte stotternd etwas zu sagen. Am Ende des Gangs tauchte ein kleiner alter Mann auf, mit schmutzigem Bart und schlecht sitzenden Kleidern, eine Gestalt, die nicht in den Rahmen des Hotels passte.
Selbstverständlich sollte er hinter den Kulissen bleiben, sonst hätte man auch ihm eine schöne Uniform verpasst und ihn jeden Morgen rasiert.
»Haben Sie gesehen, dass jemand das Hotel verlassen hat?«
»Wann?«
»Vor ein paar Minuten.«
»Jemand aus der Küche, glaube ich … Ich habe nicht aufgepasst … Ein Mann mit einer Mütze …«
»Klein, blond?«, warf Maigret ein.
»Ja, ich glaube … Ich habe nicht genau hingesehen … Er ist schnell gegangen …«
»Sonst niemand?«
»Ich weiß nicht … Ich bin zur Ecke, um mir eine Zeitung …«
Mrs. Mortimer-Levingston verlor die Beherrschung.
»Das nennen Sie suchen?«, sagte sie, zu Maigret gewandt. »Man hat mir gesagt, Sie seien von der Polizei. Mein Mann ist vielleicht ermordet worden … Worauf warten Sie?«
Der Blick, der nun auf ihr ruhte, war ganz Maigret! Dieser Gleichmut! Als hätte er nichts anderes gehört als das Summen einer Mücke! Als hätte er es mit etwas gänzlich Banalem zu tun.
Sie war es nicht gewohnt, auf diese Weise angesehen zu werden. Sie biss sich auf die Lippe, lief rot an und stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß auf.
Er sah sie immer noch an.
Da bekam sie, am Ende ihrer Kräfte oder vielleicht weil ihr nichts anderes einfiel, eine Nervenkrise.
3 Die Haarsträhne
Es war fast Mitternacht, als Maigret am Quai des Orfèvres eintraf. Der Sturm tobte. Die Bäume am Ufer wurden heftig geschüttelt, und das Wasser klatschte gegen das Waschschiff.
Die Räume der Kriminalpolizei waren fast alle verwaist. Jean saß dennoch an seinem Platz im Vorzimmer, von wo aus man die Flure mit den vielen leeren Büros im Blick hatte.
Von der Wache drangen Stimmen herüber. Und da und dort ein Lichtstreif unter einer Tür: ein Kommissar oder ein Inspektor, der an irgendeinem Fall arbeitete. Im Hof knatterte ein Auto der Präfektur.
»Ist Torrence schon zurück?«, erkundigte sich Maigret.
»Er ist gerade gekommen.«
»Mein Ofen?«
»Ich musste das Fenster aufmachen, weil es so heiß war bei Ihnen. Das Wasser lief die Wände runter!«
»Bestell mir ein paar Bier und Sandwiches. Aber ja nicht zu sparsam belegt!«
Er stieß eine Tür auf und rief:
»Torrence!«
Und Brigadier Torrence folgte ihm in sein Büro. Bevor er die Gare du Nord verließ, hatte Maigret mit ihm telefoniert: Er sollte die Ermittlungen von seiner Seite aus weiterführen.
Der Kommissar war fünfundvierzig Jahre alt. Torrence war erst dreißig. Aber er hatte schon etwas Massiges an sich, was ihn fast zu einem Abbild Maigrets machte.
Sie hatten bereits bei vielen Ermittlungen zusammengearbeitet, ohne ein unnützes Wort zu verlieren.
Der Kommissar legte Mantel und Jackett ab und lockerte seine Krawatte. Mit dem Rücken zum Ofen ließ er sich eine Weile von der Wärme durchdringen, ehe er fragte:
»Und?«
»Die Staatsanwaltschaft hat eilig eine Sitzung einberufen. Der Erkennungsdienst hat Fotos gemacht, aber keine Fingerabdrücke feststellen können. Außer denen des Opfers natürlich! Es gibt keinerlei Übereinstimmungen mit unserer Kartei.«
»Wenn ich mich recht erinnere, haben wir noch gar keine Fingerabdrücke von unserem Mann?«
»Wir haben nur seinen Steckbrief. Keine Fingerabdrücke.«
»Also gibt es keinen Beweis dafür, dass der Tote nicht Pietr der Lette ist.«
»Aber auch