Maigret und Pietr der Lette. Georges Simenon

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Maigret und Pietr der Lette - Georges  Simenon


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Krümel enthielt. Automatisch reichte ihm Torrence eine angebrochene Packung seines eigenen Tabaks.

      Sie schwiegen. Der Tabak knisterte. Dann hörte man Schritte und Gläserklirren hinter der Tür. Torrence öffnete.

      Der Kellner der Brasserie Dauphine trat ein und stellte ein Tablett mit sechs Gläsern Bier und vier sehr dick belegten Sandwiches auf den Tisch.

      »Genügt das?«, fragte er, als er sah, dass Maigret nicht allein war.

      »Ja.«

      Ohne mit dem Rauchen aufzuhören, begann der Kommissar zu essen und zu trinken, nachdem er zuvor dem Brigadier ein Bier hingeschoben hatte.

      »Und weiter?«

      »Ich habe das ganze Zugpersonal befragt. Es steht fest, dass ein Mann ohne Fahrkarte gereist ist. Der Tote oder der Mörder! Man nimmt an, dass er in Brüssel eingestiegen ist, auf der Gleisseite. In einem Pullmanwagen kann man sich besonders leicht verstecken, weil es da mehr Platz für Gepäck gibt als in anderen Wagen. Zwischen Brüssel und der Grenze hat sich der Lette Tee servieren lassen, dabei las er französische und englische Zeitungen, er hatte einen ganzen Stapel dabei, auch diverse Finanzblätter. Zwischen Maubeuge und Saint-Quentin ging er zur Toilette. Der Oberkellner erinnert sich daran, weil der Mann im Vorbeigehen gesagt hat: ›Bringen Sie mir gleich einen Whisky.‹«

      »Und etwas später ist er dann an seinen Platz zurückgekehrt?«

      »Eine Viertelstunde später saß er dort und trank seinen Whisky. Aber der Oberkellner hat ihn nicht zurückkommen sehen.«

      »Danach hat niemand die Toilette aufgesucht?«

      »Ach ja! Eine Frau hat an der Tür gerüttelt. Das Schloss hat geklemmt. Erst kurz vor der Ankunft in Paris ist es einem Angestellten gelungen, die Tür zu öffnen, da hat er entdeckt, dass das Schloss durch Eisenspäne blockiert war.«

      »Bis dahin hat niemand den zweiten Pietr gesehen?«

      »Nein! Und er wäre ja aufgefallen, schließlich war er für so einen Luxuszug viel zu ärmlich gekleidet.«

      »Die Kugel?«

      »Aus nächster Nähe abgefeuert. Automatischer Revolver, sechs Millimeter. Der Schuss hat eine so heftige Brandwunde verursacht, dass der Arzt behauptet, sie allein hätte ausgereicht, um den Mann zu töten.«

      »Keine Kampfspuren?«

      »Nicht die geringsten! Die Taschen leer.«

      »Ich weiß …«

      »Ach ja! Immerhin habe ich das hier gefunden, in einer kleinen verschließbaren Innentasche der Weste.«

      Und Torrence holte einen Umschlag aus durchsichtigem Seidenpapier aus seiner Brieftasche, in dem eine braune Haarsträhne zu erkennen war.

      »Geben Sie her …«

      Maigret hörte nicht auf zu essen und zu trinken.

      »Frauen- oder Kinderhaare?«

      »Frauenhaare, sagt der Gerichtsmediziner. Ich habe ihm einige überlassen, und er hat versprochen, sie sich genauer anzusehen.«

      »Die Autopsie?«

      »Um zehn Uhr war alles vorbei. Vermutetes Alter: zweiunddreißig. Größe: ein Meter achtundsechzig. Keinerlei erbliche Belastungen. Allerdings ist eine Niere in schlechtem Zustand, was vermuten lässt, dass der Mann Alkoholiker war. Der Magen enthielt noch Tee und halb verdaute Nahrung, die man nicht gleich analysieren konnte. Sie werden sich morgen daranmachen.

      Nach beendeter Untersuchung wird die Leiche in der Gerichtsmedizin tiefgefroren.«

      Maigret wischte sich den Mund ab, nahm seinen Lieblingsplatz am Ofen wieder ein und streckte die Hand aus, in die Torrence wie immer sein Tabakpäckchen legte.

      »Was mich betrifft«, sagte er dann, »ich habe Pietr gesehen – oder denjenigen, der seinen Platz eingenommen hat, im Majestic. Da hat er seine Suite bezogen und mit den Mortimer-Levingstons zu Abend gegessen, mit denen er offenbar verabredet war.«

      »Die Milliardäre?«

      »Ja! Nach dem Essen hat er sich wieder auf sein Zimmer begeben. Ich habe den Amerikaner gewarnt. Mortimer ist dann auch hochgefahren. Zweifellos wollten sie zu dritt ausgehen, denn Mrs. Mortimer kam kurz danach in voller Abendmontur herunter. Zehn Minuten später hat man das Verschwinden der beiden Männer festgestellt.

      Der Lette hat seinen Smoking ausgezogen und unauffällige Kleider angezogen. Er trug eine Mütze, deshalb hat ihn der Portier für einen vom Küchenpersonal gehalten. Mortimer ist so gegangen, wie er war, im Abendanzug.«

      Torrence sagte nichts. Und während des langen Schweigens, das nun folgte, hörte man deutlich das Tosen des Orkans, der die Scheiben erzittern ließ, und das Bullern des Ofens.

      »Gepäck?«, fragte Torrence schließlich.

      »Ist durchsucht. Nichts! Kleider. Wäsche … Alles, was ein Luxusreisender so braucht. Aber kein Dokument. Die Mortimer behauptet steif und fest, dass ihr Mann ermordet worden ist.«

      Irgendwo schrillte eine Glocke. Maigret öffnete die Schreibtischschublade, in die er nachmittags die Telegramme zu Pietr dem Letten gelegt hatte.

      Dann betrachtete er die Landkarte. Sein Finger zeichnete eine Linie von Krakau über Bremen, Amsterdam, Brüssel nach Paris.

      In der Nähe von Saint-Quentin hielt er inne: ein Toter.

      In Paris brach die Linie ab. Zwei Männer verschwinden, mitten auf den Champs-Élysées.

      Übrig bleiben das Gepäck in einer Suite und Mrs. Mortimer-Levingston, ebenso gedankenleer wie der Schrankkoffer des Letten mitten in seinem Schlafzimmer.

      Maigrets Pfeife gab ein so entnervendes Gurgeln von sich, dass der Kommissar aus einer anderen Schublade eine Büchse mit Hühnerfedern nahm, das Mundstück reinigte und die schmutzigen Federn dann in den Ofen warf.

      Vier Bier waren getrunken, Schaumreste und Abdrücke fettiger Lippen trübten die Gläser. Aus einem der Nachbarbüros kam ein Mann, verschloss seine Tür und entfernte sich über den Flur.

      »Der hat es für heute hinter sich!«, bemerkte Torrence. »Es ist Lucas. Heute Abend hat er zwei Drogenschmuggler verhaftet. Ein reiches Jüngelchen hat ausgepackt.«

      Maigret schürte das Feuer und richtete sich mit rotem Gesicht wieder auf. Unwillkürlich griff er nach dem Umschlag aus Seidenpapier, holte die Haarsträhne heraus und hielt sie gegen das Licht. Dann stellte er sich wieder vor die Karte, auf der die unsichtbare Linie, die Reiseroute des Letten, eine deutliche Kurve, fast einen Halbkreis beschrieb.

      Warum von Krakau in den Norden, nach Bremen, fahren und von dort wieder nach Süden bis Paris?

      Er hielt immer noch den Umschlag in der Hand und murmelte:

      »Es war einmal ein Porträtfoto darin.«

      Tatsächlich handelte es sich um eine Verpackung, wie sie Fotografen benutzen, wenn sie ihren Kunden die Abzüge überreichen.

      Doch dieses Format, das früher Albumformat genannt wurde, gab es nur noch auf dem Land und in kleinen Provinzstädten.

      Das Foto musste auf einem Karton von halber Postkartengröße aufgezogen gewesen sein, auf dünnem, elfenbeinfarbenem glänzendem Papier.

      »Ist noch jemand im Labor?«, fragte der Kommissar unvermittelt.

      »Ich glaube, ja! Der Fall im Zug macht viel Arbeit, sie müssen die Negative entwickeln.«

      Auf dem Tisch stand nur noch ein volles Glas. Maigret leerte es in einem Zug und schlüpfte in sein Jackett.

      »Kommen Sie mit? Auf diesen Porträtbildern sind gewöhnlich Namen und Adresse des Fotografen aufgedruckt oder geprägt …«

      Torrence begriff. Sie begaben sich in ein kompliziertes Netz von Korridoren und Treppen, gingen unter dem Dach des Palais de Justice entlang und erreichten schließlich das


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