Psychotherapie - wozu und wie?. Mary Michael

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Psychotherapie - wozu und wie? - Mary Michael


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Psyche deutet Hirnereignisse und sie deutet von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Daher können verschiedene Menschen zwar das Selbe sehen, aber dennoch etwas ganz Unterschiedliches erleben. Ihnen kann dasselbe Ereignis zustoßen, aber sie verarbeiten es zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Sie können den gleichen Umständen ausgesetzt sein und entwickeln dennoch völlig unterschiedliche Reaktionen darauf. Sie können die gleichen Erlebnisse gehabt haben, und diese dennoch ganz unterschiedlich erinnern.

      Die geschilderte Erkenntnis dessen, was Psychotherapeuten tun, lässt Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Entwicklung der jüngeren Geschichte zu. Denn da es die Psychotherapie erst seit etwa 130 Jahren in einer modernen Form gibt und da ihre Bedeutung weiter zunimmt, muss in der neuen Zeit der Bedarf an individuellen Lösungen psychischer Probleme enorm zugenommen haben. Dass dies tatsächlich der Fall ist, zeigt ein Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zur Entstehung der Psychotherapie geführt haben.

      Wie gesagt, da sich die Psychotherapie in der heutigen Form erst seit kurzer Zeit gibt und ihr Auftrag in der Begleitung von Einzelnen liegt, muss es zu einem enormen Zuwachs an Individualität gekommen sein. Ein Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung zeigt, dass dies tatsächlich der Fall ist und klärt, warum der Bedarf an individueller Orientierung in wechselnden Lebensumständen weiter zunimmt.

      Gruppenidentität - wer man früher war

      In den Jahrhunderten vor dem 19. Jahrhundert unterschied sich die Lebenswelt des Einzelnen völlig von der heutigen. Die Menschen lebten in einer ständisch strukturierten Gesellschaft. Deren übersichtliche Struktur vermittelte eine verlässliche Orientierung. Wie man sich in dem jeweiligen Stand zu verhalten hatte, was man denken, sagen und fühlen sollte, was man tun oder lassen durfte, wozu man verpflichtet war und was einem blühte, wenn man sich nicht an die Regeln hielt, all das war unzweifelhaft und jedem bekannt. Der Einzelne verfügte daher über ein einziges, relativ klar definiertes Ich, er wusste, wer er war. Er war entweder Leibeigener, Bauern, Handwerker, Bürger oder Feudaler – andere ‚Seinsmöglichkeiten’ standen nicht zur Verfügung.

      Wer zu jener Zeit beispielsweise Bauer oder Bürger war, der war das immer und überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit, mit Haut und Haaren, durch und durch. Er war das auf dem Dorfplatz, im Gerichtssaal, im Krieg oder Frieden, auf Reisen oder in der Stadt, im Bett oder am Tisch. Die Gesellschaft hatte ihm einen dem Stand, in den er hinein geboren wurde, entsprechenden Mantel umgehängt und ihm erklärt: „Das bist Du!“ Der Einzelne war mit einer festen, verlässlichen und bestimmten Identität ausgestattet. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine individuelle, sondern um eine Gruppenidentität. Man war „Ich, der Bauer“ oder „Ich, der Bürger“ und nicht „Ich, der Georg“ oder „Ich, die Lisa“.

      Ein Bauer bestellte nicht bloß die Erde mit seinen Händen, er war nicht nur äußerlich Bauer, sondern er war es auch innerlich. Er fühlte wie ein Bauer und blieb daher von romantischen Schwärmereien verschont. Er dachte wie ein Bauer und reiste nicht durch die Welt, sondern blieb seiner Scholle verhaftet. Er hielt das für wichtig, was für einen Bauer wichtig war. Daher schrieb er keine Gedichte und spekulierte nicht mit Geld, vielmehr versuchte eine gute Partie zu heiraten und so weiter und so fort. Es war für ihn relativ einfach, seine Identität - sein bäuerliches Ich oder seine Vorstellung davon, wer er ist - zu bewahren, weil er sich nur im bäuerlichen Bereich und sonst nirgends aufhalten durfte. Auch dem Leibeigenen gegenüber war er Bauer, als Höhergestellter und ebenso dem Feudalherren gegenüber, als Untergebener. Er war ‚Ich der Bauer’ durch und durch, eine andere Identität als diese Gruppenidentität stand ihm nicht zur Verfügung.

      Individuelle Identitäten - wer man heute ist

      Machen wir einen Sprung in heutige, moderne Verhältnisse, in denen sich fast alles verändert hat. Heute sind die Stände abgeschafft, die sozialen Lebensbereiche liegen horizontal nebeneinander und sind durchlässig. Zudem scheint ihre Anzahl schier unbegrenzt zu sein.

      Lassen Sie mich einige dieser sozialen Bereiche aufzählen. Da wäre beispielsweise der Arbeitsbereich, der Finanzbereich, der Erziehungsbereich, der Liebesbereich, der militärisch Bereich, der sexuelle Bereich, der politische Bereich, der kirchliche Bereich, der Forschungsbereich, der Justizbereich, der Freizeitbereich, der wissenschaftliche Bereich, der Schulbereich, der Wirtschaftsbereich, der Universitätsbereich, der Freundschaftsbereich, der Kindergartenbereich, der Versicherungsbereich, der kriminelle Bereich, der Börsenbereich, der Pflegebereich, der Gesundheitsbereich, der Rentenbereich … um nur die wichtigsten zu nennen. Damit aber nicht genug. Jeder dieser Bereiche ist nochmals in unzählige Unterbereiche gegliedert. Der Bankenbereich etwa in einen Kreditbereich, einen Aktienbereich, einen Investitionsbereich, einen Anleihenbereich, einen Sparbereich, einen Obligationsbereich, einen Immobilienbereich, einen Lobbybereich und so weiter und so fort. Eine vergleichbare Aufsplitterung gilt für alle anderen Bereiche.

      Versucht man sich ein Bild dieser überaus komplexen modernen Gesellschaft zu machen, dann setzt sich diese aus zahllosen Fragmenten zusammen. Man kann sich einen Planeten vorstellen, dessen Oberfläche von einem riesigen Puzzle aus unzähligen Teilen gebildet wird. Das Puzzle Gesellschaft besteht allerdings nicht aus kleinen Pappkarten, nicht aus totem Material, vielmehr lebt es. Ständig ist ein Bereich im Umbruch, er gliedert weitere Unterbereiche aus oder es entstehen neue Bereiche.

      Diese Beweglichkeit und enorme Komplexität haben zur Folge, dass die moderne Gesellschaft unüberschaubar ist.

      Niemand kann sie als Ganzes im Blick haben. Schaut man nach Norden, verändert sich schon der Süden, Osten und Westen. Beschreibt man dann, was sich im Westen verändert, ist der Norden schon nicht mehr der Gleiche. Wo man auch hinschaut, nichts lässt sich festschreiben. Was hat diese Entwicklung zu einer nie da gewesenen gesellschaftlichen Komplexität mit dem Thema Psychotherapie und dem Individuum zu tun? Sehr viel.

      Der Einzelne ist heute gezwungen, sich in unterschiedlichsten Bereichen zu bewegen, wenn er an der Gesellschaft teilhaben will. Ein Individuum muss sich im Wirtschafts-, im Finanz-, im Gesundheits-, im Religions-, im Arbeits- im Liebesbereich etc. und in den dazu gehörigen unzähligen Unterbereichen zurechtfinden und verhalten können.

      Heute reicht ein einziges ‚Ich’ nicht mehr aus.

      Der moderne Mensch hat dazu viele unterschiedliche Identitäten - unterschiedliche Ich - kultiviert, zwischen denen er in seinem Lebensalltag ständig wechselt.


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