Psychotherapie - wozu und wie?. Mary Michael

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Psychotherapie - wozu und wie? - Mary Michael


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Bastelkeller versteckt hat und die ihn als einen Mann ausweisen, der an ungewöhnlichen Sexualpraktiken Gefallen findet. Herr Beek erhält gegen Abend einen Anruf von seinem Bruder, mit dem er in eine Erbstreitigkeit verwickelt ist. Dieser Bruder kennt ihn als gnadenlosen Abzocker. Während er seinem Bruder mit dem Anwalt droht, hält Herr Beek den Hörer zu und bittet seine Frau freundlich, ihm ein Bier aufzumachen. In diesem Moment ist er fast gleichzeitig zwei Herr Beek, ein harter in die eine Richtung und ein freundlicher in die andere.

      Wer nun ist Herr Beek? Welche Person stellt er da? Welchen Charakter weist er auf? Ist er ein besonnener, ein verlässlicher, ein egoistischer, ein freundlicher, ein antriebsloser, ein angepasster, ein arroganter, ein kompromissloser, ein hartherziger, ein feiger, ein autoritärer und bedrohlicher, ein gleichgültiger, ein warmherziger, ein scheinheiliger, ein harter oder ein freundlicher Mann? Herr Beek ist das alles und nichts davon. Herr Beek ist ein ganz normaler Mensch, dessen zahllose Verhaltensmöglichkeiten, von denen hier nur wenige angedeutet sind, sich unmöglich unter den Hut eines Charakters oder den Mantel einer Person bringen lassen. Wer wird Herr Beek unter extremen Bedinungen sein? Beispielsweise in einem plötzlich ausbrechenden Bürgerkrieg? Das weiß niemand, zuletzt er selbst.

      Vorerst genügt es festzustellen: Es gibt in der modernen Welt keinen Charakter und keinen Sinn- und Verhaltensmodus mehr, an dem sich durch mehrere Lebensbereiche festhalten lässt.

      Die Persönlichkeit ist multipel.

      Die Psyche entspricht einem lebenden Puzzle, das sich ständig im Umbruch befindet. Daher wundert es nicht, wenn der Einzelne mitunter psychische Probleme bekommt, die er selbst nicht lösen kann.

      Psychische Probleme sind (heute) völlig normal

      Psychische Probleme markieren Verwirrungen im Karussell ständiger Identitätswechsel, sie stellen keinesfalls per se Erkrankungen dar. Vielmehr gehören sie zum Leben in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Sie gehören zu einer Welt, in der ein Einzelner wiederholt mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, sich neu zu orientieren, ja sogar, sich neu zu bestimmen und zu erklären, wer er ‚momentan’ oder ‚unter diesen Umständen’ ist und wer er zukünftig zu sein gedenkt. Psychische Probleme gehören zu einer Welt, die kaum mehr richtig und falsch vorgibt, die unterschiedlichste Lebensformen akzeptiert, die nicht eine, sondern zahlreiche Beziehungsformen toleriert, die den Einzelnen nicht mit verlässlichen Vorgaben versorgt und statt dessen unzählige Lösungen zulässt. Dies sind individuelle Lösungen, die teils unter großen psychischen Spannungen gefunden werden wollen und die nicht für immer gelten, weil sich die inneren und die äußeren Umstände beständig im Umbruch befinden.

      Psychische Probleme gehören zum Alltag, sie stellen Aufforderungen zu einem Identitätswechsel dar.

      Psychische Spannungen werden durch heute alltägliche Veränderungen der Lebensumstände ausgelöst. Eine Frau verliert ihre Arbeit, ein Mann bekommt Krebs oder sonst eine schwere Krankheit, ein Kind erleidet einen folgenreichen Unfall, ein Gekündigter entwickelt Lebens- oder Zukunftsängste, ein Ehepartner wird verlassen, ein Angehöriger stirbt und der Rest der Familie verliert den Boden unter den Füßen, ein erfolgreicher Spekulant erleidet geschäftlich oder beruflich Schiffbruch. Auch innere Umstände können sich verändern. Ein Karrierist kommt selbst in die Quere, beispielsweise leidet er unter seinem Ehrgeiz oder seinem Phlegma, jemand anderes isoliert sich sozial, ein Angepasster verausgabt sich völlig, um Anerkennung zu erreichen, zwei Partner streiten sich derart, dass sie ihre Beziehung oder die Familie gefährden, der Familienvater hat Schulden gemacht und vergräbt sich oder wird aggressiv, eine Frau gerät ständig mit Kolleginnen aneinander oder wird gemobbt, ein Liebessuchender findet keinen Partner oder etwas anderes geschieht. Ein Glückssucher entwickelt eine Besessenheit, sei es vom Sport oder von Gegenständen, oder ein Überanstrengter verliert den Sinn seines Tuns oder … die Möglichkeiten, sich in seinen Identitäten zu verheddern scheinen in den heutigen individualisierten Verhältnissen unendlich vielfältig zu sein.

      Hinzu kommt, dass der Einzelne sich selbst überlassen ist und mit vielen psychischen Probleme allein dasteht. Nicht etwa deshalb, weil ihm niemand aus seinem Umfeld helfen wollte, sondern vor allem deshalb, weil die Lösung eines Problems ebenso individuell zugeschnitten sein muss, wie es die Lebensumständen sind, aus denen das Problem entsteht. Hilfe ist daher nicht von jedermann zu erwarten und auch der Partner oder die besten Freunde können oft nur gut zwar gemeinte, aber meist nutzlose Ratschläge geben.

      Allein die Psychotherapie hat sich auf die vielfältigen psychischen Probleme spezialisiert, auf Probleme mit der Identität des Menschen, auf den Umgang mit den vagen Dingen und auf die Suche nach verlorenem Sinn.

      Welche Merkmale sollte eine Psychotherapie aufweisen, die mit den psychischen, den vagen Dingen umgehen kann? Als wesentliche Punkte sind hier Offenheit, Bezogenheit und Flexibilität im Umgang mit den Menschen zu nennen. Alle drei Merkmale stellen - im Unterschied zur Medizin - das Individuum ins Zentrum der Betrachtung.

      Offenheit

      Offenheit in der Psychotherapie bedeutet in erster Linie, sich nicht auf naturwissenschaftliches Denken einzuengen, also nicht in den Kategorien von Ursache und Wirkung zu denken, so wie Ärzte es tun. Ein Mediziner muss so denken. Er sucht danach, welcher Virus oder welche Substanz, welche chemische, biologische oder mechanische Einwirkung einen Leidenszustand bewirkt, um dann gezielt behandeln zu können. Der Mediziner geht detektiv vor, er fasst verschiedene Möglichkeiten ins Auge und schließt einzelne davon solange aus, bis er bei einer möglichst eindeutigen Ursache angelangt. Er bewegt sich von der Weite zahlreicher Möglichkeiten in die Enge einer Diagnose, auf die er sich schließlich festlegt und aus der er seinen Behandlungsplan ableitet.

      Der Psychotherapeut geht genau umgekehrt vor. Er sucht nicht nach Ursachen, sondern nach Zusammenhängen.

      Er bewegt sich von der Enge eines Symptoms in der Weite vieler Möglichkeiten. Er legt sich nicht fest, sondern bleibt ganz bewusst vage. Um das tun zu können, ist er auf Offenheit angewiesen. Offenheit bedeutet, nicht zu wissen. Offenheit bedeutet, bestenfalls Vermutungen anzustellen und erfordert die Bereitschaft, diese jederzeit zu prüfen und gegebenenfalls über Bord zu werfen.

      Ich möchte den großen Unterschied im Umgang mit Menschen, der zwischen Festlegung und Offenheit, zwischen Ursache und Zusammenhang, zwischen Wissen und Vagheit besteht, anhand eines kleinen Beispiels erläutern.

      Ein Mann befindet sich in einem schlechten Zustand. Er sagt, er sei völlig verwirrt, weil seine Partnerin fremdgehe. Er könne nicht schlafen, wache nachts schweißgebadet auf, könne sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren und verliere allmählich die Lebenslust. Gleichzeitig nehme er an sich aggressive Impulse wahr, die er manchmal nur schwer kontrollieren könne. Er fantasiere, sich oder jemand anderen umzubringen. Er sei seit Monaten in einer schweren Krise und wisse nicht, wie er mit seinen emotionalen Zuständen umgehen solle und wie er sich gegenüber der Partner verhalten solle. Soll er sich trennen oder um sie kämpfen?

      Was könnte ein naturwissenschaftlicher denkender Helfer, beispielsweise ein Arzt oder ein Psychiater, für diesen Menschen tun? Der Arzt würde den Puls untersuchen, die Blutwerte testen und Schlafmittel verschreiben, der Psychiater würde Psychopharmaka zur Beruhigung verabreichen. Diese Interventionen würden zwar den akuten körperlichen und psychischen Zustand des Patienten beeinflussen, aber sein Problem wäre nicht gelöst. Denn wie er mit der Situation und seinen heftigen Gefühlen umgehen und darüber hinaus, ob er sich trennen oder um die Beziehung kämpfen soll, das wüsste er längst nicht.

      Ein Psychotherapeut würde die Sache anders angehen. Er würde sich mit den Ängsten, Erwartungen und Sehnsüchten dieses Menschen befassen. Er würde erkunden, welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen, mit den starken Gefühlen


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