Psychotherapie - wozu und wie?. Mary Michael

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Psychotherapie - wozu und wie? - Mary Michael


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ahnt man es. Sie setzen sich einfach (innerlich) hin, legen sich hin, lassen sich hängen. Sie treten aus der fordernden Hülle ihres Ich heraus, sie lassen ihre ‘Persönlichkeit’ los, an der sie den Halt verlieren. Sie spielen nicht mehr mit, weil sie kaum Sinn in dem finden, was sie tagein tagaus tun. Sie lassen sich in das berühmte schwarze Loch fallen, auf das Künstler dringend angewiesen sind, wenn sie neue Einfälle brauchen. Im diesem Nichts und dem damit verbundenen Abstand zum bisherigen Alltag ruhen sie in scheinbarer Lähmung und anfangs unbemerkt sammeln sich neue Kräfte. Plötzlich erscheinen die bisher kleinen und unbedeutenden Dinge wichtig und seelisch nährend. Sinnliche Dinge, Dinge, die man nicht haben, nicht horten, nicht kaufen und nicht tauschen kann. Menschliche Nähe beispielsweise oder sinnliche Erlebnisse wie ein Kuss, der Wind auf der Haut, das unmittelbar spürbare Leben, das vorher im Urlaub und dann bitte schnell und effektiv zu geschehen hatte.

      Vom Sinn einer Sackgasse. Eine Frau berichtet.

      "Ich war eine sehr erfolgreiche Kunstmanagerin, arbeite Tag und Nacht, jahrelang wie verbissen auf ein Ziel hin. Aber ich war nicht glücklich. Freundschaften, Familie, Reisen, Hobbys, Erholung habe ich in meinem Job komplett vernachlässigt. Mir ist in den letzten Jahren die Begeisterung für alles verloren gegangen und ich bin sehr müde an allem geworden. Burn-out, Erschöpfungsdepression hieß die Diagnose. Dann habe ich alles hingeschmissen. Ein Jahr lang habe ich nichts getan, nichts Berufliches, nichts Vernünftiges. War wandern. Komme inzwischen auf der Yogamtte vom Hund in die Kobra. Spiele ab und zu Fußball. Gehe schwimmen. Lerne Schlagzeug. Lerne ab und zu Männer kennen. Ich hab mich inzwischen erholt. Nun, mit 42, bin ich dabei, mein Leben, die Dinge und mich neu zu sortieren."

      Auflehnungen der Psychen

      Depression als massenhafte Kundgebung zunehmender Lustlosigkeit am materiellen Leben, als Suche nach einem anderen Sinn? Zunehmende Erschöpfung als Auflehnung gegen ständig wachsende Leistungsanforderungen? Grassierende Ängste als Weigerung, sein Leben zunehmend frei von sozialen Kontakten führen zu müssen? Erleben wir eine neue Form des Aufstandes, einen Aufstand der Psychen?

      Nach Angaben des wissenschaftlichen Institutes der AOK aus dem Jahr 2013 haben Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seit 1994 um 80% zugenommen, wobei ein Krankheitstag die Unternehmen im Schnitt 400 Euro kostet. Die psychische Verweigerung kostet bereits viele Milliarden. Erste Firmen legen Gesundheitsprogramme auf, um Überstunden einzuschränken oder verbieten sie gleich ganz. Nicht die Gewerkschaft, nicht die Politik, die geschundene Psyche sorgt in individualisierten Zeiten für das Korrektiv durch eine Art massenhafter psychischer Rebellion der Vereinzelten.

      Aus systemischer Sicht sind Massenphänomene wie Hyperaktivität, Burn-out, Depression, Ängste und andere Entwicklungen deshalb keine Krankheiten, sondern Erscheinungen des Selbstregulierungsprozesses einer sich überfordernden Gesellschaft. Man kann sie als notwendige Störungen ansehen, die vor allem auf eine soziale und nicht auf eine therapeutische Bewältigung drängen.

      Zweierlei Sinn

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass psychische Störungen einen doppelten Sinn haben.

       Zum einen stellen sie Aufforderungen zum Identitätswechsel dar,

       zum anderen sind sie - sobald sie massenhaft auftreten - psychische Revolten gegen soziale Verhältnisse.

      Daher handelt es sich bei psychischen Störungen in den meisten Fällen nicht um krankheitswerte Zustände, sondern um ganz normale Erscheinungen aus dem Graubereich psychischer Verfassungen.

      Wenn es zutrifft, dass man sich über die Dimensionen der Psyche keinen Überblick verschaffen kann und wenn die Psyche dazu gezwungen und in der Lage ist, sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zurecht zu finden, wenn es keine einheitliche Persönlichkeit gibt, die es zu verwirklichen gilt, dann stellt sich die Frage, wie eine Psychotherapie aussehen kann, die den fragmentierten Psychen der Individuen Rechnung trägt? Nach allem was bisher gesagt wurde müsste dies eine Psychotherapie sein:

       die darauf verzichtet, die Psyche als Ganzes überblicken zu wollen,

       die weder mit Persönlichkeits- noch mit Charaktermodellen arbeitet,

       die sich weder auf Klassifizierungen noch auf Diagnosen stützt,

       die keine Behandlungsschemata anwendet,

       die sich keinen festen Begriff von Normalität oder psychischer Gesundheit macht,

       die darauf verzichtet, psychische Reifungsschritte, so genannt normale Entwicklungsphasen oder vorbildhafte Beziehungsformen zu definieren,

       und die traditionelle psychotherapeutische Begriffe wie Spaltung, Verdrängung und Behandlung, zumindest in ihrer bisherigen Bedeutung, beiseite legt oder neu definiert.

      Radikal am Problem orientiert

      Woran kann sich eine solche Psychotherapie orientieren, wenn sie bedeutende Teile des bisherigen strukturgebenden theoretischen Rüstzeugs beiseite legt? Was bleibt ihr, wenn sie auf die Pathologisierung des Graubereiches verzichtet und sich dort auf vage Weise den vagen Problemen zuwendet?

      Was der Psychotherapie zur Handhabung des Graubereichs dann bleibt, ist einzig und allein das Problem, das einen Klienten in die Praxis führt; und nur mit diesem Problem und dessen konkreter Bewältigung kann sie sich befassen.

      Das ist mehr als genug, wie ich im Folgenden darlegen möchte. Eine am Problem orientierte Psychotherapie würde – übertragen gesprochen - nicht fragen, wo jemand herkommt und sich nicht sonderlich dafür interessieren, wo jemand zukünftig ankommt. Sie würde sich statt dessen der Frage zuwenden, wo und wie jemand gegenwärtig festhängt und wie und womit ihm beim Weiterkommen geholfen ist. Ein Psychotherapeut wäre dann kein Führer, kein Wegweiser, kein Wissender – sondern jemand der hilft, den Karren aus dem Graben zu ziehen und wieder auf die Straße zu bringen, ohne wissen zu müssen und wissen zu wollen, wohin die Reise den Klienten schließlich führt.

      Ein solcher Psychotherapeut würde sozusagen als Pannenhelfer und nicht als Persönlichkeitsgestalter oder Lebenslehrer auftreten.

      Die Formulierung einer 'radikal am Problem orientierten Psychotherapie' ist mit ziemlicher Sicherheit missverständlich. Schon der Begriff 'Problem' erfreut sich in Zeiten grassierenden Machbarkeitglaubens keiner besonderen Wertschätzung. Statt von Problemen spricht man heute beschönigend von Lösungen und Herausforderungen oder versucht, Niederlagen in Erfolge zu verwandeln. Derartige Verdrehungen ändern natürlich nichts daran, dass nur dann nach einer Lösung gesucht wird, wenn ein Problem vorliegt und ebenso gilt, dass es für ein Individuum nur dann weitergeht, wenn es sein Problem bewältigt. Bewältigung bedeutet auch, das Problem zu verstehen.

      Das obige Zitat stammt von Prof. Rainer Sachse. Es weist auf die grundlegende Aufgabe eines Therapeuten hin, die darin besteht, etwas zu beobachten, das der Klient nicht beobachtet, nämlich wie sein Problem beschaffen ist. In die gleiche Richtung weist die folgende Bemerkung von Prof. Peter Fuchs.


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