Psychotherapie - wozu und wie?. Mary Michael
Читать онлайн книгу.vs. Kontrolle: In einem Extrem nimmt der Mensch die Gegebenheiten hin als Schicksal, dem er sich fügt, dabei sind Erleben und Verhalten geprägt von Gehorsam und Unterwerfung. Im anderen Extrem bestimmen Kontrolle und Auflehnung („Bekämpfen“) das Erleben und Verhalten.
3 Versorgung vs. Autarkie: In einem Extrem führen Versorgungs- und Geborgenheitswünsche zu starker Abhängigkeit und der Mensch wirkt passiv und anklammernd. Im anderen Extrem nimmt der Mensch keine Hilfe an und wehrt die Wünsche nach Hilfe ab, indem er sich als anspruchslos darstellt. In einer altruistischen Konfliktverarbeitung bekommen Andere die Versorgung, nach der er sich selbst unbewusst sehnt.
4 Selbstwert vs. Objektwert: Es bestehen Selbstwertkonflikte, die im einen Extrem als Minderwertigkeit erlebt werden, während Andere aufgewertet oder idealisiert werden. Im anderen Extrem werden kompensatorische Anstrengungen erbracht, die das Selbstbild bis hin zum Größenwahn stützen, während Andere abgewertet werden.
5 Über-Ich- und Schuldkonflikte: Im einen Extrem führt die Schuldübernahme bis zur masochistischen Unterwerfung. Im anderen Extrem sieht der Mensch die Schuld nur beim anderen, wobei ihm jegliche Form eines eigenen Schuldgefühls fehlt.
6 Ödipal-sexuelle Konflikte: Im einen Extrem nimmt der Mensch seine Erotik und Sexualität nicht wahr, im anderen Extrem bestimmt sie alle Lebensbereiche, ohne dass eine Befriedigung gelingt. Dies meint nicht sexuelle Funktionsstörungen anderer Herkunft.
7 Identitätskonflikte: Bei sonst hinreichenden Ich-Funktionen übernimmt der Mensch die Geschlechts-, Rollen oder Gruppenidentität anderer oder überspielt die Identitätsambivalenz kompensatorisch.
8 Fehlende Konflikt- und Gefühls- Wahrnehmung: Bei diesem Grundkonflikt werden Konflikte, Gefühle und Bedürfnisse bei sich und anderen nicht wahrgenommen oder sie werden durch sachlich-technische oder philosophische Beschreibungen ersetzt.
Ich denke, der Konfliktcharakter von Problemen wird hier deutlich genug aufgezeigt. Die Persönlichkeit ist multipel, und ihre Anteile können sich miteinander verheddern.
Wenn aber das Wesen der meisten psychischen Störungen, jedenfalls der Störungen im Graubereich, in inneren Konflikten besteht, dann stellt sich die Frage, wozu man zu deren Bearbeitung aufwendige Diagnosesysteme braucht und ob es nicht genügt, sich unmittelbar mit dem jeweiligen Konfliktgeschehen zu befassen. Braucht man komplizierte Persönlichkeitsmodelle oder genügt nicht ein relativ einfaches Konfliktmodell? Braucht man Krankheitsunterstellungen oder reicht es nicht, die konflikthaften Vorgänge als solche zu beschreiben? Verglichen mit einem Konfliktmodell erscheint die aufwendige Diagnostik der Psychotherapie völlig überzogen. Und wenn sie angewendet wird, läuft die praktische Behandlung zumeist doch auf den Umgang mit dem jeweiligen Konfliktgeschehen hinaus. Das zeigt beispielsweise das folgende Zitat.
“Klinische Beobachtungen legen nahe, dass Patienten mit Panikstörungen große Schwierigkeiten haben, Ärger und damit verbundene Gedanken zu tolerieren ... Furcht vor Ärger - zusammen mit bewussten und unbewussten Rachefantasien, die dieses Gefühl begleiten - löst oft Panikattacken aus.”2
Was hier als Schwierigkeit, Ärger zu akzeptieren beschrieben wird, lässt sich ebenso in den Begriffen Ich und Nicht-Ich, also in Begriffen der Identität, beschreiben. Das Ich wäre dann beispielsweise ein 'Angepasster' oder 'Harmonischer', das Nicht-Ich ein 'Rebell' oder ein 'Egoistischer'. Das Problem entsteht, weil sich das Nicht-Ich nicht gegen die vorherrschende Identität durchsetzen kann, es produziert daher Störungen, die sich als körperliche Symptome bemerkbar machen, eben durch Angst oder Schwindelanfälle. Man könnte etwas locker formulieren: Dem 'Harmonischen' wird angesichts der Rachefantasien des 'Egoistischen' Angst und Bange, er bekommt Panik.
Das folgende Zitat zu Persönlichkeitsstörungen - zur Erinnerung: jene Störungen, die noch vor Kurzem für kaum heilbar gehalten wurden - weist ebenfalls auf den ihnen zugrunde liegende Konfliktcharakter hin:
“Wenn Sie mit Menschen umgehen, denen eine Persönlichkeitsstörung zugeschrieben wird, dann sollten Sie sich klarmachen: Es handelt sich um Störungen der Beziehung, der Interaktion, nicht um eine Störung der Persönlichkeit.”3
Eine Störung der Interaktion wird ebenfalls durch einen inneren Konflikt verursacht. Therapeuten, die wie Prof. Sachse mit der Transaktionsanalyse arbeiten, unterscheiden diesbezüglich eine Motivebene, eine Schemataebene und eine sogenannte Spielebene. Auf der Motivebene möchte jemand Anerkennung 'für sich' als Mensch. Das Schema drückt aus, was jemand von sich denkt (ich bin wertlos) und was er von anderen denkt (niemand interessiert sich für mich). Die Spielebene beschreibt ein strategisches Verhalten, das etwa darin besteht, besondere Leistungen zu erbringen um anerkannt zu werden. Es liegt auf der Hand, dass der so agierende zwar Anerkennung findet, aber nicht 'für sich', sondern für seine Leistungen. Er bleibt hungrig, was immer er auch leistet, denn er fühlt sich nicht gemeint.
Beschreibt man das Geschehen in Identitätsbegriffen, dann tauchen das Ich als 'Macher' oder 'Vorspiegler' und das Nicht-Ich als 'Authentischer' oder 'Hunriger' auf. Es sind sozusagen zwei Personen im Spiel oder zwei Anteile der multiplen Persönlichkeit. Eine Person, die nach persönlicher Bestätigung hungert und eine andere Person, die vorgibt, etwas für andere zu tun und selbst nichts zu brauchen. Der Betroffene ist mit dem 'Macher' identifiziert, während er sein Bedürfnis nach persönlicher Anerkennung nicht bewusst wahrnimmt, es ist Nicht-Ich. Im Kontakt mit anderen Menschen werden dann Doppelsignale gesendet, die zu Irritationen führen, weil andere spüren, dass für die Leistung etwas erwartet wird und nicht wissen, wieso beispielsweise anerkennende Worte wie „gut gemacht“ keine Zufriedenheit hervorruft, sondern vielleicht sogar Ärger. Der Betreffende nimmt dann keinen Konflikt mit sich wahr, vielmehr gerät er in Konflikte mit anderen Menschen, die nicht desto trotz auf einen inneren Konflikt zurückzuführen sind.
Auch die Störung Bulimie lässt sich anhand von Identitäten beschreiben, was mir durch eine ausführliche Radiodokumentaion zum Thema deutlich wurde. Dann ist die Betreffende – es handelt sich in der Mehrzahl um Frauen – mit einer ängstlichen und angepassten Identität identifiziert, während die Identität, die trotz und gegen alle Mahnungen 'frisst' und 'kotzt' den Impuls zur Eigenständigkeit und die Suche nach einer unabhängigen Identität repräsentiert.
Im Grunde ist es gleichgültig, welche Beschreibung eine Psychotherapiemethode wählt, um störende psychische Vorgänge zu erklären, denn das ändert nichts am Konfliktcharakter des jeweiligen Geschehens. Mit welcher Methode auch immer konkret vorgegangen wird, wenn sie Erfolge zeigt, wird sie die Identität des von der psychischen Störung Betroffenen verändern.
Identität und der Umgang damit ist insofern der Dreh- und Angelpunkt gelingender Psychotherapie. Daher beschreibe ich in meiner Arbeit, die ich 'Erlebte Beratung' nenne, psychische Störungen ausschließlich mit Hilfe von Identitäten; und natürlich auch, weil ich der Überzeugung bin, dass sich psychische Störungen im Graubereich so ausreichend bearbeiten lassen. Das Thema Identität ist dabei derart grundlegend, dass ich mich ihm noch weiter zuwenden möchte.
1 Stavros Mentzos, Lehrbuch der Psychodynamik, 2010 Vandenhoeck &Ruprecht Göttingen, Seite 255
2 Panikfokussierte, psychodynamische Psychotherapie, hogrefe 2012,Seite 38
3 Rainer Sachse, Persönlichkeitsstörungen verstehen, Psychiatrie-Verlag Bonn 2010, Seite 12
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