Psychotherapie - wozu und wie?. Mary Michael

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Psychotherapie - wozu und wie? - Mary Michael


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      Psychiatrie und staatlich regulierte Psychotherapie suchen nun nach den ‘Ursachen’ des Burn-out. Die Psychiatrie spricht von ‘neurobiologischen’ Ursachen, ganz so, als wären Drüsen außer Kontrolle geraten und würden grundlos zuviel Cortisol produzieren. Die Psychotherapie wiederum sucht nach ‘persönlichkeitsbedingten’ Ursachen, ganz so, als hätten die Betroffenen nicht gelernt, richtig mit Stress umzugehen. Beide Ansätze verorten Ursachen beim Einzelnen, und dort setzen auch die Behandlungsstrategien an. Allerdings zeigt schon die Entstehung des Burn-out, dass der Einzelne keineswegs falsch reagiert. Es wird ja niemand annehmen, dass Menschen plötzlich verlernt haben, mit Stress richtig umzugehen oder dass ihre Hormondrüsen plötzlich massenhaft aus dem Ruder laufen.

      Ein Vergleich mit der Medizin zeigt das Absurde der psychologischen Ursachenzuweisung. Wenn von 100 Arbeitern in einer Asbestfabrik 30 Lungenkrebs bekommen, wird kein vernünftiger Arzt die Ursache dafür beim Individuum verorten. Es werden auch keine ‘Resilienzforschungen’ betrieben um herauszufinden, warum 70 Arbeiter nicht krank wurden und was die kranken 30 von ihnen lernen könnten. Wenn aber von 100 Angestellten 30 an Burn-out erkranken, dann wird unterstellt, ihre individuelle psychische Verfassung stelle die Ursache dar und daher müsse an ihrer Stressfestigkeit gearbeitet werden.

      Die Angestellte einer Krankenkasse berichtet.

      “Wir haben da eine Abteilung, die wird im ganzen Haus gefürchtet. Niemand will da arbeiten, weil der Arbeitsanfall riesig ist und die Gruppe völlig unterbesetzt. Man schiebt dorthin Leute ab, die man loswerden will. Von den 30 Leuten, die dort arbeiten, kommt nur einer damit klar, der ist unkaputtbar. Die anderen geben innerhalb von Monaten auf und suchen sich eine andere Arbeitsstelle.”

      Wenn man schon nach einer Ursache für weltweit grassierenden Burn-out sucht, dann ist diese am ehesten in der Gesellschaft zu finden und nicht in den Hirnen oder Psychen der Einzelnen. Arbeit ohne spürbaren Sinn, Stress ohne Ende, Ziele anstreben ohne jemals dort ankommen und für eine Weile ausruhen zu können - die heutige Lebensweise macht die Menschen krank. Nach Aussagen der WHO werden stressbedingte Erkrankungen in 10 Jahren weltweit die am meisten verbreiteten Krankheiten sein, schon jetzt wird der volkswirtschaftliche Schaden in Europa auf 100 Milliarden Euro jährlich geschätzt.

      Nun zurück zur eingangs angekündigten Frage. Welches soziale Problem könnte auf diese Weise gelöst werden? Das Problem zunehmender Überforderung durch steigende Arbeitsbelastung und wachsende Flexibilitätsansprüche!

      So gesehen sind so genannt Burn-out-Kranke die eigentlich Gesunden. Sie verteidigen den Wert von Entspanntheit, von Gelassenheit und von menschlichen Beziehungen gegen das Diktat der Ökonomie. Sie lehnen sich gegen eine kapitalistische Wirtschaftsweise auf, in der Menschen zu Humankapital werden. Ausgebrannte trotzen der gesellschaftlich propagierten, erzwungenen und sinnentleerten Hetze nach mehr - mehr Geld, mehr Macht, mehr Status. Einer Hetze von der keiner weiß, zu welchem Ziel sie eigentlich führen soll. Zu mehr Glück und Zufriedenheit führt sie jedenfalls nicht, das hat sich längst gezeigt.

      Das Burn-out-Problem ist nicht allein ein individuell-psychisches, sondern vor allem ein gesellschaftlich-existentielles. Wer nach Jahren therapeutischer Begleitung wieder im Normalzustand landet drückt genau dies aus. Vom Burn-out geheilt sagen, sie hätten den Sinn im Leben verloren, wären im Hamsterrad gelaufen und erst der Zusammenbruch habe sie zur Besinnung gebracht. Massenhafte Erschöpfung stellen gesunde Reaktionen des körperlich/psychischen Systems und keinesfalls Krankheiten dar, für die eine ICD-10 Ziffer zu vergeben ist.

      Die systemische Frage „Welches soziale Problem kann man erkennen, das durch die Entwicklung gelöst wird?“ ist insofern aufschlussreich, weil es der Soziologie bei auffälligen Phänomenen nicht um individuelle Problematiken geht, sondern um die Folgen gesellschaftlicher Zusammenhänge, also um die Reaktionen vieler Menschen auf konkrete soziale Umstände. Die Entwicklung massenhafter psychischer Symptome bekommt so einen Sinn und eine positive Wertung.

      Wendet man die systemische Frage beispielsweise auf revolutionäre Entwicklungen an, dann stellt sich die Sache recht einfach dar. Revolten und Aufstände wollen das Problem der Unterdrückung lösen. Streiks wollen das Problem zu geringer Bezahlung oder schlechter Arbeitsbedingungen lösen. Wie aber lösen Individuen ihre Lebensprobleme in einer Welt, in der es keine Arbeiterklasse und kaum noch Gewerkschaften gibt, einer Zeit, in der Arbeitsverhältnisse auf Zeit geschlossen werden, in der Verantwortung weder Königen noch Diktatoren noch Banken noch sonst wem angelastet werden kann, in der man letzten Endes selbst schuld ist, weil man ja gewählt hat?

      In der individualisierten Welt können massiv auftretende psychische Symptome die Funktion sozialer Auflehnung übernehmen.

      Dem Vereinzelten, der niemanden in der äußeren Welt findet, gegen den er sich auflehnen kann, auch weil er die Anforderungen dieser Welt zu seinen eigenen gemacht hat, bleibt nur die psychische Auflehnung, die Auflehnung gegen sich selbst. Wenn dies massenhaft geschieht, wird die psychische Revolte zu einer sozialen Revolte.

      Auf den sozialen Sinn psychischer Probleme kann die staatlich regulierte Psychotherapie mit ihren Ziffern und Diagnosen nicht eingehen, sie muss ihn im Grunde leugnen, weil sie sonst Probleme mit der Klassifizierung bekäme. Wer ist 'gerechtfertigt' depressiv und wer 'ungerechtfertigt'?

      Die staatlich regulierte Psychotherapie nimmt daher den scheinbar unvollkommenen Einzelnen im therapeutisch verkürzten Blick, sie hat ihn gewissermaßen aus gesellschaftlichen Bezügen enthoben. Selbst so uralte und in jeder Gesellschaft zu beobachtende Erscheinungen wie der Drang nach außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, sei es durch Süchte oder Komasaufen oder erotische Exzesse oder anderes außergewöhnliches Verhalten, erscheint aus psychotherapeutischer Sicht problematisch und erhält Krankheitswert.

      Würde man Revolutionäre (beispielsweise des arabischen Frühlings oder der friedlichen Revolution der DDR) einer psychotherapeutischen Untersuchung zuführen, würden übereinstimmende psychische Auffälligkeiten festgestellt. Etwa, dass es bei den Revolutionären der ersten Reihe besondere familiäre Konstellationen gibt, einen Vater, der sich autoritär aufführte oder eine hilflose Mutter, ein Kind, das schon damals von Macht und Umsturz träumte. Das Bedürfnis nach Auflehnung würde als seelische Rebellion gegen Autoritäten oder Eltern diagnostiziert, verursacht durch frühkindliche Umstände. Die Revolutionäre würden mit einer Ziffer versehen und therapeutisch behandelt.

      ADHS

      Vergleichbares geschieht. Die psychotherapeutische Diagnose bezüglich hyperaktiver Symptomatik lautet keinesfalls: „Es handelt sich um Kinder, die keine angemessene Möglichkeit haben, emotionale Spannungen und Aufregungen in körperliche Bewegung umzusetzen"; und der Behandlungsvorschlag lautet nicht: „Schafft großflächig gefahrenfreie Bewegungsmöglichkeiten und seelische Freiräume für Kinder“. Nein, die Diagnosen lautet ‘Hyperaktivität’ und die Behandlung geschieht vorwiegend durch das Medikament Retalin.

      Aus soziologischer Sicht kann man das Phänomen ADHS anders beschreiben. Dann werden Kinder massenhaft auffällig um der Gesellschaft zu zeigen, dass ihnen nicht nur der körperliche Bewegungsspielraum, sondern auch wichtige Elemente der Kindheit genommen werden. Dass sie teils schon im Vorschulalter mit Terminkalender leben, dass sie körperlich eingeschränkt, psychisch überfordert und seelisch vereinsamt werden. Dass sie durch den Zerfall der Familien meist ihren gestressten Eltern ausgesetzt sind und keinen Kontakt zu entspannten Großeltern haben. Etc.

      Hat die staatlich regulierte Psychotherapie auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen hingewiesen und es abgelehnt, diese Kinder zu pathologisieren? Nein, sie hat sich beflissen am Versuch der Wegbehandlung des Phänomens beteiligt. So gesehen besteht geradezu ein gesellschaftlicher Bedarf an dem Phänomen Hyperaktivität. Wenn erst einmal 50% aller Kinder solche Symptome zeigen, wenn sie nicht mehr still dasitzen und sich den Kopf mit teils sinnlosem Wissen vollstopfen, dann wird das Phänomen genügend stören, um andere und bessere Lösungen dafür zu finden. Psychotherapeutische werden es nicht sein und pharmakologische auf Dauer auch nicht.

      Depressionen

      Welches soziale Problem wird durch


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