Die verbannte Prinzessin. Heinrich Thies

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Die verbannte Prinzessin - Heinrich Thies


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die dreistellige Chiffre mit einer »1« handelt es sich um einen Mann, beginnt sie mit einer »2« ist eine Frau gemeint. Die Zahl »100« ist Herzog Ernst August vorbehalten, »200« Herzogin Sophie. Hinter der Ziffer »120« verbirgt sich Königsmarck, hinter der Zahl »201« Sophie Dorothea.

      Der erste erhaltene Brief datiert vom 1. Juli 1690 und entstammt der Feder Königsmarcks, der in dieser Zeit wieder als Oberst im Dienste des hannoverschen Herzogs mit seinem Regiment gegen die Franzosen nach Flandern ausgerückt war.

      Aus der Ferne war Kanonendonner zu hören. Die Kämpfe auf dem Feld von Fleurus in Brabant hatten begonnen. Fürst von Waldeck, Befehlshaber der Alliierten, hatte in den frühen Morgenstunden des 1. Juli 1690 seine Truppen auf den Höhen am Ligny-Bach zusammengezogen. Die Franzosen erwiderten das Feuer. Den Celler Soldaten, die gemeinsam mit den Holländern Aufstellung genommen hatten, sausten die Geschosse bereits um die Ohren.

      Im Feldlager Königsmarcks war es noch ruhig. Nur das dumpfe Grollen aus der Ferne ließ ahnen, dass etwa zwei Tagesmärsche entfernt eine Schlacht tobte. Unter den Soldaten des neunten hannoverschen Infanterieregiments im Feldlager von Ath im niederländischen Hennegau herrschte gespannte Stille.

      Müdigkeit machte sich breit. Der Soldat, der vor dem Zelt Königsmarcks Wache hielt, gähnte.

      »Ich möchte keinesfalls gestört werden, habt ihr mich verstanden?«, hatte der Oberst befohlen. Niemand sollte zu ihm vorgelassen werden. Er sei mit dringenden Angelegenheiten beschäftigt.

      Der Wachposten hörte, wie sein Vorgesetzter mit der Feder übers Papier kratzte und Wörter buchstabierte. Der Oberst schrieb einen Brief. Und es fiel ihm wie üblich schwer. Selbstverständlich war der Brief in Französisch abzufassen, alles andere wäre vulgär gewesen. Da Königsmarck Französisch nie als Schriftsprache, sondern nur über das Ohr gelernt hatte, machte ihm das Schreiben Probleme. So schrieb er immer erst eine Fassung, die er von einem verschwiegenen Gewährsmann korrigieren ließ, um dann noch einmal alles fein säuberlich abzuschreiben.

      Es war warm im Zelt, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Zum Glück war er endlich zum Ende gekommen. Aber würde seine »Brünette« auch verstehen, was er ihr sagen wollte? Seufzend nahm er das Blatt Papier in die Hand und überflog den Brief noch einmal:

       »Ath, 1. Juli 1690

       Madame! Es steht mir gegenwärtig zum Äußersten, und ich weiß kein anderes Mittel mich zu retten, als ein Wort von Ihrer unvergleichlichen Hand. Wenn ich so glücklich wäre, eines zu erhalten, wäre ich wenigstens ein wenig getröstet. Ich hoffe, Sie sind barmherzig genug, mir diese Gunst nicht zu verweigern. Und da Sie es sind, die meine Leiden verursacht, ist es nur gerecht, dass Sie sie auch lindern. Es liegt also nur bei Ihnen, mich in dem Kummer zu trösten, den die verwünschte Trennung mir bereitet. Ich werde daran auch sehen, ob ich auf das bauen kann, was Sie mir einige Male in Güte gesagt haben. Wenn ich nicht an eine Person schriebe, für die ich ebensoviel Achtung wie Liebe empfände, würde ich Worte finden, die meine Leidenschaft besser ausdrückten. Aber ich unterdrücke sie aus Furcht, Sie könnten sie mir übel nehmen, und bitte Sie nur, mich ein wenig in Ihrer Erinnerung zu bewahren und versichert zu sein, dass ich bin Ihr untertäniger Sklave.«

      Der Brief gefiel ihm nicht. Gern hätte er Sophie Dorothea geschrieben, welche Bilder und Gefühle ihm durch den Kopf gingen, wenn er an sie dachte. Aber er war sich nicht sicher, wie sie dies aufnehmen würde. Ach, es gab vieles, dessen er sich nicht sicher war. Es ärgerte ihn, dass Sophie Dorothea ihm zuletzt in der Öffentlichkeit so oft die kalte Schulter gezeigt hatte. Wenn sie in der Oper neben ihrem Gatten in der herzoglichen Loge saß, tat sie, als würde sie ihn nicht kennen. Mochte sie ihm auch erklären, unter welchem Druck sie stand und wie sie selbst litt. Es schmerzte ihn, und er schrieb ihr fast jeden Tag, welche Qualen ihm diese zur Schau gestellte Zurückweisung bereitete. Da er mit seinem Regiment in diesem Sommer nicht mehr zum Einsatz kam, nutzte er die Zeit zum Schreiben. »Süße Dicke«, nannte er sie, »Meine Schöne.«

      Auch im Herbst fanden die Schlachten der Verbündeten gegen die Franzosen ohne Ernst Augusts Soldaten statt. Die Unsicherheit im Heer war groß: Irgendetwas musste im Welfenland geschehen sein, dass den hannoverschen Truppen unsichtbare Zügel anlegte. Keine Frage: Im Leineschloss wehte ein neuer Wind. Das war selbst für Königsmarck im fernen Flandern spürbar.

      Eine irritierende Zeit der Heimlichkeit war angebrochen – nicht nur auf dem Feld der Liebe, sondern auch auf dem Feld der Politik.

      Ungeheuerliches bahnte sich an: Während Philipp und seine Leute die Franzosen noch als Feinde betrachteten, die es vernichtend zu schlagen galt, plante sein oberster Dienstherr bereits, ein Geschäft mit ihnen zu machen, ein äußerst lukratives Geschäft. Herzog Ernst August war dabei, heimlich aus der Allianz des Kaisers auszuscheren, um mit dem Sonnenkönig ins Gespräch zu kommen. Der Welfenfürst signalisierte dem König in Versailles, dass er bereit sei, einen Neutralitätsvertrag mit ihm zu schließen, verlangte dafür aber einen hohen Preis. Zwischen dem französischen Gesandten Benoit Bidal Baron d’Asfeld und dem hannoverschen Unterhändler Abt Luigi Ballati begannen im Mai 1690 in Hamburg die Geheimverhandlungen. Am Ende ließ sich der Herzog seinen Bündnisbruch und Frontenwechsel mit 500 000 Talern honorieren. Zehntausend Taler davon fielen dem Ehepaar Platen zu, das durch diskrete Vermittlerdienste entscheidenden Anteil am Zustandekommen des Geschäfts hatte.

      500 000 Taler waren der Preis dafür, dass Ernst August seine Truppen zurückzog. Weitergehende Wünsche Frankreichs konnte er vorerst nicht erfüllen. Ludwig XIV. wollte Hannover mit Schweden zu einer »dritten Partei« zusammenführen, die die französischen Truppen auch aktiv unterstützte. Der Plan, scheiterte am Widerstand Schwedens, doch Ernst August arbeitete beharrlich weiter daran – darauf bauend, dass ihm eine engere Kooperation mit den Franzosen noch mehr Taler bescheren werde.

      Mit seinem Alleingang stellte sich Ernst August nicht nur gegen den Kaiser, sondern auch gegen seinen eigenen Bruder in Celle. Bisher hatte er alles getan, um sich beide gewogen zu halten. Denn Ernst August verfolgte ein Staatsziel, das fast alles andere in den Schatten stellte: die Erlangung der Kurwürde, die Aufnahme im höchsten fürstlichen Stand im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die Mitgliedschaft in diesem Club der erlauchtesten Herrscher Europas galt als Ehre und erhöhte die Stellung im Spiel der Mächtigen. Schließlich oblag es dem Kurfürstenkollegium nicht nur, den König zu wählen, sondern auch zu beraten und zu kontrollieren. Nach den Bestimmungen der Goldenen Bulle hatten die Kurfürsten jedes Jahr vier Wochen nach Ostern zusammenzukommen, um mit dem Kaiser über den Frieden und das Landeswohl zu debattieren. Von den Gerichtsprivilegien einmal ganz abgesehen. Danach konnte weder ein Kurfürst noch seine Untertanen vor ein auswärtiges Gericht zitiert werden. Die Kurwürde garantierte den Fürsten also rechtliche Souveränität. Und sie verschaffte ihnen mit den Berg-, Zoll-, Münz- und Judenschutzregalien auch wirtschaftliche Vorteile.

      Entscheidendes Gewicht bei der Verleihung der Kurwürde fiel dem Kaiser zu. Deshalb hatte Ernst August ihn auch in den Türkenkriegen nach Kräften unterstützt – sogar unter Verzicht auf die dafür fälligen Subsidien, also Ausgleichszahlungen. Doch Ernst August sah sich getäuscht. Obwohl er Leopold I. mit Soldaten gegen die Türken und Franzosen zur Seite stand, obwohl der Kaiser ihm seine Unterstützung zugesichert hatte, war er seinem Ziel in der Kurfrage nicht näher gekommen. Ernst August gewann immer mehr den Eindruck, dass Leopold ihn hinhielt. Dabei wäre er notfalls sogar zum Katholizismus übergetreten, wenn der papsttreue Kaiser sich an seiner protestantischen Konfession gestört hätte.

      Verärgert war er auch über seinen eigenen Bruder. Zuerst hatte Georg Wilhelm feierlich erklärt, dass er ihn beim Kampf um die Kurwürde vorbehaltlos unterstützte. Jetzt machte der Heideherzog plötzlich eigene Ansprüche geltend – und verlangte viel Geld für einen denkbaren Verzicht. Ernst August sah daher keine Veranlassung mehr, mit seinem Bruder auf dem Schlachtfeld in einer Linie zu marschieren. Während des Jahres 1690 ließ er seine Truppen zwar noch bis zum Spätherbst in Flandern stehen, um den Schein zu wahren. Aber er sorgte dafür, dass sie nicht mehr aktiv am Kriegsgeschehen teilnahmen.

      Wer jedoch meinte, der Herzog habe sich mit seinem heimlichen Kurswechsel


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