Blutgeschwister. Thomas Matiszik
Читать онлайн книгу.der Mann, der offenbar Peer hieß. „In spätestens einem halben Jahr hätte er sein erstes Länderspiel gemacht. Genau so einen Stürmer kann unser Team für die EM gebrauchen. Es ist eine Tragödie.“
Jan Kogler war am Abend des ersten Heimspiels der Schwarzgelben verschwunden. Da sein Team am Tag nach dem Heimsieg gegen Berlin trainingsfrei hatte und Jan allein in seiner 5-Zimmer-Penthouse-Wohnung am Phoenix-See lebte, fiel erst 36 Stunden nach dem Spiel auf, dass Jan irgendetwas zugestoßen sein musste. Der Päckchenbote hatte am Montagmorgen vergeblich bei ihm geklingelt und die Lieferung bei Jans Nachbarn, Charly Börning, abgegeben. Charly war seit circa 25 Jahren Besitzer einer Dauerkarte für die Südtribüne, umso stutziger machte es ihn, dass Jan nicht öffnete. Er kannte die täglichen Abläufe seines Nachbarn, irgendetwas war da faul. Er klingelte und hämmerte gegen die Wohnungstür, nichts rührte sich. Er traute dem 21-Jährigen keine Eskapaden zu, dafür war ihm die Karriere zu wichtig. Jan hatte den Absprung vom Landesligateam in Siegen bis in die höchste deutsche Spielklasse geschafft und auf Anhieb einen Stammplatz erkämpft. Er wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn er all das leichtfertig aufs Spiel setzte. Wobei: Man konnte sich nie sicher sein. Die vielen ‚Spielergroupies‘, wie Charly sie nannte, schwirrten um Jan und seine Teamkollegen herum wie die Motten um das Licht. Die meisten von ihnen würden alles, wirklich alles tun, um mit einem der Profis eine Affäre zu haben. Sie erhofften sich dadurch einen deutlichen Push ihrer eigenen Karrieren, auch wenn die einzige Fähigkeit darin bestand, dass die allermeisten von ihnen wirklich ,extrem lecker‘ aussahen, wie Charly abschließend einwarf. Nachdem er eine gefühlte Ewigkeit geklopft hatte, fragte Charly sich, wer ihm eventuell Auskunft über den Verbleib von Jan Kogler geben könnte. Da fiel ihm ein alter Bekannter ein. Andreas Wiezollek war Spielerberater. Er betreute aktuell zwar keine Bundesligaspieler, kannte aber Hinz und Kunz in der Szene. „Andy, alte Säge, wie isses?“ Charly versuchte, so lässig wie möglich rüberzukommen. Er wusste selber nicht warum, schließlich war der Anlass seines Anrufes ja durchaus ernst. „Charly, bist du das? Ich bin gerade mitten in einem wichtigen Meeting. Kann ich dich in, sagen wir, zwanzig Minuten zurückrufen?“ „Es geht um Jan. Ich glaube, ihm ist was zugestoßen, Andy. Zu Hause scheint er jedenfalls nicht zu sein; keine Ahnung, wie lange ich schon hier stehe und an seine Tür klopfe. Aber mach mal ruhig, vielleicht ist ja alles nur falscher Alarm!“
In diesem Moment kam Piotr Brzenski, der Hausmeister des Apartmentblocks, die Treppe hinauf. „Brzenski, Sie kommen wie gerufen“, jubilierte Charly, „Sie haben doch sicher einen Generalschlüssel, oder? Jan Kogler ist wie vom Erdboden verschwunden … oder haben Sie ihn eventuell gesehen?“ Brzenski sah Charly einigermaßen entgeistert an. „Warum kannst du den Jungen nicht einfach in Ruhe lassen? Wahrscheinlich liegt er irgendwo im Bett mit einer dieser Kurvas und lässt mal richtig Dampf ab! Ist doch noch lange kein Grund, so einen Alarm zu machen und seine Wohnung zu öffnen!“
Charlys Handy klingelte. Es war Wiezollek. „Ich bin kurz aus meinem Meeting raus, Charly. Das ist wirklich mehr als seltsam. Normalerweise hätte Jan sich längst beim Trainerstab melden sollen. Trainingsfrei war gestern, heute war für zehn Uhr eine 90-minütige Ausdauereinheit angesetzt. Und ich habe gerade noch mit Paolo gesprochen. Die beiden sind ja nicht nur auf dem Spielfeld unzertrennlich. Paolo hat seit dem Duschen am Samstag nichts von Jan gehört.“ „Von wegen ‚im Bett mit einer dieser Kurvas‘“, schrie Charly dem Hausmeister ins Gesicht, „ich geh jetzt zur Polizei und melde ihn als vermisst. Ihm ist irgendetwas Schlimmes passiert. Da geh ich jede Wette ein!“
Ein Bauer hatte den leblosen Körper Jan Koglers in der Jauchegrube seines Hofes gefunden. Als Charly die Polizeiwache stürmte, waren zwei Streifenwagen und ein Notarzt auf dem Weg nach Dortmund-Lichtendorf, wo Jan Kogler mit durchtrennten Achillessehnen buchstäblich in der Scheiße steckte und nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war. Die Wiederbelebungsmaßnahmen, die der Notarzt einleitete, waren nur bedingt von Erfolg gekrönt. Jans Körper war mit Hämatomen übersät, der Täter hatte Jans Kopf kahl geschoren, ihn komplett entkleidet und mit roter Farbe das Wort SCHULDIG auf seinen Bauch geschrieben. Wie lange Jan in der Jauchegrube gelegen hatte, konnte der Arzt nicht präzise sagen, Fakt war jedoch, dass er nur wenig später tot gewesen wäre. Die mangelnde Sauerstoffzufuhr hatte dazu geführt, dass sich Jan Kogler in einem akut lebensbedrohlichen Zustand befand. Er würde nie wieder Fußball spielen können, das stand so gut wie fest.
Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich. Dr. Dorothea Heinemann, eine der besten Neurochirurginnen des Landes, betrat das Zimmer und bemerkte Peers und Guddis besorgte Mienen.
„Manchmal“, so Dr. Heinemann, „entwickeln Komapatienten einen stärkeren Überlebenswillen als Patienten, die noch bei Bewusstsein sind. Das sieht man ihnen verständlicherweise nicht an, aber Studien aus den USA belegen das.“ Peers Antwort kam prompt. „Sie müssen uns keinen Sand in die Augen streuen, Frau Doktor. Aber ich sage Ihnen, warum ich glaube, dass der Mann da irgendwann wieder zu sich kommen wird: Er trägt die richtigen Farben!“ Guddi verdrehte die Augen, während Dr. Heinemann versuchte, ihre Geringschätzung gegenüber Peers gefährlichem Halbwissen charmant zu überspielen. „Würde er für die Blauen spielen, gäbe es kein Erwachen aus diesem Zustand? Ist es das, was du sagen willst, Peer?“ Guddi hatte eine völlig andere Theorie. „Er wird leben, weil er die Nationalmannschaft im nächsten Jahr zum Titel schießen wird. Und dann ist es völlig wurscht, welche Farben er trägt. Aber ich sag dir noch was anderes: Jan Kogler hat vermutlich seinen Peiniger gesehen und ist noch am Leben. Solange das der Fall ist, wird der Täter versuchen, ihn endgültig ins Jenseits zu befördern. Dass er die Jauchegrube überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass er uns zum Täter führen wird. Wir müssen ihn schützen, indem wir ihn töten …!“ Dr. Heinemann bekam Schnappatmung und setzte an zu protestieren, als Peer sie sanft in den Arm nahm und auf einen der beiden Stühle in Jan Koglers Krankenzimmer drückte. „Sehen Sie es meiner Kollegin bitte nach, Frau Doktor. Die letzten Monate haben offenbar an ihren Nerven gezerrt. Aber seien Sie unbesorgt: Niemand will Jan Kogler töten – also jedenfalls keiner von uns beiden!“ Peers schiefes Lächeln vermochte Frau Dr. Heinemann nicht wirklich zu beruhigen. „Ich muss jetzt los, zur nächsten Visite. Bitte halten Sie sich nicht mehr allzu lange hier auf. Der Patient braucht nach wie vor Ruhe!“
Behutsam, aber doch mit Nachdruck, schob Modrich seine Kollegin aus dem Krankenzimmer. Peer verstand sehr wohl, was Guddi gemeint hatte. Sie hielt es für keine schlechte Idee, Jan Kogler offiziell sterben zu lassen. Immerhin konnten sie davon ausgehen, dass der Täter, wo auch immer er sich befand, den Presserummel mitbekam. Die Meldung vom Tod Jan Koglers würde dann, in Guddis idealer Welt, den Täter in Sicherheit wiegen und aus seiner Deckung locken. Aber Peer war überzeugt, dass genau das der falsche Weg war und die Dinge noch weiter verschlimmern würde. „Ist dir eigentlich klar“, zischte er Guddi an, „was hier los ist, wenn wir ihn sterben lassen? Die Presse wird das ausschlachten, seine Fans werden das Krankenhaus so lange belagern, bis sie einen Beweis für seinen Tod geliefert bekommen. Und ich würde meine Hand auch nicht dafür ins Feuer legen, dass bei seinem Verein alle diskret mit so einer heiklen Angelegenheit umgehen können. Da muss nur einer anfangen zu plaudern, und schon bricht unser ganzes Kartenhaus zusammen. Glaub mir, du kriegst für so eine Aktion einfach keine hundertprozentige Rückendeckung von den entscheidenden Stellen. Vergiss das also ganz schnell. Wir werden ihn rund um die Uhr bewachen lassen. Mach dir keine übermäßigen Sorgen!“ Guddi wollte widersprechen, aber Peer gab ihr zu verstehen, dass es keinen Sinn machen würde und schob sie noch einen Deut kräftiger Richtung Ausgang.
2
Die endlosen Weiten der Danakil-Wüste lagen vor ihr. Joe Sanderson blickte voller Ehrfurcht in Richtung Horizont, wo langsam die Sonne glutrot unterging. Die letzten Monate waren hart, aber sie hatte es geschafft. ‚Queen of Kath‘ wurde sie überall genannt. Ihr Ruf hatte sich in jeder Bevölkerungsschicht des armen Landes durchgesetzt und dafür gesorgt, dass man in Äthiopien vor kaum jemandem größeren Respekt hatte als vor Joe Sanderson. Ein fein verästeltes Netzwerk aus Informanten, geschmierten Politikern und Industriellen, die alle ein großes Stück vom Kath-Kuchen abbekamen. Joe wusste, wie sie ihre Kunden und ihre Hintermänner bei Laune halten musste. Darüber hinaus hatte Joe sie alle in der Hand: Ihre Sucht nach Kath war größer als die Angst, von der