Blutgeschwister. Thomas Matiszik
Читать онлайн книгу.Sanitäter konnten für Joe nichts mehr tun. Eine 9mm-Kugel hatte ihre Halsschlagader sauber durchtrennt, innerhalb weniger Sekunden war sie einfach verblutet. Sie wurde in eine Decke gehüllt und auf einer Trage hinter die Bühne geschafft. Die verzweifelten Wiederbelebungsmaßnahmen der Sanitäter mussten nach knapp drei Minuten eingestellt werden, Joe hörte einfach nicht auf zu bluten.
In der Halle waren circa zwei Dutzend Fans kollabiert, außerdem gab es Unzählige, die nicht aufhören konnten zu schreien. Die Hysterie war greifbar, der Veranstalter musste mehr Sanitätspersonal und Ärzte aus den umliegenden Kliniken rufen, damit die betroffenen Menschen behandelt werden konnten und die Panik nicht weiter um sich griff. Noch verstand niemand, was eigentlich genau passiert war. Niemand hatte einen Schuss gehört, nur die Musiker und Leute hinter der Bühne wussten um den Zustand von Joe. Das Publikum hatte bloß mitbekommen, dass sie gestürzt und von der Bühne getragen worden war. Einige drängten deshalb nach vorn zum Bühnenrand und riefen nach ihr. Nur mit Mühe konnte die Security verhindern, dass sie backstage gelangten. Es war ein einziges Chaos, das sich draußen vor der Halle fortsetzte, weil viele Fans völlig aufgelöst davonliefen und es nicht einmal mitbekamen, wenn sie eine Straße überquerten.
Die junge Frau, die den ersten Notruf bei der Polizei absetzte, stand unter Schock und brachte lediglich gestammelte Sätze heraus. Dass jedoch irgendetwas höchst Dramatisches passiert sein musste, war nicht zu verleugnen. Etwa fünfzehn Minuten später trafen die ersten Streifenwagen an der Halle ein. Ein Absperren des Tatorts war mehr als schwierig, weil immer noch zahllose Fans vor und teilweise auch auf der Bühne lagen und ihrer Trauer freien Lauf ließen.
„Wer ist denn heute hier aufgetreten? Michael Jackson?“ Polizeiobermeister Kai Leitner zuckte hilflos mit den Schultern, wusste er doch wirklich überhaupt nicht, wo er anfangen sollte. „Lass uns bitte schnell die Bühne absperren und den Leichnam inspizieren“, schlug Lars Kruschek, sein Kollege und Vorgesetzter, vor. „Jetzt bloß keine Fehler machen. Wenn ein Promi umkommt, zerreißt die Pressemeute doch immer als Erstes die Sicherheitskräfte, die den Tod nicht verhindern konnten. Fakten zählen da wenig bis nichts. Wenn es sich um ein Gewaltverbrechen handelt, rufen wir sofort die Kollegen von der Mordkommission, das ist ’ne Nummer zu groß für uns! Und jetzt komm mit, hilf mir und versuch, so wenig Schaden wie möglich anzurichten!“ Leitner unterdrückte ein Gähnen und stapfte seinem Kollegen hinterher.
Man hatte Joe Sanderson in ihrer Garderobe auf eine Couch gelegt und mit einem Laken bedeckt. Ihr Gesicht war weiß wie die Wand, so viel Blut hatte sie innerhalb kürzester Zeit verloren. Kruschek zog nur kurz das Laken zur Seite, betrachtete die Schusswunde unter dem linken Ohr der Sängerin und gab seinem Kollegen zu verstehen, dass hier nun schnellstens die Mordkommission gerufen werden musste. „Frag bitte direkt nach Kommissar Modrich. Peer Modrich. Der Typ ist wirklich gut, ein bisschen durchgeknallt, aber ein brillanter Kriminalist. Wenn du den nicht bekommst, brauchen wir zumindest seine Partnerin hier, Gudrun Faltermeyer. Und jetzt gib Gas, ich halte hier solange die Stellung.“
Kruschek wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er war langsam echt zu alt für den Scheiß. Noch knapp achtzehn Monate, dann würde er in Pension gehen und mit seiner Frau und seinem Hund nach Norwegen ziehen. Sehnsüchtig blickte er aus dem schmalen Fenster.
3
Es waren noch 3,5 Kilometer bis zum Ziel. Langsam, aber sicher bemerkte Peer, dass er an seine Grenzen kam. Dabei hatte er sich mit voller Absicht bei diesem Lauf angemeldet. Einer der wenigen Halbmarathons, die abends stattfanden. Die Strecke um den Dortmunder Phönix-See war dafür wie gemalt, die hohen Laternen spendeten ein angenehmes Licht. Allerdings hatte das Wetter nicht mitspielen wollen. 25 Grad bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit. ‚Ein Hoch auf den Klimawandel‘, dachte Peer, als er plötzlich ein fieses Zwicken in seiner linken Wade spürte. Der Muskel schien nun endgültig zuzumachen. Die wenigen Male, die Peer von einem Wadenkrampf heimgesucht wurde, fanden alle mitten in der Nacht statt. Ein harmloses Drehen im Bett von links nach rechts, dann dieses unaufhaltsame Ziehen, das sich erst zu einem beißenden, dann reißenden Schmerz entwickelte, bis Peer der Schrei förmlich auf den Lippen saß. In solch einem Moment hielt er kurz die Luft an, wartete, bis das schlimmste Reißen überstanden war, um dann wieder langsam auszuatmen und die Wade durch das behutsame Hochziehen des Fußes zu dehnen. Es war eine echte Wohltat, wenn der Schmerz nachließ. Allerdings spürte Peer noch Tage später das Ziehen in der Wade und ging ein wenig unrund. Beim Laufen oder gar in einem Wettkampf war ihm das noch nie passiert. Jetzt aber bahnte sich die Premiere an. Und das, obwohl er sich wirklich vorbildlich auf diesen Halbmarathon vorbereitet hatte. Peer hatte den Vorgaben seines Laufprogramms minutiös Folge geleistet, Läufe mit hoher und geringer Intensität wohl dosiert und kurze Tempoläufe ebenso eingestreut wie Steigungen. Dabei war sein Puls immer im aeroben Bereich geblieben. Kurzum: Er war fit wie seit Jahren nicht mehr und drohte nun dennoch schlappzumachen.
Die Anfeuerungen der Zuschauer an der Strecke nahm er nur noch gedämpft wahr, er versuchte vielmehr, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Wenn er jetzt ständig ,Bloß kein Krampf, bloß kein Krampf‘ dachte, würde er schneller schreiend zu Boden gehen, als es ihm lieb war. Es waren keine drei Kilometer mehr. Karl Resslers Gesicht, seine letzte hässliche Fratze, bevor er starb, war das, was Peer nun auf der Strecke hielt. Er hatte seinen bislang härtesten Fall gelöst, warum sollte ein läppischer Wadenkrampf ihn ausgerechnet jetzt aus der Bahn werfen können? Hatte er gerade wieder das Wort ,Wadenkrampf‘ gedacht? Verdammt, schon war dieses unangenehme Ziehen wieder da, nur diesmal wollte es nicht mehr verschwinden. Peer biss die Zähne zusammen, als sein Handy klingelte, das er zur Zeitmessung an seinem linken Oberarm befestigt hatte. Warum er sich für die Titelmelodie aus Die Straßen von San Francisco als Klingelton entschieden hatte, wusste er nicht, in diesem Moment war es ihm allerdings ziemlich peinlich, weil natürlich alle um ihn herum mitbekamen, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie sank, sogleich aber sein Handy aus der Halterung nahm und das Telefonat mit einem „Auahallo“ entgegennahm. „Wer ist da? Was, woher zum Teufel haben Sie meine Nummer?“ Peer saß wie ein begossener Pudel auf dem Boden und beobachtete die unregelmäßigen Zuckungen in seiner linken Wade. Plötzlich musste er lachen. „Kommissar Modrich, sind Sie noch dran? Hallo?“ Modrich hatte Tränen in den Augen, sein Lachanfall wollte und wollte nicht aufhören. Kopfschüttelnd liefen die letzten Läufer an ihm vorbei, selbst die 72-jährige Dame, die als älteste Teilnehmerin bereits vor dem Lauf geehrt worden war. Modrich starrte unentwegt auf seine Wade, die mittlerweile nicht mehr zuckte, sondern wie verrückt kribbelte – der Wadenkrampf schien sich zu verabschieden. Langsam sammelte Peer sich wieder, konnte es aber weiterhin nicht fassen: „Leichner – oder wie Sie auch immer heißen – Sie wagen es, mich kurz vor dem Ziel meines Halbmarathons anzurufen? Wissen Sie, was ich mit Ihnen mache, wenn ich Sie zwischen die Finger kriege? Und wer zum Teufel hat Ihnen meine Handynummer gegeben?“ „Das war Ihr Chef!“, kam es zurück. „Es gibt einen Mord im Musikbusiness. Sagt Ihnen der Name Joe Sanderson etwas?“,Heppner, dieses qualmende Stück Hundescheiße‘, dachte Peer. Es war an der Zeit, diesem Korinthenkacker eine Lektion zu erteilen. „Joe Sanderson? Sagten Sie gerade wirklich Joe Sanderson? Was ist mit ihr?“ „Sie ist das Mordopfer, Kommissar Modrich. Das ist es ja, was ich Ihnen bereits die ganze Zeit erzählen wollte. Sie wurde während eines Auftritts erschossen!“ Modrich versuchte aufzustehen. Der Wadenkrampf hatte allerdings noch nicht ganz aufgegeben, er war sogar zu neuem Leben erwacht. Peer zog sein linkes Bein hinter sich her wie ein Kriegsversehrter und hielt dabei sein Handy an sein vom Schweiß getränktes Ohr. „Joe Sanderson ist tot? In der Westfalenhalle? Also während eines Auftritts? Wow! Gut, ich beeile mich. Rufen Sie bitte noch mal im Dezernat an und verlangen nach Gudrun Faltermayer. Die soll mich doch netterweise in einer halben Stunde zu Hause abholen. Danke!“
Die Blicke der verbliebenen Zuschauer hafteten auf Peer. Alle anderen Teilnehmer hatten wohlbehalten das Ziel erreicht, offenbar wollte man den armen Kerl mit dem Wadenkrampf doch noch dazu ermuntern, die letzten Meter zu überstehen. Rhythmisch fingen die Leute an zu klatschen, im Dunkeln waren sie kaum noch zu sehen. Plötzlich bekam Peer die zweite Luft und lief langsam los. Nach nicht einmal hundert Metern war das flaue Gefühl in der Wade vollends verflogen, sodass Peer dem Ziel zwar als Letzter, aber dennoch glücklich entgegensteuerte. Joe Sanderson war wichtig, diesen Halbmarathon