Blutgeschwister. Thomas Matiszik
Читать онлайн книгу.hatte zwar geduscht, die Zeit, sich optisch wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen, hatte er allerdings nicht gehabt. Als er Guddi die Tür öffnete, trug er lediglich eine frische Unterhose und ein Paar graue Socken, die ursprünglich mal weiß waren und aus deren Vorderseite die viel zu langen Nägel von Peers Großzehen herauslugten. „Igitt“, war Guddis spontaner Kommentar beim Anblick ihres Kollegen. „Gib mir bitte zwei Minuten. Muss nur noch frische Klamotten anziehen und die Zähne putzen!“ „Denk vielleicht besser über eine gute Gesichtscreme nach. Du siehst aus wie nach ’nem Schlaganfall … ach ja, und wie lange haben deine Fußnägel keine Schere mehr gesehen?“ „Ich hab dich auch lieb“, schallte es aus dem Badezimmer zurück. „Hast du schon genauere Infos zur Tat?“ Guddi hob die Augenbrauen. Das war wieder so typisch! Vor gerade mal ein paar Minuten war sie über den Mord an Joe Sanderson informiert worden. Wie um alles in der Welt sollte sie bis jetzt neue Erkenntnisse gesammelt haben? Manchmal machte sie sich Sorgen um ihren Kollegen. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie sich den alten, ständig verkaterten und von Morbus Meulengracht zerschundenen Peer Modrich zurückwünschte. Seit er dem Fitnesswahn verfallen war und ihm seine Lauf-App mehr bedeutete als ein feuchtfröhlicher Abend mit seinen Freunden oder Kollegen, war Peer Modrich schon etwas seltsam geworden. Das Sprichwort ‚Mens sana in corpore sano‘ traf auf Peer definitiv nicht zu. Er las Bücher über Low-Carb-Ernährung, stellte sich zweimal täglich auf die Digitalwaage, machte um Gesottenes und Gebratenes einen Riesenbogen und hörte plötzlich Musik von Element of Crime und Rio Reiser. Was war da los?
„Und? Hast du oder hast du nicht?“ Peer tänzelte die Treppe hinunter, in der rechten Hand seine Sneaker, in der linken einen Kamm, mit dem er sich unbeholfen die frisch geföhnten Haare frisierte. „Wenn du mich fragst, wird die Suche nach dem Täter extrem langwierig sein. Ich kenne allein in meinem Bekanntenkreis mindestens ein halbes Dutzend Leute, die Joe Sanderson die Trennung von Crusade nie verziehen haben und ihr die Beulenpest an den Leib wünschten. Und unter uns: So gut sie bei Crusade war, so belanglos sind ihre Songs seit Beginn ihrer Solokarriere geworden. Oder was meinst du?“ „Lass uns bitte im Auto weiterquatschen, Peer“, entgegnete Guddi etwas gequält, „die Kollegen von der Spurensicherung sind bereits in der Halle, alle warten nur noch auf uns. Und nein: Es gibt bislang noch keine neuen Erkenntnisse. Der Täter scheint nach dem tödlichen Schuss in der Menschenmenge aufgegangen zu sein und die Panik ausgenutzt zu haben, um das Weite zu suchen. Liegt ja auch nahe.“
4
Wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, war Joe Sanderson auf der Bühne in sich zusammengesunken. Das Kapitel war nun abgeschlossen. Ein für alle Mal. Er hatte seine Schwester gerächt, so wie sie es sich vor langer Zeit geschworen hatten. Er zitterte noch immer am ganzen Leib. Es war sein erster Mord. Es war sogar seine erste Straftat. Es gab nichts zu bereuen, sie hatte es verdient. Das Chaos nach dem Schuss hatte es ihm, wie geplant, leicht gemacht zu verschwinden. Während er nun, im Schutze der Dunkelheit, dasaß und eine Zigarette rauchte, hoffte er, dass seine Schwester ihre Rolle überzeugend spielen und die Bullen auf eine falsche Fährte locken würde.
5
Vor der Halle herrschte das reinste Chaos. In Tränen aufgelöste Fans von Joe Sanderson redeten wild gestikulierend auf Polizei- und Sicherheitskräfte ein. Sie hätten schließlich ein Recht darauf, zu erfahren, was mit ihrem Idol passiert war. Nur sehr langsam bahnten sich Guddi und Peer den Weg durch die aufgebrachte Menge. Als Guddi den Motor ausschaltete, polterten einige weibliche Fans mit den Fäusten auf die Motorhaube. Dabei blickten sie derartig entrückt, dass Peer und Guddi sich in einer Szene von Ein Zombie hing am Glockenseil wähnten.
„Meine Fresse, gleich knallt’s! Finger weg von der Karre!“ Peer war außer sich. Guddi musste ihn zurückhalten, er wäre sonst sicherlich ausgestiegen und hätte sich einen antiken Faustkampf mit diesen wild gewordenen Furien geliefert. „So sehr scheinst du dich dann doch nicht geändert zu haben“, bemerkte Guddi süffisant. „Lass uns jetzt ganz ruhig aussteigen und diese Hyänen einfach ignorieren, ja? Da drin wartet Arbeit auf uns und wir werden bei diesem Mord nicht so viel Zeit bekommen wie bei einem ,herkömmlichen‘.“ „Was meinst du damit, dass ich mich doch nicht geändert habe? Ach scheiß drauf, hast recht. Langsam wird mir allerdings klar, warum Joe Sanderson so einen gewaltigen Erfolg hatte!“ Guddis Gesicht verwandelte sich in Sekundenschnelle. Mit zusammengekniffenen Augen und emporgerecktem Kinn drehte sie sich zu Peer und spuckte ihm ein „Ich höre“ entgegen. „Och bitte! Im Ernst? Du etwa auch?“ Peer wandelte am Ohrfeigenbaum, das stand außer Frage. Dass seine Partnerin, die sonst eine so toughe, mit messerscharfem Verstand ausgestattete Frau war, ausgerechnet auf den Weichspülpop einer Joe Sanderson stehen sollte, war ihm nicht nur vollends entgangen, er hätte es vermutlich auch ignoriert, hätte er davon gewusst. „Okay, sorry, ich wollte dich nicht verletzen. Guddi, seit wann …?“ „Schon immer. Wirklich. Sie ist meine Heldin, seit den ersten Tagen bei Crusade. Dass du und andere Kollegen sie die irische Variante von Helene Fischer titulieren, geht mir definitiv gegen den Strich, das kannst du mir glauben. Aber lassen wir das jetzt. Wir müssen ermitteln. Wenn wir das Schwein erwischen, das das hier getan hat, werde ich ihn höchstpersönlich verhören.“ „Woher willst du wissen, dass es ein Mann war?“ Guddi sah Peer mit einem geringschätzigen Blick an. „Eine Frau würde so etwas nie tun. Nie! Joe Sanderson hat mit ihren Texten so vielen Frauen aus der Seele gesprochen. Sie war das Sinnbild der modernen, starken Selfmade-Frau. Ich meine, sie hat sich von all der unsachlichen Kritik nach der Trennung von Crusade nie beirren lassen. Sie hat selber nie schlecht über ihre alte Band geredet, im Gegenteil! Versteh mich nicht falsch: Sie war und ist sicher keine Heilige. Aber ihr Beitrag für die moderne Popmusik ist immens und wird vermutlich erst in ein paar Jahren wirklich gewürdigt werden!“
Peer Modrich war selten sprachlos. Jetzt war der Moment gekommen. Offenbar kannte er seine Kollegin nicht so gut, wie er gedacht hatte. Für Guddi war mit dem Mord an Joe Sanderson eine Welt zusammengebrochen. Ab sofort musste er sich mit beißenden Kommentaren über Joe Sanderson, aber auch über andere Bands und Künstler definitiv zurückhalten, wenn er sich weiterhin auf die bedingungslose Zuverlässigkeit von Gudrun Faltermeyer verlassen wollte. Klingt unprofessionell, war es auch. Joe Sanderson war in ihrer Trivialität kaum zu toppen. Und singen konnte sie auch nicht wirklich. ‚Schluss jetzt‘, dachte Peer. Diese talentfreie Person war sein nächster Fall geworden. Der Mord an ihr war niederträchtig, der Täter hatte die Öffentlichkeit gesucht und dabei weitere Opfer riskiert. Nicht auszudenken, wenn eine noch größere Panik ausgebrochen wäre. Insofern war die Ermittlung des Täters oder der Täterin nun etwas, in das sich Peer mit akribischer Wucht stürzen würde, dabei musste er seine Abneigung gegen das Opfer beiseiteschieben.
6
Jan Kogler war noch immer am leben. Wie konnte das sein? Er hatte es zu Ende bringen wollen, die Spuren verwischen, so wie er es sich vorgenommen hatte. Plötzlich war da dieses Kind. Ein Mädchen? Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur, dass er Kindern nichts und niemals etwas hätte antun können. Hals über Kopf war er verschwunden, hatte gehofft, dass die Jauchegrube den Rest besorgen würde. Das normale Leben, der Alltag würde dafür sorgen, dass er wieder einen klaren Kopf bekam. Und einen Plan, wie er seinen Auftrag zu Ende bringen könnte. Sich nur noch kurze Zeit unterm Radar bewegen, um dann zuzuschlagen. Alles würde gut werden, ganz bestimmt.
7
Der Backstagebereich der Westfalenhalle war mittlerweile hermetisch abgeriegelt worden. Natürlich hatten sich in der Zwischenzeit Dutzende von Reportern vor der Halle eingefunden, um völlig aufgelöste Fans zu interviewen und zu fotografieren. Sex sells, aber Mord noch viel mehr. Beim größten Kölner Privatsender Prime TV lief der Mord an Joe Sanderson bereits als Breaking News in Dauerschleife. Bodo Gleiwitz, der Starreporter des Senders, streute sogar das Gerücht, dass es sich um einen terroristischen Akt handeln könnte. Einfach unverantwortlich. Es war also höchste Zeit, dass Peer und Guddi das Feuer löschten, bevor es sich zu einem Flächenbrand auswuchs.
In dem Moment, als Modrich die Garderobe