Blutgeschwister. Thomas Matiszik
Читать онлайн книгу.die bedingungslose Offensive zu gehen. Bei Kilometer 16 sprang sie urplötzlich hinter einem Baum hervor, riss Peer zu Boden und ihm sogleich die Laufkleidung vom Leib. Sie selber trug nichts außer Hotpants und einer durchsichtigen Bluse. Peers Puls stockte, als Melanie Handschellen unter ihrer Bluse hervorzauberte. ,Jetzt ist sie völlig durchgeknallt‘, dachte Peer, als sie sein bestes Stück unsanft aus der Laufhose wurschteln wollte. Er stieß sie mit aller Kraft von sich und versetzte ihr noch einen kräftigen Tritt in den entblößten Hintern. Melanie heulte wie ein kleines Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Und obwohl Peer kurz darüber nachdachte, die Arme zu trösten – immerhin hatte er mit ihr mehr Orgasmen gehabt als mit allen anderen Frauen zuvor – ließ er Melanie liegen und lief seinen Halbmarathon zu Ende.
„Was für eine blöde Kuh“, hörte er sich plötzlich sagen. Hocherfreut stellte er fest, dass er weder sabberte noch großartige Schmerzen verspürte. Ein leichtes Zischen begleitete seine Worte, ansonsten war er wieder der Alte. Es war Zeit, sich dem aktuellen Fall zu widmen. Immerhin musste ein flüchtiger Attentäter dingfest gemacht werden. Zu Hause angekommen duschte er schnell, zog sich um und machte sich auf den Weg ins Präsidium.
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Gesine Heppner war in den letzten zehn Jahren zur Queen of Charity aufgestiegen. Es gab kaum eine Benefizgala oder Wohltätigkeitsveranstaltung in Nordrhein-Westfalen, bei der die aparte Gattin von Polizeichef Kurt Heppner nicht ihre Finger im Spiel hatte. Sie war die Strippenzieherin im Hintergrund, die fast alle Prominenten aus Film, Fernsehen und Sport in ihrer Kontaktliste hatte. Sie wusste alles über ihre „Klienten“, sogar die sexuellen Vorlieben waren ihr nicht entgangen, besonders dann nicht, wenn Alkohol und Koks zu vorgerückter Stunde, wenn alle Kameras ausgeschaltet waren, die Hemmschwellen bei fast allen Beteiligten auf Grasnarbenniveau sinken ließen. Tatsächlich, und das war eine durchaus bemerkenswerte Erkenntnis für Gesine, zeigten die meisten Promis erst bei einem Alkoholpegel von über zwei Promille ihr wahres Gesicht.
Dieses Wissen hatte sie anfangs mit niemandem geteilt, sogar – oder besonders – nicht mit Kurt. Ihr Mann war selten vor 22 Uhr zu Hause und hatte dann wenig bis gar keine Muße mehr, sich mit seiner Gattin über die sexuellen Befindlichkeiten von Schauspielern oder Bundesligaprofis auszutauschen. Die einzigen beiden Menschen, die ihr heikles Wissen teilten, waren Heike und Frank Wiegand, die beiden anderen Gesellschafter ihrer Charity-Firma. Die „Celebs for Masses GmbH“ hatte ihren Sitz in Dortmund und war in den vergangenen fünf Jahren zu einem Unternehmen mit zweistelligem Millionen-Jahresumsatz herangewachsen. Was zu Beginn des neuen Jahrtausends aus der Idee einer gelangweilten Polizeichef-Gattin entstanden war, hatte sich bis heute zu einem Marktführer in Sachen Promivermarktung gemausert. Heike und Frank kannte Gesine noch aus der gemeinsamen Studienzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, wo sie vergeblich versucht hatten, ihr Jurastudium zu absolvieren.
In ihrem Büro im Dortmunder Süden gab es einen Aktenschrank, der durch mehrere Zahlenschlösser gesichert war. Einmal im Monat änderten die drei die Zahlenkombinationen, um die größtmögliche Sicherheit für ihre Klienten zu gewährleisten. Der Inhalt des Aktenschranks war an Brisanz kaum zu überbieten: Es gab dutzendweise Foto- und Filmmaterial, das belastender und kompromittierender nicht hätte sein können. All dieses Material stammte in erster Linie von Journalisten, die mit der Celebs for Masses GmbH einen Pakt eingegangen waren, dass von all dem, was sie da gefilmt und abgelichtet hatten, niemals etwas an die Öffentlichkeit dringen durfte. Diesen Vertrag hatten alle ausnahmslos unterzeichnet, nachdem Gesine, Frank und Heike mit den in flagranti ertappten Promis einen Deal ausgehandelt hatten, der sowohl der Firma als auch den Journalisten einen nicht zu verachtenden monatlichen Obolus bescherte, mit dem alle Beteiligten gut leben, vor allem aber gut schlafen konnten. Sollte der Inhalt dieses Aktenschranks jemals an die Öffentlichkeit gelangen, würde das einer Denunziation biblischen Ausmaßes gleichkommen. Besonders eingefleischte Fußballfans wären gezwungen, ihr komplettes Weltbild neu zu ordnen.
Als Gesine erwachte, drang ein beißendes Gemisch aus Harz und Moder in ihre Nase. Viel schlimmer aber war die lückenlose Dunkelheit, die sie umschloss. Der Versuch, sich zur Seite zu drehen, scheiterte kläglich. Sie lag in einer Art Kiste, die oben, unten, links und rechts kaum mehr als eine Handbreit Platz bot. Die nackte Panik erfasste sie. Jemand hatte sie offenbar lebendig begraben. Ihr Überlebensinstinkt, der die Logik des menschlichen Verstandes eliminiert hatte, befahl ihr, nach Leibeskräften „Hilfe“ zu schreien. Nach dem dritten Versuch war Gesine bereits so kurzatmig, dass sie dieses Bemühen einstellte, um Kräfte zu sparen. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie niemand hörte und dass sie vermutlich nur noch wenige Stunden zu leben hatte, wenn derjenige, dem sie das zu verdanken hatte, nicht innerhalb kürzester Zeit nach ihr sehen würde. Und warum sollte das irgendjemand tun? Offenkundig trachtete man ihr nach dem Leben, offenkundig hatte jemand großes Interesse daran, dass ihr Mann Witwer wurde. Bevor Gesine sich über das Motiv des Täters Gedanken machte konnte, bemerkte sie, wie etwas, ungefähr in Höhe ihres linken Fußknöchels, zuerst an ihrer Hose nagte und dann unter dieselbe krabbelte. Es fühlte sich an wie ein sehr großes Insekt. Als das Krabbeltier ihr Knie erreicht hatte, versuchte Gesine es mit der linken Hand zu treffen. Leider hatte sie kaum Platz zum Ausholen und verfehlte ihr Ziel. Nun hatte es das Tier offenbar auf Gesines Kniekehle abgesehen. Dort verharrte es, Gesine spürte einen feinen Stich und ein unangenehmes Gefühl der Wärme in sich aufsteigen. Sie versuchte zu strampeln, um dieses ekelige Wesen irgendwie loszuwerden, aber je mehr sie sich bewegte, um so weiter schien sich das Gift, das dieses Biest ihr injiziert hatte, in ihrem Körper zu verteilen. Ihr wurde in schneller Abfolge heiß und kalt, ihre Kehle schnürte sich in kürzester Zeit zu, die absolute Ausweglosigkeit ihrer Situation ließ in Gesine zusätzlich Panik aufkommen. Ein allerletztes Mal setzte sie zum Schreien an, als sie plötzlich Schritte vernahm. So schnell wie sie diese wahrgenommen hatte, so schnell verstummte das Geräusch auch wieder. Hatte sie mittlerweile schon Halluzinationen? Kalter Schweiß rann ihr die Wangen hinunter. Das Tierchen in ihrer Hose schien Gefallen an ihrer Kniekehle gefunden zu haben und vergrub sich immer tiefer in Gesines Haut. Ihr wurde speiübel, gleichzeitig fühlte sie sich auf seltsame Weise federleicht. Nichts schien mehr von Bedeutung. Ihre Zeit schien abgelaufen.
Mit einem lauten Knarren stemmte jemand den Deckel des Sarges auf. Ihr Gefängnis wurde mit frischer Luft geflutet, gierig sog sie das unverhoffte Lebenselixier ein, bis sie wieder einigermaßen klar denken konnte. Das schwache Licht, das die Dämmerung in ihr Gesicht warf, blendete sie für einen kurzen Moment, sie blinzelte und blickte in ein vermummtes Gesicht. Dann wurde sie gepackt und aus dem Sarg geschleudert, sodass sie bäuchlings im Morast landete. Die Person machte sich an Gesines Hose zu schaffen, um im nächsten Augenblick mit der flachen Hand auf die Stelle zu schlagen, wo wenige Sekunden zuvor noch das Tier sein Unwesen getrieben hatte. Die Gestalt erhob sich, verharrte für einen kurzen Moment, um dann triumphierend auszurufen: „Dornfingerspinne! Dass es diese Biester in unseren Breiten überhaupt noch gibt. Da bin ich ja gerade richtig gekommen, oder was meinst du, liebe Gesine?“
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„Mist, ich habe Heppner vergessen!“ In fünf Minuten würde Modrich wieder im Präsidium sein, als er sich das plötzlich sagen hörte. In letzter Zeit hatte Peer sich des Öfteren dabei ertappt, Selbstgespräche zu führen. Meist geschah das in Situationen, in denen er nicht alleine war. Im Gegenteil: Der Supermarkt war so ein Ort, an dem es fast regelmäßig passierte. Bisweilen bemerkte er, dass er argwöhnisch beobachtet wurde, während er „Wo zum Geier steht noch mal die Kokosmilch?“ von sich gab. Wurde er langsam seltsam? Was würde in ein paar Jahren sein? Würde er Supermärkte nur noch dann aufsuchen, um Selbstgespräche zu führen …? Der Gedanke daran war gleichermaßen surreal wie verstörend.
Er musste Heppner zumindest anrufen und informieren, dass er erst morgen zu ihm kommen würde. Heppner nahm ab, noch bevor das erste Klingelzeichen ertönte. „Modrich, wo in Dreiteufelsnamen stecken Sie? Ich drehe hier noch durch. Ich hatte mich auf Sie verlassen! Sie sind hoffentlich auf dem Weg?“ Modrich musste kurz Luft holen, er hatte immer noch das Gefühl, als sei ein ICE über sein Gesicht gerollt. Er sprach so langsam wie möglich, damit sein Chef ihn auch wirklich verstehen konnte: „Sorry, Chef, ich hatte leider keine Zeit bislang. Ich war kurz