Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo
Читать онлайн книгу.rel="nofollow" href="#ulink_d862a621-5372-55dd-ad85-e3bc6ea0b44b">5 zeigt, dass eine Evolution gemeint ist, die nicht auf Erden, sondern irgendwo im Jenseits stattfindet, weiß Gott wo. In diesem Fall wäre nirvana ein Ort oder eine Welt auf dem Weg zu anderen Welten, und die Seele würde sich von einer Welt in eine andere fortentwickeln, zum Beispiel von der Erde in das nirvana und vom nirvana in etwas jenseits davon. Dies ist eine völlig europäische Auffassung, und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie von den Buddhisten vertreten wurde. Die indische Vorstellung ist die, dass die Evolution hier stattfindet und selbst die Götter, wenn sie ihre Gottheit überschreiten und die Befreiung erlangen wollen, auf die Erde herabkommen müssen. Es sind die westlichen Spiritualisten und andere, die glauben, dass die Geburt auf Erden ein Stadium des Fortschritts von einem niedrigeren Ort als die Erde sei; und war man einmal auf Erden, kehrt man nicht zurück, sondern geht in eine andere Welt ein und bleibt dort solange, bis man in eine weitere, noch bessere Welt „weitergehen“ kann, usw. usw.... Und auch diese „vollkommene soziale Ordnung auf Erden“ ist zweifellos keine buddhistische Idee – die Buddhas träumten nie von etwas Derartigem –, ihr Anliegen war, den Menschen zum nirvana zu verhelfen, nicht zu einer vollkommenen Ordnung auf Erden. All dies steht in reinem Widerspruch zum Buddhismus.
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Nirvana kann nicht das Ende eines Pfades sein, nach dem es nichts mehr zu erforschen gibt, und gleichzeitig nur ein Aufenthaltsort oder vielmehr der Beginn des Höheren Pfades, bei dem noch alles zu entdecken ist... Die Lösung könnte darin bestehen, dass es das Ende des niederen Pfades durch die niedere Natur und der Beginn der Höheren Evolution ist. In diesem Fall würde dies genau mit der Lehre unseres Yoga im Einklang stehen.
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Auf welche Weise unterscheidet sich dieses Absolute6 vom Absoluten des Vedanta? Oder diese Befreiung von der mukti des Vedanta? Wenn dies der Fall wäre, hätte es den ganzen Streit zwischen Buddhismus und den vedantischen Schulen nie gegeben. Es muss sich um eine neue Version des Buddhismus handeln oder aber um eine spätere Entwicklung, in welcher der Buddhismus sich auf die Advaita-Lehre zurückführte.
Doch ist diese Höhere Evolution wirklich eine buddhistische Idee oder nur eine europäische Version von nirvana?
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Es besteht kein Unterschied zwischen dieser Beschreibung7 und dem, was mit der Seele gemeint ist, außer dass es als „unpersönlich“ bezeichnet wird – doch wird offensichtlich hier das Unpersönliche als Gegenteil von dem verstanden, das von Name, Körper und Form abhängig ist und die Persönlichkeit genannt wird. Besonders Europäer, aber auch Leute ohne philosophische Kenntnisse können leicht diese äußere Persönlichkeit mit der Seele verwechseln und würden dann den Ausdruck Seele nicht der ungeborenen und ewig bestehenden Wesenheit zuerkennen. Würden sie diese dann als Spirit oder Selbst – als atman betrachten? Die Schwierigkeit aber ist, dass die alten Buddhisten die Auffassung vom atman ebenfalls ablehnten. Damit wäre also alles offen. Die nihilistisch-buddhistische Lehre ist einfach und verständlich, nämlich, dass es keine Seele gibt, lediglich ein Bündel oder einen Strom von kontinuierlichen samskaras, der sich ständig erneuert. Doch diese Mahayana-Geschichte scheint eine Art freier und geraffter Kompromiss mit dem Vedanta zu sein.
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In den meisten Yogasystemen gibt es Elemente, die auch in diesem Yoga vorkommen, daher ist es nicht überraschend, wenn wir auch etwas im Buddhismus finden. Doch solche Vorstellungen wie eine Höhere Evolution jenseits von nirvana, scheinen mir nicht buddhistisch zu sein, es sei denn, es handelt sich um eine Seitenlinie des Buddhismus, die etwas entwickelte, das von ihrem Urheber so interpretiert wurde. Ich habe nie von etwas Derartigem als Bestandteil der Lehre des Buddha gehört – er sprach immer von nirvana als dem Ziel und lehnte metaphysische Diskussionen darüber ab.
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Die Jain-Philosophie befasst sich mit der individuellen Vervollkommnung. Unsere Bemühung ist von ganz anderer Art. Wir wollen das Supramental als eine neue Macht herabbringen. So wie das Mental ein dauernder Zustand im Menschheits-Bewusstsein der Gegenwart ist, wollen wir eine Menschheit erschaffen, in welcher das Supramental ein bleibender Bewusstseinszustand sein wird.
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III. Die Gita
Es stimmt nicht, dass die Gita die ganze Grundlage der Botschaft Sri Aurobindos enthält, denn sie scheint der Beendigung des Geborenwerdens in der Welt als höchstem Ziel oder zumindest als letztem Höhepunkt des Yoga zuzustimmen; sie misst der Idee einer spirituellen Evolution keine Bedeutung bei, ebensowenig der Idee der höheren Ebenen und des supramentalen Wahrheits-Bewusstseins sowie seines Herabbringens als Mittler der vollständigen Umwandlung des Erdenlebens.
Die Idee des Supramentals, des Wahrheits-Bewusstseins, kommt gemäß Sri Aurobindos Interpretation bereits im Rig-Veda vor und an einer oder zwei Stellen der Upanishaden; doch in den Upanishaden findet man sie lediglich als Keim in der Auffassung des Erkenntnis-Wesens, vijnanamaya purusa, welches das mentale, vitale und physische Wesen übersteigt; im Rig-Veda ist die Idee zwar im Prinzip enthalten, jedoch nicht entwickelt, und in der hinduistischen Tradition ist selbst das Prinzip nicht mehr zu finden.
Dies ist unter anderem, verglichen mit der hinduistischen Tradition, das Neue in der Botschaft Sri Aurobindos, nämlich die Vorstellung, dass die Welt weder eine Schöpfung der Maya ist, noch lila, ein Spiel des Göttlichen, noch ein Geburtenkreislauf in der Unwissenheit, dem wir zu entkommen haben, sondern ein Bereich der Manifestation; in diesem findet eine fortschreitende Evolution der Seele und der Natur in der Materie statt und von der Materie durch Leben und Mental zu dem, was sich jenseits des Mentals befindet, bis sie die vollständige Enthüllung von Sachchidananda im Leben erreicht hat. Dies ist die Grundlage dieses Yoga, die dem Leben neuen Sinn gibt.
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Dies ist kein eigentlicher Widerspruch; die beiden Stellen8 weisen auf zwei verschiedene Bewegungen im Yogasystem der Gita hin, deren krönende Bewegung die vollständig Hingabe ist. Man hat zuerst die niedere Natur zu erobern, das Selbst der niederen Bewegung mit Hilfe des höheren Selbstes zu befreien, das sich in die göttliche Natur erhebt, gleichzeitig bringt man all sein Tun einschließlich des inneren Yoga-Wirkens dem Purushottama, dem transzendenten und immanenten Göttlichen, als Opfer dar. Sobald man sich in das höhere Selbst erhoben hat, sobald man das Wissen erlangt hat und frei ist, vollzieht man die vollständige Hingabe an das Göttliche, lässt jedes andere dharma hinter sich und lebt allein durch das göttliche Bewusstsein, den göttlichen Willen und die göttliche Kraft, den göttlichen Ananda.
Unser Yoga ist mit dem Yoga der Gita nicht identisch, obwohl er alles enthält, was im Yoga der Gita wesentlich ist. In unserem Yoga beginnen wir mit der Idee der vollständigen Hingabe und dem Willen und Streben danach; gleichzeitig müssen wir die niedere Natur zurückweisen, unser Bewusstsein von ihr befreien, das Selbst, das in die niedere Natur verstrickt ist, mit Hilfe jenes Selbstes befreien, das sich zur Freiheit in der höheren Natur erhebt. Wenn wir dieser doppelten Bewegung nicht folgen, laufen wir Gefahr, eine tamasische und damit unwirkliche Hingabe zu vollziehen, ohne Bemühung, ohne tapas und daher ohne Fortschritt; oder wir vollziehen eine rajasische Hingabe, und zwar nicht an das Göttliche, sondern an eine selbstgeformte, falsche Idee oder an ein Bildnis des Göttlichen, hinter dem sich unser rajasisches Ego verbirgt oder noch etwas Schlimmeres.
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Diese Welt ist, wie sie die Gita beschreibt, anityam asukham [vergänglich und leidvoll], solange wir im gegenwärtigen Weltbewusstsein leben; allein indem wir uns von ihr abkehren, uns dem Göttlichen zuwenden und in das Göttliche Bewusstsein eintreten, kann man das Ewige auch durch die Welt besitzen.
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Die Lehre der Gita scheint sich in vielen Fällen zu widersprechen, da sie offensichtlich zwei einander widersprechende Wahrheiten zulässt und versucht, diese miteinander in Einklang zu bringen. Sie stimmt dem Ideal der Abkehr vom samsara und der Hinwendung zu Brahman als