Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo
Читать онлайн книгу.(oder Ebenen oder Welten), welche die Sache für ihn tun. Die Tibeter beschäftigen sich stark mit diesen okkulten Prozessen; wenn du die Bücher von Madame David-Neel liest, die in Tibet lebte, bekommst du eine Vorstellung von ihrer Geschicklichkeit in diesen Dingen. Die tibetischen Lamas verstehen aber ebenfalls etwas von den Gesetzen der okkulten (mentalen und vitalen) Energie und davon, wie diese veranlasst werden kann, auf physische Dinge einzuwirken. Das ist etwas, was die reine Magie überschreitet. Die direkte Machteinwirkung der Mental-Kraft oder der Lebens-Kraft auf die Materie kann in einem nahezu unbegrenzten Ausmaß ausgedehnt werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass Energie grundsätzlich auf allen Ebenen gleich ist und lediglich immer dichtere Formen annimmt, so dass es in der Mental-Energie oder der Lebens-Energie, die unmittelbar auf die stoffliche Energie oder Substanz einwirkt, nichts gibt, was a priori unmöglich ist; sie kann ein stoffliches Objekt veranlassen, Dinge zu tun, oder kann, besser gesagt, Dinge mit einem stofflichen Objekt tun, die für dieses Objekt in seinem gewöhnlichen Zustand oder gemäß seinem „Gesetz“ ungewöhnlich und daher scheinbar unmöglich wären.
Ich vermag nicht zu erkennen, wie kosmische Strahlen den Ursprung der Materie erklären sollen; das gleiche gilt für die Behauptung von Sir Oliver Lodge, dass das Leben auf Erden von einem anderen Planeten stammen würde; dies schiebt das Problem lediglich einen Schritt weiter zurück – denn wie entstehen kosmische Strahlen? Tatsache jedoch ist, dass Agni7 die Grundlage der Formen ist, wie es das Sankya-System vor langer Zeit darlegte, das heißt, dass das feurige Prinzip in den drei Mächten, strahlenförmig, elektrisch und gasförmig (die vedische Trinität Agnis), der Mittler für die Erzeugung flüssiger und fester Formen dessen ist, was Materie genannt wird.
Ganz offensichtlich vermag ein Laie diese Dinge nicht zustande zu bringen, außer er hat eine angeborene „seelische“ (das heißt okkulte) Fähigkeit, und selbst dann muss er das Gesetz der Sache studieren, bevor er es nach seinem Willen anwenden kann. Es besteht immer die Möglichkeit, spirituelle Kraft oder Mental-Macht oder Willens-Macht oder auch eine bestimmte Art vitaler Energie anzuwenden, um Auswirkungen in Menschen, in Dingen und Geschehnissen zu erzielen, doch ist Wissen und viel Übung erforderlich, bevor diese Möglichkeit aufhört, unbestimmt oder zufällig zu sein, und nach Wunsch und in Vollkommenheit angewandt werden kann. Selbst dann ist eine „Kontrolle über die gesamte stoffliche Welt“ ein zu großes unterfangen; eher ist eine örtliche oder teilweise Kontrolle oder sind in weiterem Sinne bestimmte Arten der Kontrolle über die Materie möglich.
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Der Wissenschaft zufolge ist die gesamte Welt nichts anderes als ein Spiel von Energie; sie wird allgemein als stoffliche Energie bezeichnet, doch bezweifelt man neuerdings, ob Materie, wissenschaftlich gesprochen, überhaupt existiert, es sei denn als Erscheinungsform von Energie. Dem Vedanta zufolge ist die gesamte Welt das Macht-Spiel einer spirituellen Wesenheit der Macht eines ursprünglichen Bewusstseins, sei es Maya oder Shakti, und das Ergebnis ist illusionär oder wirklich. In der Welt, soweit sie den Menschen betrifft, gewahren wir nur die Mental-Energie, die Lebens-Energie, die Energie in der Materie; doch es wird vermutet, dass es dahinter auch eine spirituelle Energie oder Kraft gibt, aus der jene hervorgehen. Alle Dinge sind in jedem Fall das Ergebnis einer Shakti, einer Energie oder Kraft. Es gibt kein Wirken ohne Kraft oder Energie, die dieses wirken verursacht und seine Folgen herbeiführt. Zudem ist alles, was keine Kraft hinter sich hat, entweder etwas Totes, Unwirkliches oder Untätiges und ohne Folgen. Wenn es nichts Derartiges wie spirituelles Bewusstsein gibt, kann der Yoga keine Wirklichkeit besitzen, und wenn es keine Yoga-Kraft, keine spirituelle Kraft, keine Yoga-Shakti gibt, kann es auch keine Wirksamkeit im Yoga geben. Ein Yoga-Bewusstsein oder ein spirituelles Bewusstsein, das keine Macht oder Kraft in sich hat, mag nicht gerade tot oder unwirklich sein, doch ist es offensichtlich etwas Lebloses ohne Wirkung oder Folgen. In gleicher Weise erhebt ein Mensch, der vorgibt, ein Yogi oder Guru zu sein, aber kein spirituelles Bewusstsein oder keine Macht in seinem spirituellen Bewusstsein besitzt – keine Yoga-Kraft oder spirituelle Kraft –, einen unrechtmäßigen Anspruch und ist entweder ein Scharlatan oder ein sich selbst betrügender Tor; und er ist es umso mehr, wenn er für sich in Anspruch nimmt, einen Pfad gebahnt zu haben, dem andere folgen können. Wenn Yoga Realität besitzen will und Spiritualität etwas anderes als Täuschung ist, dann muss es so etwas wie Yoga-Kraft oder spirituelle Kraft geben.
Insofern aber spirituelle Kraft existiert, muss sie offensichtlich dazu in der Lage sein, spirituelle Ergebnisse zu zeitigen, daher ist nichts Vernunftwidriges in dem Anspruch jener Sadhaks, die sagen, sie fühlten die Kraft des Gurus oder die Kraft des Göttlichen in sich wirken und sie zu spiritueller Erfüllung und Erfahrung führen. Ob es in einem besonderen Fall so ist oder nicht, ist eine persönliche Frage, doch die Äußerung kann nicht als in sich unglaubwürdig oder offensichtlich falsch bezeichnet werden, einfach mit der Begründung, dass es solche Dinge nicht geben kann. Und wenn es weiterhin wahr ist, dass spirituelle Kraft die ursprüngliche ist und die anderen Kräfte sich davon ableiten, dann liegt wiederum nichts Vernunftwidriges in der Annahme, dass spirituelle Kraft mentale Ergebnisse, vitale Ergebnisse, physische Ergebnisse hervorbringen kann. Sie kann durch mentale, vitale oder physische Energien wirken und durch die Mittel, die diese Energien benutzen, oder sie kann direkt auf Mental, Leben oder die Materie als dem Bereich ihrer eigenen speziellen und unmittelbaren Tätigkeit einwirken. Jeder Weg ist prima facie möglich. Nimm als Beispiel die Heilung einer Krankheit. Jemand ist seit zwei Tagen krank, schwach, er leidet an Schmerzen und Fieber, nimmt keine Arznei, doch erbittet schließlich die Hilfe seines Gurus; am nächsten Morgen steht er auf, gesund, stark und voller Energie. Er hat zumindest einigen Grund zu glauben, dass eine Kraft angewandt wurde und auf ihn einwirkte und dass es eine spirituelle Kraft war. In einem anderen Fall aber mögen Arzneien eingenommen werden, während zur Unterstützung der stofflichen Mittel gleichzeitig die unsichtbare Kraft zu Hilfe gerufen wird; denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Arzneien helfen können oder nicht und es darüber keine Gewissheit gibt. In diesem Fall bleibt es für einen Dritten (für einen, der weder die Kraft gebraucht noch der Arzt oder der Patient ist) ungewiss, ob der Patient durch die Arznei oder die spirituelle Kraft mit der Medizin als Instrument geheilt wurde. Beides ist möglich, und man kann nicht sagen, weil Arzneien verwendet werden, sei das Wirken einer spirituellen Kraft per se unglaubwürdig und offensichtlich unwahr. Es ist ebenfalls möglich, dass der Arzt eine Kraft in sich wirken fühlte, die ihn führte, oder erkennt, dass der Zustand seines Patienten sich mit einer Geschwindigkeit bessert, die medizinischer Erfahrung zufolge unglaubhaft ist. Auch der Patient mag die Kraft in sich wirken fühlen, die ihm Gesundheit, Energie und schnelle Heilung bringt. Derjenige, der die Kraft anwendet, kann die Ergebnisse beobachten und sehen, wie die Symptome, auf die er einwirkt, sich verringern und jene, auf die er nicht einwirkt, sich vergrößern, bis er auf sie einwirkt, worauf sie sofort verschwinden; oder er beobachtet, wie der Arzt seinen unausgesprochenen Vorschlägen gemäß arbeitet usw. usw., bis die Heilung schließlich erfolgt. (Andererseits mag er erkennen, dass Kräfte gegen die Heilung wirken, und daraus schließen, dass die spirituelle Kraft sich mit einem Rückzug oder unvollkommenen Erfolg zufrieden geben muss.) In jedem Fall können sowohl der Arzt als auch der Patient oder derjenige, der die Kraft anwendet, glauben, die Heilung sei zumindest teilweise oder überhaupt aufgrund der spirituellen Kraft erfolgt. Diese Erfahrung ist natürlich nur für die Beteiligten gültig, nicht für einen äußeren, rationalisierenden Beobachter. Doch letzterer hat logischerweise kein Recht zu behaupten, dass ihre Erfahrungen unglaubwürdig oder falsch seien.
Noch etwas. Daraus folgt nicht, dass spirituelle Kraft in jedem Fall erfolgreich sein muss oder aber, wenn sie erfolglos war, nicht existierte. Von keiner Kraft kann dies behauptet werden. Die Kraft des Feuers besteht darin zu brennen, doch gibt es Dinge, die nicht brennen; unter bestimmten Umständen verbrennen nicht einmal die Füße der Menschen, die barfuß über rotglühende Kohlen gehen. Das beweist nicht, dass Feuer nicht brennen kann oder dass es nichts Derartiges wie die Kraft des Feuers, Agni-Shakti, gibt.
Ich habe keine Zeit, mehr darüber zu schreiben. Es ist auch nicht notwendig. Mein Ziel war nicht nachzuweisen, dass man an spirituelle Kraft glauben muss, sondern dass der Glaube daran nicht notwendigerweise eine Täuschung ist und dass dieser Glaube sowohl rational als auch möglich sein kann.
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Die unsichtbare Kraft, die sichtbare