Die Evolution der Seele und Natur. Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter
Читать онлайн книгу.auch, wenn wir auf den Schlechten, der von keiner Verheimlichung mehr gedeckt wird, mit dem Finger zeigen und ihn anschreien könnten: „O du schlechter Mensch! Denn wenn du nicht böse wärst, wärst du in einer von Gott oder wenigstens vom Guten regierten Welt so zerlumpt, hungrig, unglücklich, von Kummer verfolgt, ehrlos unter den Menschen. Ja, es ist erwiesen, dass du schlecht bist, denn du gehst in Lumpen. Gottes Gerechtigkeit ist hergestellt.“ Da die Höchste Intelligenz zum Glück weiser und edler ist als das kindische Wesen des Menschen, ist das unmöglich. Doch trösten wir uns! Der Gute hat anscheinend deshalb nicht genug Glück, Ghee und Rupien, weil er wirklich ein Schuft ist und aufgrund seiner Verbrechen leidet – ein Schurke in seinem vergangenen Leben, der im Mutterleib plötzlich ein neues Blatt aufgeschlagen hat; und wenn jener schlechte Mensch prächtig gedeiht und die Welt großartig mit Füßen tritt, dann nur wegen seines Gutseins – in einem vergangenen Leben, da der damalige Heilige mittlerweile – war es durch seine Erfahrung, dass die Tugend auf Erden eitel ist? – zum Kult der Sünde übertrat. Alles wird geklärt, alles gerechtfertigt. Wir leiden für unsere Sünden in einem anderen Körper; wir werden in einem anderen Körper belohnt für unsere Tugenden in diesem; und so wird es ad infinitum weitergehen. Kein Wunder, dass die Philosophen dies für ein schlechtes Geschäft erklärten und als Heilmittel, um Sünde wie Tugend loszuwerden, vorschlugen, man solle aus einer so unbegreiflich regierten Welt irgendwie hinausklettern, und dies uns sogar als unser höchstes Gut empfahlen.
Offensichtlich ist dieses System nur eine Variante der alten, spirituell-materiellen Lockung und Drohung: Der Gute erhält die Lockung eines Himmels reichlicher Freuden und dem Schlechten wird mit einer Hölle ewigen Feuers oder bestialischer Qualen gedroht. Die Vorstellung vom Weltgesetz, das in erster Linie Belohnungen und Strafen austeilt, ist verwandt mit der Vorstellung, dass das Höchste Wesen ein Richter, „Vater“ und Schulmeister ist, der seine guten Jungen fortwährend mit Bonbons belohnt und seine nichtsnutzigen Bengel dauernd verhaut. Sie ist auch verwandt mit dem barbarischen und gedankenlosen System der manchmal grausamen und stets entwürdigenden Bestrafung für gesellschaftliche Verstöße, worauf die menschliche Gesellschaft immer noch beruht. Der Mensch besteht fortwährend darauf, Gott nach seinem eigenen Bilde zu erschaffen, anstatt danach zu trachten, sich immer mehr nach dem Bilde Gottes zu gestalten, und alle diese Vorstellungen sind ein Spiegel für das Kind, den Wilden und das Tier in uns, die wir immer noch nicht umgewandelt haben und über die wir immer noch nicht hinausgewachsen sind. Wir sollten eigentlich darüber erstaunt sein, wie diese Kinderfantasien ihren Weg in so tiefe philosophische Religionen wie den Buddhismus und den Hinduismus gefunden haben, wäre es nicht so offenkundig, dass die Menschen sich nicht den Luxus versagen werden, den Kehricht ihrer Vergangenheit mit den tieferen Gedanken ihrer Weisen zusammenzubringen.
Zweifellos müssen diese Vorstellungen, da sie so markant sind, ihren Nutzen für die Erziehung der Menschheit gehabt haben. Wahr ist vielleicht auch, dass der Höchste mit der Kinderseele kindgemäß umgeht und ihr erlaubt, ihre sinnenhaften Fantasien von Himmel und Hölle noch eine Zeitlang nach dem Tod des physischen Körpers weiterzuträumen. Vielleicht waren diese Vorstellungen vom Leben nach dem Tode und von der Wiedergeburt als Spielfeld für Strafe und Belohnung notwendig, weil sie zu unserer halbmentalisierten Tierhaftigkeit passten. Aber nach einer bestimmten Entwicklungsstufe hört das System auf, wirklich effektiv zu sein. Die Menschen glauben an Himmel und Hölle, aber sündigen fröhlich weiter und kommen schließlich doch davon infolge päpstlicher Nachsicht, der letzten priesterlichen Absolution oder der Reue auf dem Totenbett oder durch ein Bad im Ganges oder einen heiligen Tod in Benares – das sind die kindlichen Einfälle, mit denen wir uns von unserer Kindlichkeit freimachen! Und am Ende wird der Geist erwachsen und legt den ganzen Kinderstuben-Unsinn verächtlich beiseite. Ebenso unwirksam wird die Lohn-und-Strafe-Theorie der Wiedergeburt, obschon etwas gehobener oder zumindest weniger grob sinnlich. Und es ist gut, dass es so ist. Denn es ist unerträglich, dass der Mensch mit seiner göttlichen Fähigkeit um einer Belohnung willen tugendhaft bleiben und die Sünde aus Angst meiden soll. Besser ein starker Sünder als ein egoistischer Feigling oder eine kleinliche, mit Gott feilschende Krämerseele; in ihm ist mehr Göttlichkeit, mehr Fähigkeit zur Erhebung. Die Gita hat es wahrhaftig gut gesagt, krpanah phalahetavah2. Und es ist unvorstellbar, dass das System dieser weiten und majestätischen Welt auf diesen kleinlichen und armseligen Motiven beruhen soll. Vernunft sei in diesen Lehren? Dann nur die kindliche Vernunft der Kinderstube. Sittlichkeit? Dann nur Sittlichkeit des Schmutzes, schmutzig.
Die wahre Grundlage der Theorie der Wiedergeburt ist die Entwicklung der Seele oder vielmehr ihr Aufblühen aus dem Schleier der Materie und ihre allmähliche Selbstfindung. Der Buddhismus enthielt diese Wahrheit in seiner Lehre vom Karma und vom Auftauchen aus dem Karma, versäumte aber, sie bekanntzumachen; der Hinduismus kannte sie von alters her, verfehlte aber später das rechte Gleichgewicht des Ausdrucks. Heute sind wir wieder in der Lage, die alte Wahrheit in einer neuen Sprache zu formulieren, und dies wird bereits von einigen Geistesrichtungen getan, obschon die alten Inkrustationen die Neigung haben, sich an diese tiefere Weisheit anzuheften. Und wenn dieses allmähliche Aufblühen wahr ist, dann ist die Theorie der Wiedergeburt eine intellektuelle Notwendigkeit, eine logisch zwingende Folge. Doch was ist das Ziel der Evolution? Nicht konventionelle oder interessierte Tugend und das fehlerlose Aufzählen der kleinen Münze des Guten in der Hoffnung auf eine gerechte Zuteilung materieller Belohnung, sondern ein fortwährendes Wachsen zu göttlichem Wissen und göttlicher Kraft, Liebe und Reinheit. Diese Dinge allein sind wirkliche Tugend und diese Tugend trägt ihren Lohn in sich selbst. Der einzige wahre Lohn für die Werke der Liebe besteht darin, immer in der Fähigkeit und Freude der Liebe zu wachsen, empor zur Ekstase der allumfassenden Umarmung und Liebe des Geistes; der einzige Lohn für die Werke des rechten Wissens besteht im immerwährenden Wachstum in das unendliche Licht; der einzige Lohn für die Werke der rechten Macht besteht darin, immer mehr die Göttliche Kraft in uns Wohnung nehmen zu lassen, und für die Werke der Reinheit, immer mehr vom Egoismus befreit zu werden in diese makellose Weite hinein, in der alle Dinge umgewandelt und in der göttlichen Gelassenheit versöhnt sind. Einen anderen Lohn suchen heißt, sich selbst an eine Torheit und eine kindliche Unwissenheit zu binden; und auch diese Dinge als Belohnung anzusehen, zeugt ebenfalls von Unreife und Unvollkommenheit.
Und wie steht es mit Leiden und Glück, Unglück und Wohlstand? Dies sind Erfahrungen der Seele in ihrer Erziehung, Hilfe, Stützen, Mittel und Wege, Disziplinen, Tests, Zerreißproben – und Wohlstand ist oft eine schwerere Prüfung als Leiden. Tatsächlich können Not, Unglück, Leiden oft eher als Belohnung für Tugendhaftigkeit denn als Strafe für die Sünde angesehen werden, da es sich herausstellt, dass sie die größten Helfer und Reiniger der um ihre Entfaltung kämpfenden Seele sind. Sie lediglich als das harte Urteil eines Richters, als den Zorn eines gereizten Herrschers oder auch als die mechanische Rückwirkung der Folge des Bösen auf dessen Ursache zu betrachten, bedeutet, Gottes Umgang mit der Seele und das Gesetz der Welt Evolution so oberflächlich wie nur möglich zu beurteilen. Und wie steht es mit weltlichem Wohlstand, Reichtum, Nachkommenschaft, dem äußeren Genuss von Kunst, Schönheit und Macht? Gut, wenn sie ohne Verlust für die Seele erreicht werden und nur als Ausgang göttlicher Freude und Gnade auf unsere materielle Existenz genossen werden. Aber wir wollen sie zuerst für andere oder vielmehr für alle suchen und für uns selbst nur als einen Teil des universellen Zustandes oder als eines der Mittel, die uns der Vollkommenheit näher bringen.
Die Seele braucht keinen Beweis für ihre Wiedergeburt, genauso wenig wie sie einen Beweis für ihre Unsterblichkeit braucht. Denn es kommt eine Zeit, da sie bewusst unsterblich ist und sich selbst in ihrer ewigen und unwandelbaren Substanz kennt. Wenn diese Verwirklichung einmal erreicht ist, fällt alles intellektuelle Fragen für und wider die Unsterblichkeit der Seele ab wie der nichtige Lärm der Unwissenheit um die selbstevidente und ewig gegenwärtige Wahrheit. Tato na vicikitsate. Das ist der wahre Glaube an die Unsterblichkeit, wenn sie für uns kein intellektuelles Dogma wird, sondern eine so klare Tatsache wie die physische unseres Atmens und genauso wenig eines Beweises oder einer Erörterung bedürftig. So kommt auch eine Zeit, da die Seele sich selbst in ihrer ewigen und wandelbaren Bewegung erkennt; sie erkennt dann die Zeitalter hinter dem, was die gegenwärtige Organisation der Bewegung bildete,