Gegendiagnose. Группа авторов

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und die Welt, wie sie eingerichtet ist, böte doch zumindest potentiell auch die geeigneten Mittel und Wege dazu an, wenn man sich nur ordentlich anstrengte und diese Mittel richtig zu nutzen verstünde. Stellt sich das erwartete und in Aussicht gestellte persönliche Glück trotz größter Anstrengung und anständiger Anforderungserfüllung nicht ein, verfallen die meisten Leute im Umkehrschluss auf den Gedanken, dieses Scheitern müsse wohl an ihnen selbst liegen. Im Hochhalten des Ideals, jede sei ihres eigenen Glückes Schmiedin, gegen die eigene Erfahrung und Lebensrealität, steckt eine Affirmation der herrschenden Verhältnisse, wenn diese hartnäckig kontrafaktisch als »eigentlich« gute Mittel für die Erlangung des eigenen Lebensglücks angesehen werden. Westliche, als freiheitliche Demokratie organisierte Herrschaft ist auf diese prinzipielle Bejahung und positive gedankliche Stellung ihrer Untertan_innen angewiesen und auch die Arbeitgeberin freut‘s: Wer den Job als Mittel zur Erlangung von Glück und Selbstverwirklichung begreift anstatt als notwendiges Übel zum Gelderwerb, von dem ist auch ein deutlich höheres Maß an Leistung, Motivation und Engagement zu erwarten. Die regelmäßige Enttäuschung des Glücksversprechens führt die meisten Leute im Laufe ihres Lebens hin zu einem »realistischen Pragmatismus«: Das erwartete Lebensglück beläuft sich dann auf eine bescheidene und sich bescheidende Zufriedenheit, ein Sich-zufrieden-Stellen mit mehr schlechten als rechten Lebensbedingungen, bei dem im Zweifelsfalle Psychologie und Psychiatrie nur allzu gern helfend zur Seite stehen. Ist doch ein Mindestmaß an psychischem Wohlbefinden und ein Festhalten an einer positiven Grundhaltung zur hiesigen Einrichtung der Gesellschaft eine nicht unbedeutende ideologische Grundlage dafür, dass Menschen sich überhaupt weiter und immer wieder zum Mitmachen aufraffen. Was Psychologie und Psychiatrie und den meisten Menschen als »subjektives Wohlbefinden« gilt, meint somit also etwas völlig anderes als ein Wohlbefinden, welches sich aufgrund einer sichergestellten Bedürfnisbefriedigung und Versorgung in einer zu diesem Zweck eingerichteten Gesellschaft einstellen würde.

      Das psychologisch-psychiatrische System macht es sich keineswegs zur Aufgabe, die in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft an Menschen gestellten Anforderungen und die dahinterstehenden Verhältnisse mitsamt ihrer schädigenden Effekte grundsätzlich zu kritisieren, sondern stellt sich stattdessen die Frage, wie Menschen am besten dazu zu bringen sind, diese Anforderungen möglichst gut (oder auch überhaupt erst einmal) zu erfüllen. Über diese Frage darf dann innerhalb von Psychologie und Psychiatrie auch gern im Rahmen von Paradigmenstreits und immanenter Kritik meinungspluralistisch und konstruktiv gestritten werden. Während Psychologie und Psychiatrie sich einerseits für nicht zuständig für politische, soziale und gesellschaftliche Fragen erklären und die aktuelle Einrichtung der Welt sowohl als naturwüchsiges Ergebnis des menschlichen Wesens als auch als äußeren Sachzwang konzipieren, greifen sie auf der anderen Seite gleichzeitig ständig in Bedingungen ein, etwa durch ihren Einfluss auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen, bei Schulreformen etc. – allerdings immer parteilich für die bestehenden Verhältnisse. Wo der psychologisch-psychiatrische Diskurs die Welt als Ort individueller Erfolgs-, Betätigungs- und Bestätigungsmöglichkeiten behauptet, wird also von der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft, dem real existierenden Klassenverhältnis und der dazugehörigen Staatsgewalt abgesehen. Auf Grundlage dieser Abstraktion erscheinen alle kapitalistischen Lebensverhältnisse als individuell zu bewältigende Problemlagen.14 Dass beispielsweise im der kapitalistischen Wirtschaftsweise inhärenten Konkurrenzprinzip, dem sich zu unterwerfen momentan fast alle Menschen zum Zwecke ihres Existenzerhalts genötigt sind, das Scheitern Einiger als logische und notwendige Konsequenz des Gewinnens Anderer strukturell angelegt ist, wird in diesem Weltbild ausgeblendet. Wenn ein Mensch etwa in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keinen Job findet, scheitert er in diesem Weltbild nicht an den Zwecken und Prinzipien der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft, sondern aufgrund seiner eigenen Unfähigkeit. Ein eigentlich strukturell bedingter Effekt wird so zu einem individuellen Versagen umgedeutet. Auch der Umgang mit dem Problem wird auf die individuelle Ebene verlagert: Das betroffene Individuum ist angehalten und genötigt, Eigenverantwortung zu übernehmen, aufzustehen, härter (an sich) zu arbeiten und sich weiter abzumühen. Tut es dies nicht und verfällt beispielsweise über den Verlust des Arbeitsplatzes in lähmende Verzweiflung, wird es spätestens dann zu einem Fall für das psychologisch-psychiatrische System.

      Wenn die Annahme aufrechterhalten werden soll, sich in der vorgefundenen Welt inklusive Leistungs- und Konkurrenzprinzip zu bewähren und auf erwünschte Weise zu betätigen, sei, erstens, ureigenster und gesündester Ausdruck des menschlichen Wesens überhaupt und, zweitens, ein Unterfangen, dessen Gelingen einzig und allein von der eigenen persönlichen Anstrengung und Einstellung abhängt, ist es naheliegend, wenn ein im Konkurrenzprinzip angelegtes Scheitern bei Menschen zu Selbstkritik, Selbstabwertung und Schuldgefühlen führt. Es ist dann ein schmaler Grat zwischen dem Gefühl der Eigenverantwortung als gern gesehenem, »gesundem« Antrieb, eben härter (an sich) zu arbeiten, und einem in Lähmung umgeschlagenen, »krankhaften« Schuldgefühl, welches dann als Symptom einer behandlungsbedürftigen Depression diagnostiziert wird.15 Ebenso wie das Gefühl, Schuld am eigenen Scheitern zu haben, hat das Gefühl der Wertlosigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft einen realen Bezug. Da Leistung im Kapitalismus das einzige Kriterium ist, anhand dessen der Wert eines Menschen bestimmt wird, ist es nicht unbedingt überraschend, dass sich eine wertlos fühlt, wenn beispielsweise ihre Arbeitskraft gerade nicht gebraucht wird. Dieser reale Bezug, der im Symptom »Gefühl von Wertlosigkeit« in der Diagnose Depression stecken kann, wird in der psychologisch-psychiatrischen Betrachtungsweise desartikuliert; der beschädigte Glaube an den eigenen Wert wird, sofern das Ausmaß der Beschädigung die Funktionstüchtigkeit und Anstrengungen der betroffenen Person einschränken, in der Psychotherapie z.B. mit Hilfe der völlig gegenstandslosen Behauptung »bedingungsloser Wertschätzung« aufgepäppelt, welche ihren Klient_innen entgegenzuheucheln Psychotherapeut_innen während der Behandlung angehalten sind. Ähnliche reale Bezüge finden sich auch in anderen Diagnosen, wie der »Generalisierten Angststörung« nach ICD und DSM, die sich auf diffuse Sorgen und Befürchtungen in verschiedenen Lebensbereichen, z.B. »unbegründete Geldsorgen, übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf« (Morschitzky 2004: 67) bezieht. Wenn die Realisierung des eigenen Werts ebenso unsicher und prekär ist wie die Antwort auf die Frage, ob man die Mittel zur Sicherung seiner Existenz auch morgen noch erwerben können wird und ein Nicht-Bewältigen der an einen gestellten kapitalistischen Anforderungen den faktischen Ausschluss von den Mitteln der Existenzerhaltung bedeutet, nimmt es nicht wunder, wenn Menschen sich unter herrschenden Verhältnissen mit quälenden Existenz- und Zukunftsängsten tragen. Ob diese Sorgen und Befürchtungen »unbegründet und übertrieben« gewesen sind, stellt sich in der Realität jeweils und immer wieder aufs Neue erst im Nachhinein heraus.

      Mit diesen Erwägungen soll nicht behauptet werden, kapitalistische Verhältnisse führten in der subjektiven Verarbeitung immer und automatisch bei jeder und jedem zu als depressiv klassifizierten oder sonstigen als klinisch eingestuften Symptomen. So gibt es schließlich auch Menschen, die beispielsweise über den Verlust ihres Arbeitsplatzes anders denken, als sich selbst eine lähmende Schuld für ihr Scheitern zuzuschreiben – sei es, dass es ihnen (ob nun mit psychologischer Hilfe oder ohne) immer wieder gelingt, ihre Ansprüche herunterzuschrauben und ihre persönlichen Anstrengungen zu intensivieren, in den bestehenden Verhältnissen so erfolgreich wie eben möglich zu sein, oder sei es, dass sie sich anstatt in Selbstkritik in der Kritik ebenjener Verhältnisse üben, die sie überhaupt erst in Abhängigkeit von Lohnarbeit zum Zwecke der Existenzsicherung bringen. Es ist also prinzipiell sowohl möglich in Anbetracht der Widrigkeiten und Versagungen dieses Lebens immer wieder zu dem falschen Schluss zu gelangen, man selbst sei eben nicht für diese Welt gemacht, als auch im Gegenteil den richtigen Schluss zu ziehen, dass die Welt, so wie sie jetzt ist, eben nicht für einen gemacht ist. Es bleibt festzuhalten, dass ein vermittelter Zusammenhang zwischen individuellem Leid und objektiven Bedingungen besteht, den Psychiatrie und Psychologie sich nach Kräften abzuleugnen und zu verschleiern bemühen. Noch die schäbigsten Verhältnisse versuchen sie den unter ihnen Leidenden als »Herausforderungen« zu verkaufen, selbst die Bedrohung der materiellen und sozialen Existenz wird zur »Entwicklungschance« umgelogen. Die Psychiatrie erfüllt also die Aufgabe, die Menschen fit und willig für ebenjene Verhältnisse zu erhalten und zu machen, an denen sie sich täglich – teils eben bis zum Verrücktwerden, teils »nur« unter normalen


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