Gegendiagnose. Группа авторов

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Gegendiagnose - Группа авторов


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Anliegen des Staats

      Das psychiatrische Versorgungssystem und alle daran angeschlossenen Angebote sind Teil des staatlich finanzierten Gesundheitswesens. Dessen Zweck ist es, einen gesunden Volkskörper zu erhalten, damit dieser den Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise zur Verfügung steht. Nicht die Interessen und Bedürfnisse der Einzelnen sind der Maßstab, sondern die Erhaltung einer arbeitsfähigen Bevölkerung, die sich tagtäglich an den widrigen Bedingungen dieser Gesellschaft abzuarbeiten und sich ständig den Quellen ihrer Zerstörung auszusetzen hat. Die staatliche »Fürsorge« gilt der Erhaltung des Menschenmaterials, welches es braucht, damit die nationale Geldvermehrung klappt. Denn ohne genügend gesunde und qualifizierte Arbeitskräfte kann das nationale Kapital sich nicht verwerten. Als ideeller Gesamtkapitalist regelt der bürgerliche Staat die kapitalistische Produktionsweise, damit sie stattfindet. Der Rücksichtslosigkeit des Kapitals gegen Mensch und Natur müssen Schranken gesetzt werden, damit dessen Verwertung auch morgen noch stattfinden kann. Dass sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in der Welt befindet, garantiert der Staat durch die gewaltsame Aufrechterhaltung des Privateigentums. Alle ihm Unterworfenen sind gezwungen, die ausschließende private Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum anzuerkennen. Innerhalb dieses Rahmens dürfen und müssen die Einzelnen ihren Kampf um Selbsterhaltung und Wohlergehen abwickeln. Diejenigen, die über nichts Weiteres verfügen als über ihre Arbeitskraft, sind darauf verwiesen, diese der Vermehrung des Eigentums anderer zur Verfügung zu stellen. Und umgekehrt: Damit die Eigentumsvermehrung klappt, braucht es genügend nützliche Arbeitskräfte. Eine möglichst erfolgreiche nationale Geldvermehrung ist das entscheidende Mittel in der Staatenkonkurrenz.

      Die Zurichtungsinstitutionen und Abteilungen zur (Wieder-)Herstellung der Brauchbarkeit und Nützlichkeit lässt sich der Staat, hauptsächlich finanziert durch die etablierten Zwangssolidarsysteme, wie etwa Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung, einiges kosten. Die physischen und psychischen Schäden der Menschen an den verschiedenen Positionen innerhalb dieser Gesellschaft sind bereits einkalkuliert, damit die Wiederherstellung erneuter Brauchbarkeit derjenigen, die ständig ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen müssen, in ausreichendem Maße gesichert ist. Das fröhliche Mitmachen innerhalb dieser Gesellschaft heißt dann, sich diesen Zwecken zur Verfügung zu stellen und den freiheitlichen Rahmen, den der Staat mit Hilfe seiner Gesetze setzt, nicht zu überschreiten. Überschreitet ein abweichendes, unerwünschtes Verhalten den staatlich gewährten Freiheitsrahmen, etwa bei einem Suizidversuch, greift der Staat mit seinem Gewaltmonopol auf die Person zu. Während Personen, bei denen noch Hoffnung auf Wiederherstellung der Arbeitskraft und Wiederaufrichtung des Willens zum fröhlichen Mitmachen besteht, zumeist mehr oder weniger freiwillig von psychologisch-psychiatrischen Angeboten Gebrauch machen und/oder das psychologisch-psychiatrische System zumindest nach einer gewissen Zeit wieder verlassen, laufen diejenigen, bei denen keine oder nur wenig Aussicht auf Wiederbrauchbarmachung attestiert wird, Gefahr, unter Zwang aufgegriffen und der staatlichen Verwahrung zugeführt zu werden. Dieses Vorgehen wird mit entsprechenden Diagnosen legitimiert und den davon Betroffenen gegenüber als »zu ihrem eigenen Besten« verklärt, welches sie (wiederum begründet mit ihrer psychischen Störung und aus »mangelnder Krankheitseinsicht«) angeblich nicht mehr selbst einschätzen können. Der Staat schafft damit nicht nur den funktionierenden Normalbürger_innen Menschen aus den Augen, deren Anblick sie an die eigene Angst vor der Möglichkeit von Abstieg und Scheitern erinnern bzw. diese Möglichkeit überhaupt (erst) ins Sichtfeld rücken könnte. Auch stellt er Angehörige mit diesem Zugriff von der Aufgabe frei, sich im Privatumfeld um diese Betroffenen kümmern zu müssen, damit diese Zeit und Kraft haben, sich stattdessen selbst im Rahmen anderer Reproduktions- oder Lohnarbeit ausbeuten und verwerten zu lassen. Auch die in geschlossenen Anstalten oder Pflegeheimen verwahrten »hoffnungslosen Fälle« müssen, soweit sie physisch und psychisch dazu noch irgendwie in der Lage sind, im Rahmen von Werkstattarbeit und Ergotherapie irgendwelchen Beschäftigungen nachgehen und die Tagesstruktur lohnabhängig beschäftigter Normalfunktionierer_innen imitieren, auf dass die Illusion aufrechterhalten werden kann, überhaupt irgendwie tätig zu sein sei menschliches Grundbedürfnis und ein jeder und eine jede könne »es« mit ein bisschen Mühe und Hilfe nochmal schaffen – ganz nach dem Motto »we leave no man behind«.16

      Die vorherigen Kapitel haben deutlich gemacht, dass es der Psychiatrie und Psychologie nicht auf die Erklärung ihres Gegenstandes ankommt, sondern sie diesen im Vergleich zu dem, was sie unter psychischer Gesundheit verstehen will, zu bestimmen versuchen. Die Abweichung von diesem festgelegten Soll-Zustand, der modifizierten funktionalen Norm, wird den psychisch Auffälligen als ihr Wesen verklärt. Damit ist nichts über den Inhalt der jeweiligen Geistestätigkeit gesagt, sondern lediglich ihr Verhältnis zu dem gewöhnlichen fröhlichen Mitmachen vom parteilichen Standpunkt aus beschrieben. Mit der Diagnose »unbrauchbar« für die Zumutungen, die diese Gesellschaft für die Einzelnen bereithält und der Erklärung, die Unbrauchbarkeit müsse an einem Defekt in der Person liegen, wird der Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen, die an das Individuum gestellt sind, an denen es sich abzuarbeiten hat und an denen es auch scheitern und verzweifeln kann, und dem psychischen Leiden des Individuums ausgeblendet. Wie ein Mensch sich zu seiner kapitalistischen Vernutzung und zur staatlichen Betreuung seines Lebens zu stellen hat, ist bereits vorab entschieden. Über alle methodischen und theoretischen Debatten hinweg gilt eines als gesichert: Für verrückt gilt diejenige, die am Maßstab der Funktionalität für das normale Leben als untauglich gilt. Anhand dieses Maßstabes werden die Debatten geführt, was (noch) als normal gelten kann und was bereits als Störung gilt, die das Individuum daran hindert, seinem scheinbaren natürlichen Auftrag nachzukommen. Die Aufnahme einer produktiven Tätigkeit als das therapeutische Ziel schlechthin verweist direkt auf den Zweck, den das psychiatrisch-psychologische System zu erfüllen hat. Fitte und leistungsbereite Menschen, die sich auf den Arbeitsmarkt werfen und/oder die Reproduktion des Menschenmaterials sichern, sich an den von Staat und Kapital gesetzten Bedingungen abarbeiten und verschleißen lassen und dabei die richtige positive Einstellung mitbringen, sind das gesetzte Ziel der psychologisch-psychiatrischen Interventionen. In der Diagnoseerhebung, in den wissenschaftlichen Fehlannahmen über die Gründe geistiger Tätigkeiten der Individuen und den daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden sowie deren Zielen zeigt sich das prinzipielle Einverständnis des psychologisch-psychiatrischen Systems mit den Zwecken seines staatlichen Förderers und erweist sich als eine weitere Abteilung zur Aufrechterhaltung dieser Gesellschaft.

      Quellenverzeichnis

      Bastine, Reiner H. E. 1998: Klinische Psychologie, in 2 Bdn. Bd.1, Grundlegung der Allgemeinen Klinischen Psychologie. Stuttgart/Berlin/Köln.

      Birbaumer, Niels/Schmidt, Robert F. 1999: Biologische Psychologie. Berlin/Heidelberg/New York.

      Davison, Gerald C./Neale, John M./Hautzinger, Martin 2007: Klinische Psychologie. Weinheim.

      Güßbacher, Heinrich 1988: Hegels Psychologie des Intelligenz. Würzburg.

      Hamann, Bettina/Warrings, Bodo/Deckert, Jürgen 2011: Neurobiologie der Depression. In: Faller, Hermann/Lang, Hermann (Hg.): Depression. Klinik, Ursachen, Therapie. Würzburg. S. 11-29.

      Hautzinger, Martin/Stark, Wolfgang/Treiber, Renate 2000: Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen. Weinheim.

      Krölls, Albert 2007: Kritik der Psychologie. Das moderne Opium des Volkes. Hamburg.

      Morschitzky, Hans 2004: Angststörungen: Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe. Heidelberg.

      Payk, Theo R. 2010: Psychopathologie. Vom Symptom zur Diagnose. 3. Auflage. Heidelberg.

      Renneberg, Babette/Heidenreich, Thomas/Noyon, Alexander 2008: Einführung Klinische Psychologie. München.

      Singer, Wolf 2004: Keiner kann anders, als er ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hirnforschung-keiner-kann-anders-als-er-ist-1147780.html (Zugriff am 10.04.2015).

      Schneider, Frank/Frister, Helmut/Olzen, Dirk 2010: Grundlagen psychiatrischer Begutachtung. In: Schneider, Frank/Frister, Helmut/Olzen, Dirk


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