Gegendiagnose. Группа авторов

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Gegendiagnose - Группа авторов


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diese Forschungsrichtung durch die Annahme von Verstärkerreizen zu beseitigen.10 Nicht mehr Umweltreize generell sollen das menschliche Verhalten hervorbringen, sondern diese müssten unterschieden werden nach ihrer Wirkungsqualität. Wie diese denn zu unterscheiden seien, wird in bekannter tautologischer Weise beantwortet: Als Verstärkerreize gelten diejenigen Reize, die verstärkend auf das Verhalten wirken (vgl. Krölls 2007). »Eine geringe Rate verhaltenskontingenter positiver Verstärkung wirkt auslösend für depressives Verhalten« und »[e]ine geringe Rate verhaltenskontingenter Verstärkung hält die Depression aufrecht« (Hautzinger/Stark/Treiber 2000: 7), so lautet die Anfangsthese dieser Therapierichtung. Zum Beginn der Therapie gilt es daher, diejenigen Ereignisse zu identifizieren, welche zu einer niedrigen Rate positiver Verstärkung führten. Diese niedrige Rate gilt es durch die Erhöhung der Anzahl von positiven Verstärkern zu kompensieren, um das sozial erwünschte Verhalten zu fördern. Äußere Bedingungen oder Ereignisse, wie die Trennung von einer nahen Person, Arbeitslosigkeit und Armut, werden als negative Faktoren betrachtet, als mögliche Ursachen für die Entstehung einer Depression, deren negativem Einfluss auf die Gemütslage dahingehend zu begegnen sei, dass zugängliche und machbare Aktivitäten vom Individuum umgesetzt werden sollten. Die Wiederaufnahme von Aktivitäten, die die Anzahl von positiven Verstärkern erhöhen sollen, gilt dementsprechend als ein wichtiges Therapieziel; und da vermutet wird, dass es irgendeinen Zusammenhang zwischen der Aktivitätsrate und der Stimmung eines Menschen gibt, muss diese erhöht werden. Das Mitmachen bei was auch immer wird zur entscheidenden Voraussetzung für die Genesung. Die Wiederaufnahme einer produktiven Tätigkeit, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als Ausdruck eines gesunden Bewusstseins wird so in den Rang eines positiven Verstärkers erhoben. Schon in diesem ersten Therapieschritt wird das Steuerungsideal dieser Therapieform sichtbar: Es wird versucht, die Auftrittswahrscheinlichkeit einer erwünschten Verhaltensweise zu erhöhen, indem Situationen geschaffen werden, die als positive Verstärker gelten. Es müssen daher nur die richtigen Verstärkerreize vorhanden sein, um das menschliche Verhalten dahin zu bringen, wie es sein soll.11

      Die Entdeckung, dass sich auf eine positiv-verstärkende Situation nicht notwendigerweise auch das erwünschte Verhalten einstellt, führt innerhalb dieser Theorie zu der Annahme, dass eine weitere Bedingung am Werk sein muss, die die depressiven Symptome hervorbringt. Den situativen Bedingungen werden kognitive Bedingungen hinzugesellt, die wiederum durch ungünstige äußere Auslösebedingungen verursacht worden seien und nun ihrerseits eine kognitive Störung hervorbringen, die wiederum zu einer fehlerhaften Wahrnehmung der Umwelt führe. »Die auslösenden Bedingungen starten den Prozess der Depressionsentwicklung insofern, dass sie unmittelbare Unterbrechungen oder Störungen (z.B. automatisierte Abläufe) produzieren« (Hautzinger/Stark/ Treiber 2000: 15). So machen es bestimmte Einstellungen und Gedanken einem depressiven Menschen angeblich unmöglich, sowohl sich selbst und seine Zukunft als auch die äußere Welt positiv zu sehen. »Als Ursache depressiver Störungen wird eine kognitive Störung angenommen, die sich darin äußert, dass die Realität nur noch verzerrt wahrgenommen und interpretiert wird« (Wagner 2011: 185). Inhaltlich ist diese Bedingung wieder einmal durch nichts anderes bestimmt, als dass sie Hoffnungslosigkeit, geringes Selbstwertgefühl, andauernde Selbstkritik, Rückzug und Suizidgedanken verursachen soll und das Individuum dazu bringt, sich ausdauernd und automatisch die als dysfunktional eingestuften Gedankengänge zu machen. Diese Gedankengänge, die das Individuum daran hindern, sich produktiv und sozial zu betätigen, müssen unterbrochen, modifiziert, beseitigt werden. In der konkreten Behandlung werden beide Bedingungsannahmen – das Fehlen von positiven Verstärkern und das Vorhandensein von gestörten Kognitionen – zusammengeführt. Durch die Teilnahme an konstruktiven Aktivitäten soll der depressive Mensch sich Situationen aussetzen, die sich positiv auf seine Stimmung auswirken. Den angenommenen Zusammenhang zwischen Situation und Stimmung gilt es selbst zu kontrollieren und hervorzubringen. Gleichzeitig wird an der Bewertung der eigenen Aktivitäten, an den selbstbezogenen Gedankengängen, negativen Vorstellungen und überhöhten Ansprüchen gearbeitet. Die Feststellung, dass depressive Menschen oft die eigene Unfähigkeit als Grund für den ausbleibenden Erfolg angeben und sich selbst die Schuld an negativen Ereignissen geben, wird dahingehend korrigiert, dass niemand all seine Pläne verwirklichen könne und dass das Handeln an sich wichtiger sei als die Erreichung eines Handlungsziels. Es wird also darauf abgezielt, dass die eigenen Ansprüche an die Welt auf ein gemäß der eigenen Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft angepasstes Maß zu reduzieren sind. Da die Welt kein Ponyhof ist, müssen die Zumutungen, die diese bereit hält, nur positiv verarbeitet und der Fokus auf die schönen Seiten des Lebens gerichtet werden. Sich selbst und das Leben im positiven Licht zu sehen, sich selbst bedingungslos wertzuschätzen und die Unzulänglichkeiten des Lebens zu akzeptieren, steht dann am Ende der erfolgreichen Therapie.

      »Alles ist irgendwie komplexer …«

      Beide Behandlungsmethoden haben gemeinsam, dass sie entweder organische, psychische oder soziale Bedingungen als Ursachen für die Entstehung einer depressiven Störung annehmen. Zwischen ihnen besteht allerdings große Uneinigkeit, welche der angenommenen Bedingungen nun die entscheidenden seien. Grundsätzlich wird zwischen dem organisch-medizinischen und dem psychosozialen Erklärungsmodell unterschieden. Die in der psychiatrischen Diagnose erfassten Abweichungen vom Normalverhalten werden im ersten durch organische und im zweiten durch psychosoziale Störungen oder Schädigungen erklärt. In den letzten Jahrzehnten ist das Pendel je nach gesellschaftlicher Großwetterlage in die eine oder die andere Richtung ausgeschlagen. Bemerkenswerterweise besteht die Hauptkritik der einen Richtung an der anderen darin, dass sie nicht in der Lage sei zu erklären, wie sich denn die jeweils angenommenen Ursachen in psychische Erscheinungen umsetzen würden. »Trotz intensiver Forschungen der letzten Jahrzehnte sind die Ursachen und Mechanismen der Depression noch weitgehend unbekannt« (Hamann/Warrings/Deckert 2011: 11). Um diesen fehlenden inhaltlichen Nachweis zu beheben, bedienen sich beide Richtungen wiederum derselben Beweistechnik. Mithilfe der Korrelationsstatistik, die den Zusammenhang zwischen Variablen untersucht, soll das Erklärungsdefizit behoben werden. Aufgrund der zeitlichen Aufeinanderfolge von zwei Ereignissen oder ihrem gehäuften gleichzeitigen Auftreten wird auf die Existenz eines inhaltlichen Zusammenhangs geschlossen. Jedoch ist durch das gemeinsame Auftreten zweier Erscheinungen noch lange nicht der inhaltliche Nachweis erbracht, dass die eine Erscheinung die Ursache für die andere ist. Dass bei denjenigen, die im kapitalistischen Alltag auffällig geworden sind, in einigen Fällen andere biochemische Prozesse messbar sind als bei den fröhlich Mitmachenden, ist kein Beweis für die organische Ursachenbehauptung. Vielmehr findet hier eine Übersetzung der psychischen Tätigkeit in seine physischen Grundlagen statt. Unterschiedliche Gedanken und Gefühle könnten durchaus an verschiedenen Stellen des Gehirns repräsentiert sein und zu verschiedenen Stoffwechselvorgängen führen. Dasselbe Phänomen wird auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet.

      Keine der genannten miteinander konkurrierenden Richtungen kann angeben, dass ihre unterstellten Ursachen notwendig die zu erklärende Erscheinung hervorbringt. Verschiedene Studien geben daher lediglich Wahrscheinlichkeitswerte für das Auftreten einer Erscheinung bei gleichzeitigem Vorliegen der angenommenen Ursache an. Wenn beispielsweise davon die Rede ist, dass Kinder von Eltern mit der Diagnose Depression mit einer Wahrscheinlichkeit von 10-15% auch an einer Depression leiden werden, dann beweisen die restlichen 90-85%, dass trotz des Vorliegens einer derartigen Vorgeschichte diese nicht notwendig zu einer Depression führt. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf angenommene Umweltbedingungen:

      Stress und belastende Lebensereignisse sind mittlerweile anerkannte Umweltfaktoren, die eine depressive Erkrankung triggern können. Da die Reaktionen auf Stress allerdings extrem unterschiedlich sein können, bleibt bis jetzt unklar, welche Individuen unter ›Belastungen‹ an Depression erkranken. (Hamann/Warrings/Deckert 2011: 17)

      Vielmehr handelt es sich hier abermals nur um eine Bedingung. Wie sich ein Mensch zu dieser gedanklich stellt und zu welchen eigenen Überzeugungen er gelangt, ist prinzipiell offen. Um dennoch an der Unterstellung, die psychische Störung müsse durch innere oder äußere Ursachen bewirkt worden sein, festhalten zu können, werden weitere Ursachen gesucht, die ihrerseits Einfluss auf die Entstehung einer Depression haben sollen. Vertreter_innen der organischen Ursachenlehre führen nun beispielsweise psychische und soziale Ursachen ins Feld, die dafür verantwortlich sein sollen, dass


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