Das Ketzerdorf - In Ketten. Richard Rost
Читать онлайн книгу.Reichswesir Sokollu Mehmed, ausgestattet mit den Insignien eines Paschas, verschaffte sich nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich Gehör: »Ihr verehrungswürdigsten Offiziere, Befehlshaber, Kommandeure und Kapitäne. Welch große Taten habt ihr vollbracht zu Ruhm und Ehre unseres erhabenen und allmächtigen Sultans. Ihr habt das Reich vergrößert, Städte, Häfen und Meere gesichert, unseren Widersacher, den Habsburger, in die Schranken gewiesen und damit die Überlegenheit des Osmanischen Reiches demonstriert. Kaiser Rudolf II. lenkt nun seit einem halben Jahr die Geschicke des Habsburgerreiches. Er legt sein Augenmerk nicht auf die große Politik, sondern fördert die Künste, die Kultur und die Wissenschaften. An seinem Hof in Wien arbeiten die berühmtesten Mathematiker, Astronomen, Maler und Architekten. Militärische Angelegenheiten, Grenzsicherung und Waffenkammern interessieren ihn nicht. Zudem ist er mit Religionsstreitigkeiten beschäftigt, die das ganze Land in Zwist und Unruhe versetzt haben. Und so frage ich euch: Wie können wir im Reich von der Schwäche des Monarchen profitieren?«
»Zuerst einmal sollten wir nicht über die Grenzen blicken, sondern im eigenen Land für Fortschritt und Verbesserung sorgen!«, rief eine Stimme aus dem Hintergrund.
»Ne tür aptalsınız!1 Egal, ob der Kaiser schwach ist, das westliche Kriegswesen ist uns um mehr als eine ganze Generation voraus, daran müssen wir arbeiten. Wir sind nicht einmal in der Lage, die beschlagnahmten Waffen zu bedienen, geschweige denn, sie nachzubauen«, ertönte die hohe Stimme eines untersetzten Offiziers mit schwarzem Bart, rotem Kopf und funkelnden Augen.
Die Umstehenden nickten zustimmend.
»Wir haben unsere Flotte wieder aufbauen können, viertausend Galeeren liegen kampfbereit in den Häfen. Aber was nützt es uns? Mit Armbrüsten haben wir jämmerlich versucht, unsere Schiffe gegen die Kanonen der Habsburger zu verteidigen. Schande über uns!«, ergänzte ein hochdekorierter Kapitän.
»Die Zeit ist günstig, das Abendland wird von Hungersnöten und Seuchen geplagt. Manch einer der Handwerker denkt vielleicht daran, sein Glück in der Ferne zu suchen«, verkündete ein anderer Minister mit großer Gestik.
»Wie stellt ihr euch das denn vor, meine Freunde? Nur ein Einfaltspinsel, wie ich einer bin, entschuldigt den Begriff, Sokollu Mehmed, verlässt freiwillig seine Heimat und seine Familie. Die Pfaffen im Abendland rufen es täglich von den Kanzeln, dass wir Türken für alles Böse in der Welt verantwortlich sind. Die Stimmung ist gegen uns. Und außerdem: Jeder Meister ist strengstens darauf bedacht, seine Geheimnisse besser zu hüten als die Jungfräulichkeit der eigenen Töchter.« Die Turbane wippten unter dem Gelächter ihrer Besitzer. »Wir brauchen Spione, die versuchen, sich Zugang zu den Gießereien und Werkstätten zu verschaffen. Wir brauchen das Wissen, und wenn wir die Waffen bauen können, dann können wir sie auch bedienen«, fuhr der Dolmetsch fort und jeder im Diwan wusste, dass dieser sicherlich nicht zu den Einfältigen gezählt werden konnte.
Der Minister kam auf ihn zu. »Ich werde mit dem Sultan über dieses Problem sprechen, das meiner Meinung nach dringend angegangen werden muss, und vielleicht brauchen wir dann auch deine Hilfe. Ich habe eine Idee, wie wir uns das Wissen über die neueste Technik beschaffen könnten.«
»Mein Herr, es ehrt mich, und ich bin beschämt, Euer geschätztes Vertrauen genießen zu dürfen. Ihr könnt dem Sultan bestellen, dass er immer auf meine Hilfe zählen kann.« Insgeheim hoffte der Dolmetsch, dass der Minister ihn nicht in die finsteren und unsicheren Städte des Abendlandes zurückschicken würde.
1 Was seid ihr doch Dummköpfe!
2
Augsburg, im Herbst 1577
Raymund war fasziniert von der Stadt, den Gebäuden, gepflasterten Straßen, Kunstwerken und all den neuen Eindrücken. Wie klein erschien ihm Leeder, sein Heimatdorf, in dem er Mutter und Geschwister zurückgelassen hatte. Seinem kleinen Bruder Hans hatte er noch aufmunternd zugerufen: »Sei fleißig und strebsam, du willst einmal das Gut übernehmen!«
Seine Mutter hatte ihm das Kreuz auf die Stirn gezeichnet mit den Worten: »Vergiss Caspar nicht.«
Helena hatte hemmungslos in seinen Armen geweint, und erst als er ihr versprochen hatte, regelmäßig zu schreiben, war ein kleines Lächeln auf ihre Wangen zurückgekehrt. »Nimm meine Kappe, die brauch ich jetzt nicht mehr«, hatte er zu ihr gesagt und sie ihr zum Abschied in die Hand gedrückt.
Und der gute Karl hatte noch einen Ratschlag für ihn gehabt: »Weisch, Raymund, liaber hundert Neidar als oin Mitleidar. Du wersch es no alle zoige.«
Nach zwei Wochen im herrschaftlichen Haus von Onkel Hieronymus hatte dieser ihn mit einem Wagen ins Lechviertel fahren lassen, wo die Handwerker ansässig waren. Dort wurde er in der Werkstatt von Tiburtius Benzenauer erwartet. Eine Angestellte ging voraus und der Fuhrknecht half ihm, seine Kiste nach oben zu bringen. Das geräumige Zimmer mit einer engen Dachkammer tauschen zu müssen, machte ihm gar nichts aus.
»Ich bi… bin der Jos aus Lauingen«, strahlte ihn ein ellenlanger, dünner Bursche an und es klang wie ein kleines Lied. »Wir teilen uns die Kammer, sei willkommen!«
»Und ich heiße Raymund Rehlinger.«
»Du musst wissen, dass ich gerne singe, weil ich mir damit das Stottern abgewöhnt habe.«
Mit dem werde ich bestimmt gut auskommen, dachte sich Raymund. »Wie lange bist du schon beim Benzenauer?«
»Ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr«, antwortete Jos.
»Hast du denn selber schon eine Waffe gebaut?«
Jos lachte schallend. »Wo denkst du hin? Jetzt wirst du erst einmal dem Obergsell unterstellt und darfst für ihn Botengänge erledigen, abends die Werkstatt aufräumen, zusammenkehren, das Metall aus dem Dreck heraussieben und so weiter. Bis er dich an die Werkbank lässt, vergehen schon ein paar Wochen.«
»Wochen?«
»Aber dann hast du es überstanden. Der Obergsell heißt eigentlich Korbinian Greisinger, aber alle müssen Obergsell zu ihm sagen, einzig der Meister darf ihn mit seinem Vornamen ansprechen, weil er angeblich die Heiligengeschichte mit dem Bären so gerne hört. Wenn du ihn siehst, schau dir seine Pranken an, Raymund, und nimm dich in Acht!«
»Da hast du wohl schlechte Erfahrungen gemacht, Jos! Ich werde den Kerl einmal in Augenschein nehmen«, erwiderte Raymund.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Raymund die Organisation der Büchsenmacherei durchschaut hatte. In der Halle vom Benzenauer arbeiteten neben dem Meister noch fünf Gesellen, drei Lehrbuben und neun Gehilfen. Alle waren in den verschiedenen Bereichen Gießerei, Mechanik, Schäfterei, Marqueterie und Ziselierung tätig. Im hinteren Drittel war die Gießerei mit den Schmelzöfen und den Gussformen für die Kanonen, Rohre und andere Aufträge. Ganz hinten gab es einen Raum, dorthin durften nur der Obergsell und der Meister. Was jenseits der eisernen Tür geschah, war ein großes Geheimnis, das die beiden offensichtlich aneinanderschweißte. An den Wänden der ganzen Werkstatt hingen Dutzende von verschiedenen halb fertigen Schlossmechanismen. Die Werkzeuge waren an den Außenwänden über den Werkbänken aufgehängt, auf die durch große Fenster das Tageslicht fiel. In einem Seitenraum war die Schmiede mit dem gewaltigen Blasebalg und der Esse eingerichtet. Die Gesellen teilten sich die Arbeitsbereiche und hatten dafür die Verantwortung zu tragen.
Nach einigen Tagen, an denen Raymund das Gefühl bekam, den Leuten nur im Weg zu stehen, schickte ihn der Obergsell mit dem Handkarren los.
»Bring gefälligst die Sachen, die auf dem Zettel stehen, hast lang genug dumm herumgestanden!«
Raymund schob den Karren aus dem Hof, nahm das Lehrbuch heraus und versuchte zu wiederholen, was da stand.
»Zu den Aufgaben der Büchsenmacher gehört die Herstellung aller Arten von Feuerwaffen wie Handbüchsen, Kanonen, Mörser und …« Der Meister Benzenauer hatte ihn die Grundsätze des Berufs in sein Lehrbuch schreiben lassen. Auswendig lernen war überhaupt nicht Raymunds Stärke,