Ostfriesisches Komplott. Lothar Englert
Читать онлайн книгу.erste Opfer
»Wer tut denn so was?« Miekes Stimme versickert in der Kühle des frühen Vormittags. Die Oberkommissarin ist tief entsetzt. Grund dazu hat sie, aber man kann ihre Frage trotzdem seltsam finden. Von den Männern der Spurensicherung antwortet deshalb niemand, sie arbeiten verbissen weiter.
»Psychopathen. Leute, die nicht alle Tassen im Schrank haben. Irre halt«, grunzt schließlich einer. »Geh’n Sie doch mal weg, Frau Kollegin«, fordert er dann, »da ist noch etwas Blut.«
Mieke Janßen tritt noch weiter zurück, aber ihre Augen bleiben auf der Leiche. Albert Ukena, Immobilienmakler aus Aurich. Ein geachteter Bürger der Stadt, im letzten Jahrhundert hätte man ihn noch als Patrizier bezeichnet, als einen der Honoratioren. Gediegen. Erfolgreich. Wohlhabend. Sehr wohlhabend. Besitzer einer eleganten Agentur am Marktplatz und mehrerer Häuser in der Innenstadt. Großer Benz, Yacht, Villa in der Toskana, die ganze Klaviatur. Nun liegt er da, in seinen besten Jahren erstochen, mit einer dünnen langen Klinge. »Stilett oder so«, sagt der Arzt, »irgendein schmales Stecheisen. Soweit man jetzt sehen kann.«
Der Fundort liegt einige 100 Meter tief im Wallinghausener Wald, aber abgelegen ist er nicht. Er befindet sich wenige Schritte neben einer markierten Joggingstrecke. Der Tote ist dort wohl gelaufen. Man hat ihn abseits ins Gesträuch gezogen, ob postmortal oder lebend ist noch unklar. Spuren eines Kampfes gibt es jedenfalls nicht. Weder im Gesträuch, was darauf schließen lässt, dass Ukena schon tot war, als man ihn hier abgelegt hat, noch auf dem Weg. Dort liegt Schotter und Splitt, es gibt lose Steine, doch sie geben nichts Auffälliges her.
Die Stichwunde in der Brust ist klein, wohl tief, viel Blut ist trotzdem nicht ausgetreten. Als Ukena gefunden wird, ist sein Kopf mit einem grauen Klebeband umwickelt, einem Tape, wie man es im Baumarkt findet. Das Band verdeckt die Augen. Sie lösen es vorsichtig, weil ihnen Übles schwant. Und richtig: Die Augen sind ausgestochen.
Mit derselben Klinge?
Der Arzt hebt die Schultern. Möglich wäre es. Ohne die Tatwaffe zu sehen, sei es aber schlecht zu beurteilen. Höchstens näherungsweise. Genaueres müsse die Untersuchung der Gerichtsmedizin ergeben. Auf jeden Fall war das Messer scharf wie eine Rasierklinge. Es sei noch zu früh, um das zu sagen. Der Arzt mutmaßt knapp und in geknurrten Satzfetzen.
Über die dürren Worte des Mediziners verliert der Anblick kaum von seinem Schrecken; unter den Tränensäcken des Toten finden sich kleine öffnende Sichelschnitte. Lederhaut und Netzhaut sind sauber durchtrennt und die Glaskörper ausgelaufen. Unter leeren Augenhöhlen liegen die Linsen wie winzige Scheiben in kleinen Geleepfützen. Die Joggingstrecke ist abgesperrt, den Fundort der Leiche hat man großzügig trassiert und mit einem Wetterzelt abgedeckt. Die Spurensicherer bewegen sich vorsichtig darin, mit ihrer weißen Schutzbekleidung sehen sie aus wie verirrte Wintersportler.
Der ihn gefunden hat, steht abseits auf dem Weg und raucht wie ein Schlot. Mieke lässt ihn rauchen, es hat viel geregnet, der Wald ist nass. Sein Hund liegt neben ihm im feuchten Gras. Er geht diesen Weg mehrmals in der Woche, sagt der Mann.
Ist er heute jemandem begegnet?
Nicht direkt. Einen Reiter habe er gesehen, aber nur kurz und von Weitem, er sei nach Norden abgebogen, dort liegt ein Reitstall mit Einstellpferden.
Die Oberkommissarin fasst den Spaziergänger ins Auge. Dann wagt sie einen Schuss ins Blaue: »Die Leiche war noch warm. Es kann kaum angehen, dass Sie nichts gesehen haben.«
Der Mann zieht hastig an seiner Zigarette. »Ich? Gesehen? Ich habe überhaupt nichts gesehen. Kein Stück. Wenn der Hund nicht gewinselt hätte, wäre ich glatt an der Stelle vorbeigelaufen.«
»Der Hund hat also angeschlagen?«
Er schüttelt den Kopf. »Angeschlagen? Das habe ich nicht gesagt. Gewinselt hat er.«
»Und dann?«
»Hat er sich hingesetzt. Und nichts mehr gemacht.«
»Sie! Was Sie getan haben, will ich wissen.«
Er wirft die Kippe zu Boden und tritt sie aus. Tastet dann nach seiner Brusttasche, eher er die Hand zurückzieht. »Ich? Getan? Sie machen mir Spaß. Ich finde hier einen Toten und Sie tun so, als hätte ich ihn auf dem Gewissen.« Er zögert einen Augenblick, dann zieht er doch seine Zigaretten aus der Tasche und zündet sich eine neue an. Die Oberkommissarin wartet. »Der Hund wollte nicht weiter. Keinen Schritt. Er saß da und peilte ins Gebüsch. Da bin ich halt rein. Und dann habe ich die Leiche gefunden.« Er führt die Zigarette an den Mund, seine Hand zittert. »Ich bin mit den Nerven parterre. Mein Tag ist versaut, das können Sie glauben.«
Mieke sieht hinüber zum Fundort der Leiche, wo der Arzt soeben seinen Koffer schließt. Die Kollegen vom Erkennungsdienst sind noch emsig bei der Arbeit. »Und dann? Was genau haben Sie gesehen?«
Der Mann zieht die Nasefeuchte hoch, es klingt fast so, als hätte er geheult. »Gesehen? Was denn wohl? Ein Riesenrad auf der Auricher Kirmes? Eine Leiche. Mit einer blutigen Brust.«
»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«
Der Mann schnaubt. »Aufgefallen?«, echot er. »Glauben Sie denn, ich sehe jeden Tag einen Toten? Nein, Frau Kommissar, mir ist sonst nichts aufgefallen.« Er betont ihren Rang auf ironische Art. Mieke wendet sich ab.
Jetzt tritt der Arzt auf den Weg. »Bericht kommt. Die Leiche wird gleich abgeholt.«
Sie sieht ihn an. »Haben Sie noch etwas gefunden?«
Er zögert einen Moment, sein Blick wandert zwischen ihr und dem Zeugen hin und her. »Nein. Was ich zu sagen habe, steht dann im Bericht.« Er nickt und geht.
»Moin, Frau Janßen.« Der Zeuge will sich anschließen, er ruckelt an der Hundeleine, sein Bello kommt auf die Beine.
»Und dann haben Sie die Polizei angerufen?«, nimmt Mieke die Befragung wieder auf.
Darauf gibt der Mann keine Antwort. Er sieht sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Kann ich jetzt gehen?«
»Haben Sie dann die Polizei angerufen?«, herrscht sie ihn an. »Hören Sie mal, Herr Schmalfuß, ich frage nicht zum Spaß. Und Sie antworten gefälligst!«
Die Kollegen vom Erkennungsdienst sehen neugierig herüber.
»Vielleicht liegt es an Ihren Fragen?«, vermutet Schmalfuß aufsässig, und nun ist ihre Geduld erschöpft. Das sagt sie ihm auch.
»Das machen wir jetzt anders. Sie kommen morgen früh in mein Büro. Hier ist meine Karte. 8 Uhr sind Sie bei mir. Moin, Herr Schmalfuß.«
Er öffnet den Mund und will etwas erwidern. Dann sieht er ihre Augen und lässt es. Er steckt die Karte ein, nimmt seinen Hund und zuckelt davon.
Mieke Janßen verlässt den Waldweg und tritt an die Absperrung des Fundortes der Leiche. Einen Moment sieht sie den Kollegen bei der Arbeit zu. Die Seitenwände des Wetterzeltes sind hochgeschlagen. Nur drei Beamte halten sich darunter auf, mehr wäre abträglich, es sollen ja keine unnötigen Spuren hinzugefügt werden. Aus diesem Grund sind auch zwei Pfade angelegt, auf denen sich die Polizisten bewegen. Jede doch erforderliche Veränderung am Platz wird protokolliert, es wird auch festgehalten, wer sie durchgeführt hat. »Wie sieht es aus, Jupp?«, fragt Mieke.
Der Oberkommissar hebt den Kopf. Eigentlich heißt er Johann, Johann Dierks, aber jeder nennt ihn Jupp. Den Grund kennt niemand mehr. Angeblich hängt er damit zusammen, dass Dierks ein Riesenfan des rheinischen Karnevals ist und jeden Rosenmontag nach Köln fährt. »Standard, Mieke«, sagt Jupp jetzt nüchtern. Dann lacht er meckernd. »Blut und etwas Dreck. Dann das Übliche. Blasen- und Darmentleerung ante mortem, aber das hat dir der Doktor bestimmt schon gesagt. Man hat’s ja auch gerochen.«
Mieke hat nichts gerochen und der Arzt hat darüber kein Wort verloren. Sie gibt Jupp keine Antwort. Tritt zurück auf den Waldweg und mustert den Boden. Geht auch ein paar Schritte auf und ab. Die Stelle liegt in einer Kurve. Sie ist von keiner Seite einsehbar. Ein perfekt gewählter Platz für einen Mord – so scheint es zumindest.
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