Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte. Michael Borgolte
Читать онлайн книгу.in Indien die beiden Asketenreligionen des Jainismus und des Buddhismus. Nach seinem Weltbild ist der Jainismus auf Bhārata (Indien), den südlichen Teil des irdischen Zentralkontinents Jambūdvīpa („Insel des Rosenapfelbaums“), beschränkt. Die Jaina-Mönche dürfen sogar nur im Ārya-Land, im „reinen Land“ der Arier zwischen Sindhu (Indus) und Ganges, leben, während ihnen die anderen Völker Indiens als „Unreine“ (mleccha) gelten.502 Deshalb gelangte der Jainismus über Indien im Ganzen nicht hinaus, er hat aber hier bis heute mit einer sehr kleinen Population überlebt.503 Demgegenüber hatte sich der etwa gleichzeitig entstandene Buddhismus bis um die Mitte des ersten christlichen Jahrtausends über den gesamten Subkontinent verbreitet, verlor dann seine Dynamik und ist seit dem 13. Jahrhundert nahezu ganz aus dem Land verschwunden;504 durch missionierende Wandermönche, Händler und die religiöse Präferenz von Herrschern hatte der Buddhismus indessen schon damals auch Süd-, Südost- und Ostasien erfasst und avancierte neben Christentum und Islam bis zur Gegenwart zu einer der drei Weltreligionen.505 Gemeinsam ist beiden indischen Glaubensrichtungen die Trennung des Mönchtums (einschließlich der Nonnen) von den Laien.
Mahāvīra, der seinen Anhängern (jaina) als jina, als „Bezwinger“ oder „Sieger“, gilt,506 hatte schon zu Lebzeiten durch seine Askeseleistungen die „Allwissenheit“ erlangt und bei seinem Tod (wohl nach 527/526 v. u. Z.) die Ruhe des „vollkommenen Erlöschens“ (parinirvāṇa) erreicht: „Dogmatisch gesprochen heißt das: Der jīva, seine Seele, genauer ‚das Leben‘, hatte nicht nur den Körper, sondern alle stoffliche Substanz (speziell das Karma) für immer verlassen. Ohne den Ballast der Materie, sondern als etwas rein Geistiges, gewichtslos und (…) dem Windhauch vergleichbar, war sie in das Nirvāṇa eingegangen.“507 Die Abwertung der Materie ist für den Jainismus konstitutiv508 und lässt eine auf Seele und Leib bezogene Auferstehungslehre nicht zu. Solange die Lebewesen im unaufhörlichen Kreislauf von Werden und Vergehen befangen sind, verbindet sich der jīva, der als ewig gilt, mit den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft, wird durch Bindung an den Körper aber in Fesseln gelegt; seine Existenzformen als Mensch, Gott, Tier oder Höllenbewohner richtet sich nach dem Maß seines erworbenen Verdienstes.509 Wer viel puṇya angehäuft hat, kann in die Götterhimmel aufsteigen und dort sehr lange in Welten des reines Genusses verweilen; irgendwann aber erschöpft sich der Wert seines puṇya, so dass der jīva in eine Existenzform herabsinkt, die durch ein anderes, in einer anderen Existenz erworbenes Karma bedingt ist. Tier- und Höllenexistenzen sind durch böse Taten determiniert, aber auch diese Daseinsform dauert nicht ewig.510 Nur durch den rechten Lebenswandel (caritra) erlangt man die Wiedergeburt als Mensch,511 die erste wichtige Voraussetzung für den Weg zur Erlösung. Dem Laien ist es aber unmöglich, das ewige Heil zu erlangen.512 Der einzige Heilsweg steht dem Mönch offen, selbst Nonnen können ihn nicht gehen, sondern müssen erst als Männer wiedergeboren werden.513 Der Asket kann die Befreiung des jīva von der Fessel des Karmas erreichen, indem er sich von jeder Bindung an die Welt löst. Neben den Verboten, ein Lebewesen zu töten, zu lügen, zu stehlen und unkeusch zu leben, umfasst die fünfte Lebensregel der Mönche deshalb auch nicht nur den Verzicht auf materiellen Besitz,514 sondern umfassender den „auf Liebe zu irgendjemanden und irgendetwas: Denn Liebe erweckt Begehren und erzeugt Karman. Es fehlt (…) [im Jainismus] gänzlich der christliche Begriff der ‚Nächstenliebe‘. Und darüber hinaus sogar etwas, was der ‚Liebe zu Gott‘ entspräche. Denn es gibt keine Gnade und Vergebung, keine Reue, welche die Sünde auslöschte, und kein wirksames Gebet.“515
Die Jaina-Quellen bezeichnen Mönche und Nonnen als die „Bindungslosen“ und die „Frommen“, aber auch die „Unbehausten“ und die „Anteil Suchenden“, also die Almosen Begehrenden.516 Nach ihren Regeln sollen die Mönche auf ständiger Wanderschaft sein und von den Laien – den „Hausbewohnern“ – mit Nahrung und in der Regenzeit vorübergehend mit Obdach versorgt werden.517 Die Laien konnten analog zu den Mönchen „Kleine“ oder „Nachgeordnete Gelübde“ ablegen, die aber den praktischen Erfordernissen des weltlichen Lebens angepasst waren. Das fünfte von ihnen sah Spendenfreudigkeit und die Vermeidung großen Reichtums vor.518 Im Unterschied zu den Brahmanen(-Priestern) waren die Jaina-Mönche zu einer Gegenleistung verpflichtet, die in der Belehrung der Laien bestand.519
In dem Roman ‚Samarāiccakahā‘, der dem Jaina-Gelehrten Haribhadra-sūri im 9. Jahrhundert u. Z. zugeschrieben wird,520 erklärt ein Mönch einem Prinzen, also Laien aus der Führungsschicht, das System der Gaben. Unter den verschiedenen Arten des Spendens lehrt er über das Unterstützen der geistlichen Lehrer: „Das aber ist Essen, Trinken, Kleidung, der Almosentopf und geeignete Medizin; spenden soll der Besonnene auch Lager und Sitz von vorzüglicher Beschaffenheit. – Zu spenden ist demjenigen, der sich dem Studium und der Meditation hingibt und keinen Unterhalt hat. Wer die Last von Askese und Ordensdisziplin trägt, der wird durch diese Spende unterhalten. – Weil sein karman [also alles der unstofflichen Seele anhaftende Stoffliche] leicht ist, darum kann er sein eigenes Selbst und auch einen anderen Menschen den Ozean des Wesenskreislaufes überqueren lassen. Wer mit karman schwer beladen nicht einmal selber ihn überqueren kann, wie soll der einen anderen hinüberschiffen? (…) Rein im Hinblick auf den Geber wird eine Spende genannt, wenn der Geber Erkenntnis besitzt, frei ist von den acht Positionen des falschen Stolzes und vom Freudenschauer der Glaubenszuversicht überrieselt wird (…). Wer aber ohne Glaubenszuversicht spendet im Streben nach Ruhm und Ehre, oder wenn er aus eitlem Stolz gibt: ‚Gebe ich etwa nicht?‘ – solch ein Geber ist verblendet und sein Geist befleckt. Seine Spende gleicht einem Samen, der nicht viele Früchte bringt, denn es fehlt das Wasser der Glaubenszuversicht, mag die Gabe auch reichlich und von vorzüglicher Art sein.“521
Über die Spende der Erkenntnis, die offenkundig von den Mönchen gegeben werden soll, heißt es im selben Zusammenhang: „Das, wodurch eine Seele unterscheidendes Erkennen von Bindung und Erlösung gewinnt, das ist das Spenden von Erkenntnis, der Same für das Gedeihen seligen Glücks. Wenn das gespendet ist, dann wendet sich die Seele, die das reinigende Verdienst und das Böse in seiner Vielfalt restlos genau unterscheidend erkennt, dem einen zu und von dem anderen ab. – Der verdienstvollen Tat sich zuwendend erwirbt sie leicht das Glück der Sterblichen und Unsterblichen, vom Unglück der Höllenbewohner und Tiere aber wird sie frei, von allem Bösen abgewandt. – Und sie erwirbt auch das sehr weite Glück der Erlösung bereits durch die ununterbrochene Kette der glücklichen Existenzen (als Mensch); das ist die Macht ebendieses reinen Erkennens. Weil sowohl in dieser als auch in jener Welt durch Erkenntnis die Seele Glück erwirbt, darum ist das eine vorzügliche Spende.“522
Die radikale Unbehaustheit und Armut ließ eigentlich keine Stiftungen an Jaina-Mönche und -Nonnen zu. Trotzdem sind im mittelalterlichen Jahrtausend auch Tempel- und Klosterstiftungen für sie bezeugt; zusammenfassend schreibt darüber Annette Schmiedchen: „Die Zahl der jinistischen Stiftungen war gesamtindisch gesehen stets relativ gering und konzentrierte sich regional vor allem auf bestimmte Gebiete in Westindien (Gujarat) und im Süden (Karnataka und Tamilnadu). Im Unterschied zum Buddhismus kamen Stiftungen zugunsten von Jaina-Institutionen jedoch auch nach dem 10. Jahrhundert nicht zum Erliegen. Die mittelalterlichen jinistischen Stiftungen gingen an die männlichen Vertreter dieser asketischen Tradition und begünstigten teilweise Mönche und Nonnen gemeinsam (…). Empfänger der Dotationen waren entweder Jaina-Institutionen oder einzelne Jaina-Asketen, die durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Schulrichtungen charakterisiert sind (…). Die Kultbauten der Jainas waren nicht nur Mahāvīra Jina (…) gewidmet, sondern – da dieser nach Jaina-Auffassung 23 Vorgänger hatte – auch den sogenannten ‚Furtbereitern‘, den Tīrthaṃkaras. Stiftungen sind vor allem für Tempel des Ādinātha (Nr. 1), Candraprabha (Nr. 8) und Pārśvanātha (Nr. 23), des unmittelbaren Vorgängers des Mahāvīra Jina, belegt (…). Die einschlägigen Stiftungsurkunden enthalten meist nur Bestimmungen zur Erhaltung der Bauwerke und zu kultischen Verrichtungen. In relativ wenigen Inschriften ist festgelegt, dass die betreffenden Dotationen auch für die Speisung von Jaina-Asketen zu nutzen waren.“523
Die Stifter konnten freilich auf diesem Weg nur ihre Aussichten auf eine bessere Wiedergeburt erhöhen, nicht aber etwas für ihr Seelenheil tun. ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ hatten im religiösen System des Jainismus überhaupt keinen Platz. Erlösung war nur möglich durch radikale Askese (sanskrit.: tapas), die bis zum freiwilligen