Bin kaum da, muss schon fort. Sabine Herold
Читать онлайн книгу.Vielleicht hilft es und sensibilisiert, mit Betroffenen, die ein Kind verloren haben – und war es auch noch so klein oder jung und ungeboren –, im Schmerz mitzufühlen und Anteil zu nehmen: auch mit wenigen Worten; durch Da-Sein, durch Zuhören oder auch durch Schweigen.
Ich danke an dieser Stelle allen, die sich bereit erklärt haben, mitzumachen, sich zum Teil sogar noch einmal dem tiefen Schmerz zu stellen, aber dadurch auch noch einen Schritt weitergekommen sind. Ich danke ganz besonders denen, die den Mut hatten, ihren Namen unter ihren Text zu setzen, auch den Männern, die bereit waren, ihre Perspektive mitzuteilen.
Sabine Herold
Zum Aufbau des Buches
Normalerweise wird zwischen Fehlgeburt (frühe und späte Fehlgeburt) und Totgeburt unterschieden. Eine frühe Fehlgeburt geschieht bis zur 12. Schwangerschaftswoche, eine späte bis zur 25. Von Totgeburt spricht man, wenn das Kind über 500 g schwer ist und im Mutterleib oder während der Geburt stirbt.
Ich nehme in diesem Buch eine andere Einteilung vor. Es gibt Frauen, denen das Kind sehr früh im Mutterleib abstirbt und die es dann durch Blutungen oder eine Ausschabung (Curettage) verlieren. Die Berichte dieser Frauen finden sich im ersten Teil: Die fehlende Geburt: Ein Kindes stirbt im Leib der Mutter in der frühen Schwangerschaft.
Bei anderen Frauen stirbt das Kind in einer späteren Schwangerschaftsphase. Ab etwa der 12. – 16. Woche kann das Kind nicht mehr durch eine Curettage geholt werden und muss geboren werden. Hier liegt für mich der entscheidende Unterschied. Berichte hierüber bilden den zweiten Teil: »Geburt des Todes: Ein Kind stirbt im Leib der Mutter und muss tot zur Welt gebracht werden«.
Die persönlichen Beiträge sind meines Erachtens wertvoll und nicht durch ein Fachbuch zu ersetzen. Andererseits soll das Buch nicht allein auf der persönlichen Erfahrung gründen, sondern auch Wissen vermitteln und durch Informationen Hilfestellung geben. In einem dritten Teil »Trauern erlaubt! Ein steiniger, aber lohnender Weg. Fachbeiträge zum Thema Trauerprozess« kommen zwei Hebammen zu Wort, die Frauen in und nach einer Fehlgeburt bzw. Totgeburt oder auch in einer Folgeschwangerschaft begleiten. In einem weiteren Beitrag werden die Phasen der Trauer erklärt.
Und Gott? Die Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott gerade in solch schmerzhaften Situationen soll ein Anfang neuer Hoffnung nach den Verlusterfahrungen und ein Trost sein, dass auch der noch so kleinste Hauch von Leben in Gottes Händen ist.
Das Buch schließt mit einem Anhang, in dem weiterführende Informationen, Adressen, Internetseiten und Literatur aufgeführt sind, die weiterhelfen sollen, sich in das Thema zu vertiefen oder mit Anlaufstellen Kontakt aufzunehmen.
Teil I
Die fehlende Geburt
Ein Kind stirbt im Leib der Mutter in der frühen Schwangerschaft
Geburt ohne Kind
Ich habe es mir auf dem Sofa bequem gemacht, die Beine hochgelegt und versuche nun, mich zu entspannen. Ich will mich schonen, aber das ruhige Liegen fällt mir schwer. Mit einem dreijährigen Wildfang ist das fast unmöglich. Aber jetzt liege ich da. Ich bin in der achten Woche schwanger. Vor vier Tagen haben leichte bis mittlere Blutungen eingesetzt, die mich schockiert und verwirrt haben. Im ersten Moment habe ich gedacht, dass nun alles aus sei, und mich gleich auf den Weg ins Krankenhaus gemacht. Es war nicht alles aus. Der Ultraschall war in Ordnung. Die Ärztin hat mich beruhigt, und ich bin wieder nach Hause gefahren – nicht ganz so beruhigt. Zwischendurch haben die Blutungen aufgehört, dann sind sie wiedergekommen. Seit Tagen geht das so, aber es scheint ein bisschen besser geworden zu sein. Ich habe wieder Hoffnung und versuche, alles ruhiger zu nehmen. Sämtliche Termine sind abgesagt. Ich bleibe zu Hause.
Der Stich durch die Seele
Auf einmal geht ein schmerzhafter Stich durch meinen Unterleib. Ich erschrecke, ahne Schlimmes. Es kommt mir vor, als sei mein Kind soeben gestorben. Aber ich weiß es nicht. Wenig später bekomme ich starke Schmerzen. Alles zieht sich zusammen.
Ich mache mich auf den Weg ins Bad. Blut. Ich blute wie verrückt. Es hört nicht mehr auf. Und es tut weh. Das ist nicht normal, denke ich. Ich sehe nicht nur Blut. Da kommt mehr raus: schwarze Klumpen. Ich weine. Jetzt weiß ich, dass ich mein Kind verloren habe.
Wenig später kommt eine Freundin und fährt mich in die Praxis meiner Gynäkologin. Die Ärztin macht einen Ultraschall. Von einer Schwangerschaft ist keine Spur mehr zu sehen. Aus. Vorbei. Die Ärztin reagiert sehr einfühlsam und erzählt mir, dass sie selbst drei Fehlgeburten gehabt habe. Meistens verliere eine Frau ein Kind, wenn ein genetischer Fehler vorliege. Aber das sei trotzdem sehr traurig, da es in unseren Köpfen schon ein fertiges Baby sei.
Mein Kopf versteht, aber mein Inneres kann noch nicht fassen, was in den letzten Stunden geschehen ist und was ich gerade mitgeteilt bekommen habe: keine Schwangerschaft mehr, kein Kind mehr.
Ein Mädchen?
Gerade bin ich aus der Narkose aufgewacht. Die Ausschabung liegt hinter mir. Regelmäßig überwacht eine Krankenschwester meine Werte. Die anderen Betten in meinem Zimmer sind leer. Wenn ich zwischendurch allein bin, weine ich hemmungslos.
Die Tür öffnet sich, und mein Mann kommt herein. Sein Anblick tut mir gut. Er hat mir etwas zum Schreiben mitgebracht. Kaum ist er wieder weg, laufen die Tränen von neuem. Ich erinnere mich an einen Traum, ein paar Nächte, bevor die Blutungen kamen:
Ich merke, dass die Wehen losgehen. Alles geht schnell. Schon liege ich im Kreißsaal, vom Personal umgeben. Die Schmerzen sind unbeschreiblich. Die Freude ist umso größer, als das Kind da ist. Ein Mädchen.
Aber wieso schon die Geburt? Ich bin doch noch am Anfang der Schwangerschaft. Es dauert eigentlich noch sieben Monate.
Jetzt ist meine Schwangerschaft zu Ende. Es dauert keine sieben Monate mehr. Das Kind ist »geboren«– ein Mädchen. Irgendwie hilft mir der Traum von letzter Woche, denn nun ist das Kind kein »Etwas« mehr, sondern hat ein Geschlecht, ist eine Persönlichkeit – meine Tochter!
Brief an mein Kind
Ich nehme den Block, den mein Mann mitgebracht hat, und schreibe einen Brief an mein Kind, aber auch einen Brief an Gott, den ich im Hier und Jetzt nicht verstehe:
Jetzt ist alles vorbei. Kein Kind mehr in mir. Die Angst und Unsicherheit der letzten Tage sind gewichen. Nur der Schmerz bleibt: der körperliche Schmerz im Bauch; die Lücke, die du einst ausfülltest – und der Seelenschmerz.
Mein Kopf will erklären; meine Seele weint. Du bist tot. Und mit dir ist ein Teil meines Herzens gestorben.
Auch wenn mein Körper schon bald den alten Zustand wiedererlangt hat, ist meine Seele noch bei vorgestern, als du noch da warst; bei gestern und bei heute, als mich der Schmerz durchdrang. Meine Seele ist noch nicht im Jetzt angekommen, hat noch ein Kind – und wird dich immer als Kind haben, auch wenn du dann vielleicht im Zimmer der Erinnerung wohnst.
Dein Tod ist im Moment das Schlimmste für mich. Es ist nicht das Ende der Welt. Es ist das Ende meiner Welt!
Das Leben geht weiter; die Zeit läuft unaufhörlich – doch bei mir steht sie still. Gott, ich weiß nicht warum. Aber ich frage dich – und ich warte auf eine Antwort!
In der Nacht wechseln sich Schlaf- und Wachphasen ab. Wenn ich einschlafe, träume ich komische Sachen rund um die Fehlgeburt. Ich weine im Traum und erwache auch weinend.
Schon früh am anderen Morgen beginnt der Tagesbetrieb. Immer noch muss ich weinen. Dann wird ein Bett nach dem anderen neben mir belegt.