Der Penis-Komplex. Gerhard Staguhn
Читать онлайн книгу.sollen sich vermehren, nicht irgendwie, sondern indem sie, nicht anders als die Tiere, geschlechtlich miteinander verkehren. Zwar spricht Gott das nicht explizit so aus, aber, daran kann kein Zweifel bestehen, Er meint es so. Im Sexuellen macht Gott keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Gott hat sich in dieser Hinsicht für den Menschen nichts Eigenes ausgedacht. Der Mensch koitiert nicht anders als alle Säugetiere. Sexuell ist der Mensch auch nur ein Tier: das Menschentier.
Weil Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, müssen logischerweise auch die menschlichen Geschlechtsorgane dem Bilde Gottes entsprechen. Denn ein Ebenbild ist immer etwas Ganzes, nichts Halbes. Und weil Gott einen Mann und eine Frau erschaffen hat, betrifft die sexuelle Ebenbildlichkeit nicht nur Penis und Skrotum des Mannes, sondern ebenso Klitoris und Vulva der Frau. Daraus folgt die irritierende, aber zwingende Erkenntnis, dass der biblische Gott, um der von Ihm gewünschten Ebenbildlichkeit gerecht zu werden, ein geschlechtliches, genauer: ein doppelgeschlechtliches Wesen sein muss. Gott ist männlich und weiblich zugleich. Der biblische Gott ist Gott und Göttin in Einem.
Die mutmaßlich männlichen Autoren der Bibel sahen das freilich anders. Sie waren zwanghaft darum bemüht, uns einen männlichen Gott, das heißt eine sexuell halbierte Gottheit zu präsentieren. Allerdings ist in der Bibel von Gottes männlicher Geschlechtlichkeit an keiner Stelle die Rede. Sie wurde schlichtweg übergangen, man könnte auch sagen: verdrängt. Der patriarchalische Gott ist auf rätselhafte Weise ›geschlechtslos-männlich‹. Aber auf keinen Fall ist Er weiblich. Er ist nicht mal ›geschlechtslos-weiblich‹. Das hat eine paradoxe Konsequenz: Der ›geschlechtslos-männliche‹ Gott hat seinen beiden menschlichen Ebenbildern Genitalien verliehen, die Er selber entbehrt. Das ist das grundlegende, nämlich sexuelle Dilemma der biblischen Ebenbildlichkeit. Gott schafft den Menschen nach seinem Bild, gestaltet ihn aber nicht grundsätzlich anders als einen Schimpansen oder Kragenbären. Wenn der Mensch sowohl ein Ebenbild Gottes als auch des Tieres ist, dann ist in logischer Konsequenz auch das Tier, vermittelt über den Menschen, ein Ebenbild Gottes. Konsequent weitergedacht, führt das dazu, dass die ganze Schöpfung ein Ebenbild Gottes ist. Schöpfer und Schöpfung würden so in eins zusammenfallen.
Doch der Gott der Bibel darf kein Tier sein. Anders als die griechischen Götter, koitiert der biblische Eine nicht. (Nur nebenbei bemerkt: Die griechischen Götter koitieren – untereinander und mit Menschen –, aber sie defäzieren nicht, obwohl sie genüsslich speisen.) Erst das Christentum wird unter dem griechischen Einfluss, den der Apostel Paulus zu verantworten hat, dem Einen Gott einen einzigen Koitus erlauben, wenn auch nur auf die transzendente Art: Der Vater im Himmel, präziser: sein Heiliger Geist, schwängert die irdische Jungfrau Maria, ohne dass sie dabei ihre Jungfernschaft verliert. Er zeugt mit ihr den Menschensohn nicht mit der Kraft eines göttlichen Gemächts, sondern nicht anders als bei der Welterschaffung: mit der Allmacht seines Geists. Wenn man so will, dann wird die Jungfrau Maria vom sprechenden Geist Gottes durch das Ohr geschwängert. Das Ohr dient seit alters in vielen Kulturen als Symbol für das weibliche Genitale. So wird die Vulva auch als das ›Ohr zwischen den Beinen der Frau‹ bezeichnet. Satan weiß sehr wohl, was er tut, wenn er sich in Gestalt der Schlange, die für den Penis steht, in Evas Ohr einschleicht, oder treffender: einschleimt. Buddha, so die Legende, wird nicht nur über das Ohr seiner Mutter gezeugt, sondern über dieses auch geboren. Kassandra, die große Seherin des griechischen Mythos, gewinnt ihre seherische Gabe, nachdem ihr eine Schlange – da haben wir wieder der Penis! – das Ohr ausleckt. Im veralteten deutschen Sprachgebrauch gibt sich die Frau dem Mann hin, indem sie ihn ›erhört‹, ihm ›Gehör schenkt‹, soll heißen: ihm ihr ›Ohr zwischen den Beinen‹ schenkt.
Gottes matriarchalische Seite
Das biblische »Mehret euch!« verweist, bei aller Dominanz des Patriarchalischen in der Bibel, auf einen matriarchalischen Ursprung der Schöpfungsgeschichte, der mit der gebärenden Weiblichkeit des göttlichen Geists bereits angedeutet wurde. Es ist typisch für matrilineare Kulturen, dass sie ihre Wertmaßstäbe aus der sexuellen Konstitution der Frau ableiten. Liebe und Sexus betrachten sie als Erfüllung des göttlichen Willens zur Fortpflanzung. Die Sexualität wird im Matriarchat als Werkzeug der Großen Göttin im Dienst des Lebens aufgefasst. Aus matriarchalischer Sicht ist der Orgasmus eine Art von Offenbarung, durch die der Mensch die göttlich-weibliche Schöpfungsekstase für ein paar Sekunden nachempfinden darf – auch der Mann!
Das biblische »Mehret euch!« zielt vor allem auf die Frau als Schöpferin neuen Lebens; das Schöpfertum des Gebärens verleiht ihr einen göttlichen Glanz. Dem Mann bleibt dieser Glanz der ›Göttlichkeit‹ versagt. Daran ändert auch seine kleine Samengabe nichts, die die Frau zu ihrem Schöpfertum benötigt, wobei zu bedenken ist, dass in den matriarchalischen Frühkulturen der Zusammenhang zwischen Koitus und Schwangerschaft noch nicht gesehen wurde. Vielmehr stellte man sich vor, dass sich die Kinder als winzige Geister in den Schoß der Mutter einnisten, gewöhnlich unter Mitwirkung des Geistes einer verstorbenen Verwandten der Schwangeren.
Was die alten Muttergottheiten betrifft, so zeichneten sie sich vor allem durch die Qualität der Doppelgeschlechtlichkeit aus. Würde man, im Stil der Antike, das Abbild einer matriarchalischen Urgottheit gestalten, so müsste es fraglos hermaphroditisch, also zweigeschlechtlich sein. In der zweigeschlechtlichen Gottheit spiegelte sich die grundsätzlich bisexuelle Natur des Menschen, ja aller Lebewesen.
In der Erschaffung von Mann und Frau spaltet die männlich-weibliche Gottheit unter dem Diktat des Patriarchats ihre Doppelgeschlechtlichkeit in zwei Geschlechter auf. Hier denkt man unweigerlich an Platons berühmte Hypothese zum Ursprung der menschlichen Sexualität, die er im Symposion durch den Komödiendichter Aristophanes (ca. 445 v. Chr. – ca. 385 v. Chr.) entwickeln lässt. Danach werden Mann und Frau durch den Sexualtrieb unwiderstehlich zueinander getrieben, weil sie einen Urzustand wiederherzustellen trachten, in welchem das Männliche und das Weibliche noch eins waren. Mann und Frau, so erzählt der Mythos, gingen aus einem idealen mannweiblichen Urwesen hervor, an dem alles doppelt war: Es hatte vier Arme, vier Beine, zwei Gesichter und auch doppelte Geschlechtsorgane, sowohl Penis/Skrotum als auch Klitoris/Vagina. Doch Zeus, dem Göttervater, war dieses Wesen, das man sich als ein glückliches vorstellen muss, suspekt. Denn glücklich waren nicht mal die Götter. Und so ließ Zeus dieses menschliche Urwesen aus purem Neid zerteilen. Seitdem verspüren beide Hälften das unbezwingbare Verlangen, wieder eins zu werden. In der geschlechtlichen Vereinigung, wenn sie denn glückt, dürfen die beiden Halbwesen für kurze Zeit wieder eins sein. Damit ist die Sexualität der Urtrieb des menschlichen Daseins, wie ihn auch Sigmund Freud (1856 – 1939), in Anlehnung an Platon (ca. 427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.), verstanden hat. Platons Mythos nimmt die moderne, von Freud begründete Erkenntnis vorweg, dass wir als Männer auch das Weibliche, und als Frauen auch das Männliche in uns tragen. Wenn wir als Mann eine Frau begehren, so begehren wir auch das Männliche in ihr, das wiederum mit dem Weiblichen in uns korrespondiert. Und umgekehrt.
Der hermaphroditische Gott
Wenn wir uns die schöpferische Gottheit des ersten Bibel-Kapitels als ein doppelgeschlechtliches Wesen vorstellen – die Bibel zwingt uns dazu –, so drängt sich die Nähe zum antiken griechischen Mythos auf, die ohnehin durch die erwähnte platonische Vorstellung eines doppelgeschlechtlichen Urwesens gegeben ist. Dass für die streng patriarchalische Bibel ein hermaphroditisches Gottesbild inakzeptabel ist, bedarf keiner Erklärung. Auch das Patriarchat im klassischen Griechenland hatte mit der Figur des doppelgeschlechtlichen Hermaphroditos, dieser von Hermes und Aphrodite gezeugten Gottheit, ein Problem. So zeigen die überlieferten Darstellungen fast immer einen patriarchalisch zugerichteten, man könnte auch sagen: entschärften Hermaphroditen. Seine Körperformen sind auffallend weiblich, einschließlich weiblicher Brüste, doch es fehlt ihm ein weibliches Genitale bei stets vorhandenem Penis. Die patriarchalisch geprägte Ästhetik des klassischen Griechenlands sah in den weiblichen Geschlechtsteilen ohnehin nur etwas Fehlendes – voran das Fehlen ästhetischer Reize. Die Götter, so dachte man, hätten das Genitale der Frau ästhetisch nicht nur vernachlässigt, sondern bewusst hässlich gestaltet. So fiel es, nebenbei bemerkt, den stark päderastisch ausgerichteten Griechen leicht, den Anus des Knaben ›edler‹ zu finden als die Vulva der Frau.
Da die Männer der griechischen Antike an der Vulva nicht sonderlich interessiert