Das Schweigen redet. Johannes Czwalina

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Das Schweigen redet - Johannes Czwalina


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hatte einige Tage lang Depressionen, nachdem seine Katze gestorben war (nachzulesen in seinen Tagebüchern), während er in seinem Berufsalltag die grauenhaftesten Hinrichtungen ohne jegliche Gewissensbisse mitverantwortete. Viele Naziverbrecher haben in Nürnberg und vor Gericht ausgesagt, sie hätten nur ihre Pflicht getan. Der einzelne Täter floh damit quasi in die Kinderrolle. Er stellte sich in den Schutz des „Übervaters“.

      Auch Eichmann brachte dieses Selbstverständnis zum Ausdruck: „Ich war nichts anderes als ein getreuer, ordentlicher, korrekter, fleißiger und nur von idealen Regungen für mein Vaterland, dem anzugehören ich die Ehre hatte, beseelter Angehöriger der SS und des Reichssicherheitshauptamtes … “51

      Mit dem Beginn des Dritten Reichs wurde die deutsche Gehorsamstugend für pervertierte Ziele missbraucht. Die meisten Deutschen waren sich dieses Mechanismus nicht bewusst. So gerieten die sittlichen Grundbegriffe ins Wanken. An ihre Stelle traten nun aus pervertiertem Gehorsam entweder selbstquälerische Skrupel, die nie zur Tat führten (Mitläufer), oder aber verantwortungslose Skrupellosigkeit. Gerade die gehorsamen und pflichtbewussten Bürger wurden so zu Tätern. Sie haben Menschen ausgepeitscht, ausgehungert, ihnen Schmerzen zugefügt, sie auf Todesmärsche geschickt, sie mit Gewehrkolben niedergeschlagen, eingesperrt, in Ghettos gepfercht, bombardiert. Sie haben Mütter mit ihren Kindern auf den Armen erschossen.

      Hitler selbst stand Pate für das übergeordnete personale Gewissen. Ihm gegenüber war blinder Gehorsam gefragt. Gegenüber dieser Gehorsamspflicht wurde das subjektive Gewissen als zweitrangig eingestuft. Der „Führer“ konnte ja nicht irren.

      Aus diesem uneingeschränkten Glauben an die Unfehlbarkeit des Führers heraus konnte Rudolph Höß in seinen autobiografischen Aufzeichnungen vermerken: Ich habe auch beobachtet, dass Frauen, die ahnten oder wussten, was ihnen bevorstand, mit der Todesangst in den Augen die Kraft noch aufbrachten, mit ihren Kindern zu scherzen. Eine Frau trat einmal im Vorbeigehen ganz dicht an mich heran und flüsterte mir zu, indem sie auf ihre vier Kinder zeigte, die sich brav angefasst hatten, um die Kleinsten über die Unebenheiten des Geländes zu führen: ‚Wie bringt Ihr das nur fertig, diese schönen, lieben Kinder umzubringen? Habt Ihr denn kein Herz im Leibe?‘ … Ich erlebte auch, dass eine Frau aus der Kammer beim Zumachen ihre Kinder herausschieben wollte und weinend rief: ‚Lasst doch wenigstens meine Kinder am Leben.‘ So gab es viele erschütternde Einzelszenen, die allen Anwesenden nahegingen. Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöftes, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod.52

      Der Kadavergehorsam des nationalsozialistischen Mitläufertums war der gesamtgesellschaftliche Ausdruck von Strukturen, die in der Familie und ihren patriarchalischen Erziehungsformen bereits angelegt waren.

      „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Erziehung von der als selbstverständlich geltenden obersten Sekundärpflicht des Gehorsams bestimmt. Ziel waren Anpassung und Unterwürfigkeit unter die jeweils gegebenen herrschaftlichen Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft, und Ungehorsam sollten schon die Kinder als Schuld erleben. Dazu diente die ‚schwarze Pädagogik‘, die Dressur der ‚von Kindesbeinen an bösen‘ Raubtiere mit Zuckerbrot und Peitsche, in der Regel durch den Vater, der auch juristisch berechtigt war, seine Kinder und seine Frau zu schlagen. So gab er weiter, was er selbst als Kind erfahren hatte: Schmerz, Trauer, Vertrauensverlust, Entwürdigung, Schuldgefühle und Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Durch solche Beschämungen und Kränkungen wurden Trotz, Verstocktheit, Verbitterung, Hass, Rache und Rohheit begünstigt oder gar geschaffen, die sich dann auswirkten, wenn die ursprünglichen Opfer Gelegenheit bekamen, selbst zu Tätern zu werden. So wurde auch ich mit Rohrstock zu Hause und in der Schule erzogen, und man marschierte im Gleichschritt in der Hitlerjugend mit … Als Kind hatte ich ja – wie schon mein Vater – Mitgefühl nicht erlernt oder durch Schläge verlernt. Barmherzigkeit war schon vorher in der bürgerlichen Gesellschaft kein Wert und wurde im ‚Dritten Reich‘ manchmal schon mit dem Tode bestraft, wenn es nur geäußert wurde. Ich schäme mich heute noch meines Erstaunens, als ein Freund angesichts einer Frau mit Judenstern zu mir sagte: ‚Die armen Juden!‘ So etwas hatte ich sonst weder gehört noch gefühlt und selbst kurz vorher eingestimmt in den Ruf ‚Jude, Jude!‘, den Spielkameraden erhoben, als auf der anderen Straßenseite ein jüdischer Junge mit gesenktem Kopf vorüberging.53

      Und die Tochter eines SS-Erschießungskommandoleiters in der Ukraine kommentiert:

      Mein Vater war ein richtig korrekter Beamter, der bestimmt nie eine Schummelei gemacht hat mit einer Reisekostenabrechnung oder Ähnlichem. Er hatte das preußische Pflichtbewusstsein. Vor Gericht hat er gesagt, er habe gewusst, dass es Unrecht war, aber alles andere wäre absurd gewesen, er hätte keine Möglichkeit gehabt, diese Befehle zu verweigern, die er bekommen hat und weitergegeben hat. Es ist dasselbe Pflichtbewusstsein, das sonst auch etwas Positives sein kann, das ihn aber in dieser Situation versagen lässt: Wenn der Staat mir befiehlt, egal, wie verbrecherisch es ist, dann tue ich es einfach, weil ich ein pflichtbewusster Beamter bin.54

      Die Theologin Dorothee Sölle zieht daraus die Schlussfolgerung: „In unserer christlichen, deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts hat Gehorsam eine katastrophale Rolle gespielt. Ich vermute, dass wir heute als Christen die Pflicht haben, den Gehorsam überhaupt zu kritisieren, und dass diese Kritik radikal sein muss.“55 Der Ausbruch der 68er Generation in den „Ungehorsam“ sollte auch im Licht dieser Gedanken betrachtet werden.

       Wenn der Mensch sich anmaßt, eine Welt zu erschaffen, in der das Böse eliminiert ist, dann richtet er eine Welt des Schreckens ein, in der das Böse herrscht.

      Dierk Juelisch, Psychoanalytiker56

      Adolf Hitler erklärte im April 1943 dem ungarischen Reichsverweser von Horty:

      Sie (die Juden) sind wie Tuberkelbazillen zu behandeln, an denen sich ein gesunder Körper anstecken kann. Das ist nicht grausam, wenn man bedenkt, dass sogar unschuldige Naturgeschöpfe wie Hasen und Rehe getötet werden müssen, damit kein Schaden entsteht. Weshalb soll man die Bestien, die uns den Bolschewismus bringen wollen, mehr schonen?57

      In einer Rede 1943 erntete Heinrich Himmler von niemandem Widerspruch, als er sagte:

      Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit ein ganz schweres Kapitel erwähnen … Ich meine jetzt die Ausrottung des jüdischen Volkes … Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn fünfhundert da liegen oder wenn tausend da liegen. Das durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.58

      Es ist verblüffend, wie Himmler hier auch implizit zum Schweigen der Täter aufruft! Jürgen Müller-Hohagen kommentiert:

      Diese Menschen waren verschmolzen mit der ‚Vision des Gärtners‘. Die ganze Gesellschaft sei nach dem Modell eines perfekten Gartens zu gestalten und alles Störende wie Unkraut auszurotten. Mit dieser Vision verschmolzen zu sein bedeutet den Einsatz der ganzen Person für dieses Ziel, und hier geht es aber, wie das Bild des perfektionistischen Gärtners anspricht, um Vernichtung.59

      Der polnisch-britische Soziologe Zygmund Baumann bringt es auf den Punkt:

      Der moderne Genozid ist ein Element des ‚Social Engineering‘. Die Beseitigung des Störenden sei eine Notwendigkeit, die sich aus der übergeordneten Zielsetzung ergibt. Diese Zielsetzung ist die Vision einer besseren, von Grund auf gewandelten Gesellschaft. Der moderne Genozid ist ein Instrument des ‚Social Engineering‘, mit dem eine soziale Ordnung etabliert werden soll, die dem Entwurf einer perfekten Gesellschaft entspricht […] Das ist […] die Vision des Gärtners, nun allerdings über die ganze Welt gelegt […] Dieser Gärtner hasst das Unkraut, das Hässliche inmitten des Schönen, die Unordnung inmitten der Ordnung […] Nicht als solches muss das Unkraut ausgerottet werden, sondern weil es die schönere Ordnung des Gartens verhindert […] Der moderne Genozid, wie die moderne Kultur allgemein, ist eine gärtnerische Tätigkeit, sozusagen eine gärtnerische


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