Das Schweigen redet. Johannes Czwalina

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Das Schweigen redet - Johannes Czwalina


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      Im Gegenteil: Sie wirkten oberflächlich betrachtet oft zäher und abgehärteter als nicht betroffene Zeitgenossen.

      Vierzig Jahre nach der Schoah, nach einem abgehärteten Leben, brechen auffallend viele psychisch zusammen und suchen erst am Ende ihres Lebens – wesentlich öfter als andere Gleichaltrige – psychologische Beratung. Sie wollen sich jetzt aussprechen, meiden aber für ihr Anliegen Kliniken und Psychiater.

      Der Holocaustüberlebende und Kinderpsychiater David de Levita (geb. 1926) begründet dieses Phänomen so: „Im Laufe der Jahre, nachdem man überlebt hat, halten sich zwei Komponenten die Waage: die Schuld, dass man überlebt hat, und der Triumph, dass man überlebt hat. Im vorgerückten Alter jedoch ist der Triumph dahin. Man steht der unausweichlichen Tatsache des eigenen Todes (ein zweites Mal) gegenüber. Diese Verschiebung ist der zentrale Konflikt des Überlebenden. Man hat in seiner Psyche verinnerlicht, dass man für immer dem Reigen des Todes entsprungen sei. Und jetzt zeigt sich, dass schließlich niemand dem Tod entkommt. So gibt es zwei Sorten von Überlebenden: Den einen geht es im Laufe ihres Lebens besser, weil sich ihr Schuldgefühl verringert. Die anderen brechen nach einer Periode der Latenz zusammen, weil das Gefühl des Triumphierens über den Tod, das sie in Gang hielt, im Angesicht des Todes zusammenschrumpft. Albträume, Angst- und Panikanfälle plagen plötzlich die älteren Leute der ersten Generation, die körperlich kerngesund sind und ein erfolgreiches Leben hinter sich haben. Die Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des Todes ist hier am stärksten, stärker als bei der relativ hohen Zahl der Überlebenden, die von körperlichen Erkrankungen geplagt werden. In ihrem Körper ist der Tod gleichsam bereits tätig und die Konfrontation somit weniger plötzlich.“23

      Das Vorhandensein von Schuldgefühlen sagt noch nichts über objektive Schuld aus. So haben viele, die in der NS-Zeit nichts Böses getan haben, besonders die Nachkommen von Opfern, Schuldgefühle, etwa in der Art, dass sie sich beschuldigen, nichts oder nicht genügend Gutes bewirkt zu haben, oder dass sie sich selbst Vorwürfe machen, unverdient überlebt zu haben, während ihre engsten Angehörigen ermordet wurden.

      Die eigentlich Schuldigen empfinden seltsamerweise häufig keine Schuldgefühle, während sich Menschen, die eigentlich schuldlos sind, mit Schuldgefühlen quälen. Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Schuldgefühlen ist somit auch keine Messlatte für das Ermitteln tatsächlicher, objektiver Schuld.

      Im Jahr 2001 fragte ich Ursula Meißner, die als 20-jährige Schauspielerin unter Gustaf Gründgens in Berlin die jüdische Familie des Konrad Latte über längere Zeit in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, nach ihren Beweggründen. Sie antwortete: „Ich habe nur meine Pflicht getan mit meiner bescheidenen Hilfe, aber was mir im Rückblick viel Schmerz und Schuldgefühle bereitet: Warum habe ich nicht viel mehr getan und die mahnende Stimme meines Gewissens nicht viel häufiger und mehr beachtet?“

      Die Reaktion auf eine Traumatisierung besteht also in oft unbewussten Scham- und Schuldgefühlen. Den direkt Betroffenen fällt es auch deshalb besonders schwer, sich zu öffnen. Sie ertragen das Leben am besten, wenn sie über das Erlebte schweigen. Dennoch besteht bei ihnen das unausgesprochene Bedürfnis, dass die Traumatisierung von ihrer Umgebung gesehen und anerkannt wird. Sie sind darauf angewiesen, dass sie Menschen treffen, die das Dilemma behutsam aufspüren.

      Nicht wenige waren von Überlebensschuldgefühlen geplagt, im Sinne von: „Alle anderen mussten sterben, ich habe es doch nicht verdient zu überleben.“

      So empfand auch Erika Landau:

      In ihrer Pünktlichkeit haben die Deutschen immer nur bis zwei Uhr geschossen. So wurden wir zweimal wieder ins Lager zurückgebracht. Das Gefühl, zurück auf meine Pritsche im Lager zu gehen, nachdem ich den ganzen Tag zugesehen hatte, wie man Leute ins selbstgeschaufelte Grab hineinschoss, das ist kein Gefühl der Freude, überlebt zu haben. Das war ein Gefühl der Trauer und der Scham und des Schuldgefühls, dass ich zurück ins Lager gehen konnte und die anderen nicht.24

      „Die Schuld des Überlebenden“, so stellte Robert Jay Lifton fest, „kennen alle, die Krieg, Naturkatastrophen etc. überlebt haben. … Das Opfer, nicht der Täter, fühlt sich schuldig.“25 Viele Überlebende des Holocausts empfinden nicht selten Schuldgefühle, weil sie sich selbst vor die Wahl gestellt sahen, entweder ihr Leben hinzugeben oder am Leben zu bleiben. Wie mutig und einfallsreich das Opfer auch immer war, es konnte damit die Katastrophe nicht abwenden. Wenn Opfer nach traumatischen Ereignissen ihr eigenes Versagen reflektieren und beurteilen, entstehen praktisch immer Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Karl Jaspers nennt dieses Phänomen „metaphysische Schuld“.26 Er beschreibt mit diesem Begriff ein Gefühl der Mitverantwortung für alle Ungerechtigkeit in der Welt nach der Logik: Ich bin mitschuldig, weil ich nicht alles getan habe, was ich hätte tun können, um das Unrecht zu verhindern. Können solche Schuldgefühle überhaupt angegangen und überwunden werden?

      Wer aber kann den Opfern in ihrem tiefen Empfinden von Schuld eine Entlastung zusprechen? Jaspers nennt Gott als Instanz. Viele der Opfer haben aber Schwierigkeiten, sich an Gott zu wenden, weil sich damit unmittelbar die Bitterkeit darüber, dass Gott nicht eingegriffen hat, einstellt. Und sie stellen sich bisweilen die Frage: War in diesem Fall nicht Gott auch mitschuldig? Sie haben Zweifel an der Existenz Gottes, sie haben ihren Glauben an ihn verloren. Sie fragen sich, ob Gott nicht nur in Wahrheit ein bloßes Deckwort für „Niemand“ darstellt. Sie fragen sich, ob etwa die Aussage „Gott richtet“ nicht in Wahrheit dieselbe ist wie „Niemand richtet“.

      Kein Gott? Kein Gericht? Keine Schuld? Wenn dem so wäre, dann handelte es sich bei ihren „Schuldgefühlen“ im Grunde nur um pathologische Symptome, die die „Normalen“ nicht ernst zu nehmen bräuchten. Das Verdrängen Gottes wäre dann nur ein möglicher Hinweis darauf, dass derart viele Opfer mit Schuldgefühlen es so schwer haben, über das Erlebte zu sprechen und sich anderen zu öffnen.

      Überlebensschuld ist einer der fundamentalen Konflikte, die den Überlebenden bedrohen. Ein Gesicht der Schuld ist die Scham, die Neigung des Menschen, sich für das, was ihm widerfahren ist, zu schämen, auch wenn er gar keine Schuld daran hatte. Nirgendwo ist dieses Gefühl der Scham stärker als bei den Juden, dem Volk, das von seinen Feinden dazu ausgewählt wurde, ausgerottet zu werden. Es ist eine Scham, die über Jahrhunderte Juden zum Schweigen gebracht hat.

      Zum Schluss sei noch das Symptom der Ruhelosigkeit angeführt: Das Schweigen der überlebenden Opfer ist oft mit einer immensen inneren Unruhe gepaart, als ob man auf der Flucht sei. So lässt sich bei den Betroffenen ein Hang zu übermäßiger Arbeit und Selbstüberforderung beobachten. Innehalten könnte einen mit plötzlich auftauchenden Bildern der eigenen Vergangenheit konfrontieren, die man nicht ertragen könnte.

      Der Schriftsteller W.G. Sebald schreibt in „Austerlitz“:

      Ashman erwiderte darauf, er selber habe 1941, bei Requirierung des Hauses, die Türe zu dem Billardzimmer wie auch zu den Kinderstuben im obersten Stock durch das Einziehen einer falschen Wand verborgen, und als man die Paravents, vor die man große Kleiderkästen geschoben hatte, im Herbst 1951 oder 1952 entfernte und er zum ersten Mal seit zehn Jahren das Kinderzimmer wieder betrat, sagte Ashman, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre um seinen Verstand gekommen. Beim bloßen Anblick des Eisenbahnzugs mit den Waggons der Great Western Railway und der Arche, aus der paarweise die braven, aus der Flut geretteten Tiere herausschauten, sei es ihm gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit, und wie er mit dem Finger die lange Reihe der Kerben entlanggefahren sei, die er im Alter von acht Jahren am Vorabend seiner Verschickung in die Preparatory School in stummer Wut, erinnerte sich Ashman, in den Rand des Beistelltischchens neben seiner Bettstatt geschnitzt hatte, da sei eben dieselbe Wut wieder in ihm aufgestiegen, und ehe er auch nur wusste, was er tat, habe er draußen auf dem hinteren Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Uhrtürmchen der Remise geschossen, an dessen Zifferblatt man die Einschläge heute noch sehen könne. 27

      Carolin Emcke kommentiert diese Stelle:

      Die Wiederentdeckung des versteckten


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