Das Schweigen redet. Johannes Czwalina

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Das Schweigen redet - Johannes Czwalina


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Schlussstrich; durch Albträume und körperliche Schäden wurde aus ihrer Vergangenheit tägliche Gegenwart.7 Was machten sie mit diesem Dilemma? Die meisten wählten aus Selbstschutz eine Lebensform des Schweigens über das, was in Wahrheit ihre wichtigste Angelegenheit war.

      Am besten konnten viele überleben, indem sie ihren Schmerz einschlossen und über die Wunden, die sie täglich spürten, mit möglichst niemandem sprachen. Der Überlebende Elie Wiesel begründet diese Haltung so: „Jene, die es nicht erlebt haben, werden sowieso nie wissen, wie es war; jene, die es wissen, werden es nie sagen; nicht wirklich, nicht alles.“8

      Wenn wir nun unseren Blick genauer auf das Schweigen der Opfer und anschließend der Täter werfen, ist ein differenziertes Vorgehen geboten. Schweigen und Schweigen sind nicht dasselbe. Der Psychologe Jürgen Müller-Hohagen sagt: „Es gibt nicht das eine Schweigen, die eine Schuld, die eine Angst, die eine Traumatisierung, die eine Gewalt, sondern jeweils sehr verschiedene, unter Umständen sogar gegensätzliche Formen davon, je nach Kontext, der im Hintergrund steht. Klar ist: Das Schweigen der Verfolgten ist ein anders Schweigen als das Schweigen der NS-Tatbeteiligten.“9

      Dabei ist aber die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern nicht immer ganz präzise.

      Die Einteilung z. B.: SS-Männer waren brutal und verbrecherisch; KZ-Häftlinge waren edle Menschen; Mitläufer waren harmlos; Wehrwirtschaftsführer waren Komplizen des Terrorsystems; Angehörige der besiegten Völker beteiligten sich an Verbrechen nur unter Druck, mag in vielen Fällen zutreffen, in anderen jedoch auch nicht. Der Alltag bestand oft aus Mischformen, und so dürfen wir ein Grobraster nur als Orientierungshilfe im Dschungel auf der Suche nach Durchblick ansehen.

       Auch bei den Opfern waren solche, die Schuld auf sich geladen und anderen Schlimmes angetan haben. Es gehörte ja zur perfiden Strategie der Nazis, die Verfolgten in den Konzentrationslagern und Ghettos dazu zu missbrauchen, an der eigenen Verfolgung bis hin zur Vernichtung mitzuwirken. Es war eine Welt, in der man das eigene Überleben eine Zeitlang sichern konnte, andere Häftlinge zu denunzieren, zu bestehlen, zu verraten und dem Tod auszuliefern.10

      Im August 2012 berichtet der Holocaustüberlebende Shlomo Graber hierzu in einem Interview:

      Jedes KZ hatte jüdische Stubenälteste (Kapos). Sie waren bereit, den Nazis zu dienen, um selbst eine bessere Position im KZ zu haben. Das haben sie oft auf sadistische Weise erreicht. Jankel Tannenbaum war so einer. Die israelischen Medien hatten viel über diesen Fall berichtet. In den sechziger Jahren bekam ich in Tel Aviv einen Anruf von der Polizei. Eine Spezialeinheit, die Kollaborateure aufspürte, hatte ihn aufgegriffen. Die Polizei zeigte mir ein Album mit vielen Gesichtern, und plötzlich schrie ich auf, da ich Jankel Tannenbaum erkannte. Der Hass vieler Menschen auf ihn, auch meiner, war unermesslich. Auch einige Juden haben ganz schlimme Sachen gemacht, indem sie den Holocaust für ihre Zwecke missbrauchten.11

      Es gab aber auch Unteroffiziere und Offiziere der Waffen-SS, welche Medikamente aus der eigenen Tasche bezahlten und den Häftlingen gaben und dabei ihr Leben riskierten. So berichtete es Viktor Frankl, der Begründer der sinnzentrierten Psychologie, der Logotherapie und Existenzanalyse, welcher vier Konzentrationslager überlebte. Seine eindrücklichen Erfahrungen beschrieb er in seinem Buch: „Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.”12

      Dennoch, ob es sich um unterlassene Hilfeleistung handelt oder um Denunziation eines Häftlings aus Todesangst, so ist ein solcher Tatbestand grundsätzlich anders zu betrachten als die Täterschaft der Verfolger, die in ihrer Dimension wiederum mit der Kollaboration eines Opfers kaum vergleichbar ist.

      Warum schweigen die Opfer über das, was sie im Krieg erlebt haben? Weil es für das, was sie erlebt haben, keine Worte gibt. Über das Unsagbare kann nicht gesprochen werden. Den Raum des Unsagbaren hat Hans Keilson einmal mit den Worten „wohin die Sprache nicht reicht“ beschrieben.13 Erzählen, was man erlebt hat, gehört zu den normalen Regungen der Persönlichkeit und ist notwendig für unsere Gesundheit. Das Sprichwort „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ sagt etwas davon. Seinen Schmerz mit keinem teilen zu können bedeutet nicht nur, dass der Schmerz nicht geteilt wird. Es führt auch dazu, dass der Schmerz Fehlentwicklungen und Krankheiten zur Folge hat.

      Der Überlebende hat die Fähigkeit verloren, sich mit der Welt zu verständigen. Er ist in eine Lage zurückversetzt worden, in der es keine Realität gibt, die er beeinflussen kann, um wieder normale Verhältnisse aufzubauen. Aus vielen Gesprächen mit Überlebenden wissen wir, dass sie es nicht fertigbrachten, von den Erniedrigungen zu erzählen, die sie erlebt hatten. Die Scham verschloss ihnen den Mund. Im November 2011 luden wir Wassili Michailowski als Zeitzeugen der Judenverfolgung in der Ukraine zu einem Vortrag in unserer Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (Schweiz) ein. Er zählt zu den wenigen Überlebenden des Massakers von Babij Jar, einer der größten Einzelmordaktionen der Nazis während des Zweiten Weltkriegs: Am 29. und 30. September 1941 wurden in der Schlucht Babij Jar bei Kiew 33 771 Menschen ermordet. Michailowski überlebte dank des Mutes einer Ärztin. Noch 60 Jahre später stand der 90-Jährige als ergrauter Mann vor seinem Schweizer Publikum und konnte nicht sprechen. Er brachte kein Wort heraus. Vor den betroffenen Besuchern bestand seine Botschaft einzig und allein aus seinem Schweigen.

      Menschen, die die Hölle der Konzentrationslager überlebt haben, sagen immer wieder, wie unsagbar schwer es ihnen fällt, über das Erlebte zu sprechen.

      Für die Opfer selbst ist das Erzählen eine große seelische Belastung. Wenn sie erzählen, schildern sie nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie wähnen sich wieder im Lager, und alles wird Gegenwart.

      Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel antwortet auf die Frage, warum ihm das Sprechen so schwerfällt, so:

      Ich fühle mich ganz und gar nicht wohl, darüber zu sprechen. Ich muss dann etwas sagen, aber habe immer Lust, etwas anderes zu sagen. Und es ist mir auch schon passiert, dass ich mittendrin aufhören musste, weil ich spürte, dass ich weinen würde. Ich weine nicht gern in der Öffentlichkeit, sogar wenn ich alleine bin, weine ich nicht gerne. Das ist ein Gefühl, dem man nicht entkommen kann.14

      Im Jahr 2011 war der Zeitzeuge Michał Ziółkowski in meinem Haus zu Gast. Nur unter Tränen konnte er an diesem Abend sagen:

      Als ich am 20. Juli 1940 ins Konzentrationslager Auschwitz kam, wurden wir in eine Liste eingetragen, und jeder bekam seine Nummer. In diesem Moment verabschiedeten wir uns von unserem Namen. Ich bekam die Nummer 1055. … Als alles überstanden war, habe ich am Anfang kaum etwas erzählt. Ich kann mich nur erinnern, als ich meine Frau geheiratet habe, haben wir 1950 eine Rundreise durch Polen gemacht und auch Auschwitz besucht, da habe ich am Tor angefangen zu erzählen, wie ich hierherkam und was ich hier erlebt habe. Aber auf Block 11, als wir zu den Stehzellen kamen – ich hatte unter anderem erzählt, dass ich hier in dieser Stehzelle war –, da brach ich zusammen, und mein Reden verstummte. Seit dieser Zeit sagt meine Frau, sie kommt nie mehr hierher. In der Familie, als die Kinder klein waren, hatte es keinen Sinn, von diesen schrecklichen Ereignissen zu erzählen. Später haben sie das Haus verlassen. (…) Jetzt in meinem hohen Alter, ich bin 83, beschäftige ich mich mehr als früher mit der Vergangenheit. Früher musste ich arbeiten, für meine Familie sorgen, da hatte ich keine Zeit, über dieses Thema nachzudenken, und deswegen sprach ich nicht darüber.

      Ein oft genannter Grund für das Schweigen ist der, dass es einfach kein Interesse daran gegeben haben soll, diese schrecklichen Geschichten zu hören, sei es in der Familie oder im Bekanntenkreis. Fast jede Familie hatte Schreckliches erlebt und war nicht an den Erzählungen anderer interessiert.

      Nicht wenige formulierten den Grund ihres Schweigens etwa so: „Diejenigen, die es erlebt haben, wissen es schon. Die anderen wollen es nicht wissen.“ Den Betroffenen hätten viele nicht zuhören wollen. In der alten Umgebung sei man oft nicht willkommen gewesen. Überall hätte man sich mehr auf den Wiederaufbau konzentriert. Wenn Opfer ihre Geschichte erzählen, werden sie häufig von jenen, denen sie sich anvertrauen, ein weiteres Mal verletzt. Auch deshalb schweigen sie. Menschen identifizieren sich nicht gerne mit Opfern, sondern


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