Das Schweigen redet. Johannes Czwalina
Читать онлайн книгу.dass die Täter und Mitläufer keinen Zugang zu Scham und Schuld gefunden haben.“37
Der Münchener Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer kommt zu der Erkenntnis, dass es für den KZ-Mörder, der viele Menschen grausam getötet hat, oder für den KZ-Unternehmer, der vom Tod vieler Tausender profitiert hat, viel leichter ist, Schuld zu verleugnen und ein normales Familienleben zu führen, als es für die Opfer war, die meist unter schwersten Schuldgefühlen leiden, weil sie überlebt haben. Die Täter hatten nur mit ihrer Angst, ertappt zu werden, umzugehen.38
Der Autor Norbert Lebert schreibt:
Kein Zugang zu Scham und Schuld: Vielleicht ist das eine Formel, mit der die 50er Jahre in Deutschland ganz gut zu beschreiben sind. Man arbeitete am Wiederaufbau, man vergnügte sich, man genoss nach langen dunklen Jahren das Leben. Viele Menschen erzählen, wie überrascht sie gewesen sind, dass es so schnell wieder aufwärtsgegangen ist, das hätten wir nie gedacht. Mein Vater hat sein Leben in den 50er Jahren als eine Art Rausch beschrieben: Die Lust zu leben war so groß, alles wollte man aufsaugen, bloß sich nicht mit irgendwelchen schweren Dingen belasten.39
Der Preis dieser Euphorie war hoch. Aus vielen Gesprächen meiner seelsorgerlichen Tätigkeit weiß ich, dass die Kinder dieser Generation oft sehr darunter gelitten haben, dass sie zu ihren Eltern, speziell zu ihren Vätern, mit Fragen über Sinn und Werte im Leben nicht vordringen konnten. Zu ihren Fragen zählte eben auch die Frage nach der Lebenseinstellung ihrer Eltern in der NS-Zeit. Diese entschieden sich oft auf ganzer Linie für ein Verschweigen und Blockieren entlarvender Fragen. Die Wut über diese überhebliche Sprachlosigkeit – auch das weiß ich aus vielen Gesprächen – drängte viele der 68er-Bewegung auf die Straße und nicht selten auch zur Gewaltbereitschaft. Nicht die erlittenen oder ausgeübten Verbrechen der Eltern, sondern deren Verweigerung auf jedes Recht zu verstehen und zu verarbeiten und damit eine Chance zur Bewältigung zu bekommen, führte die Kinder in persönliche Konflikte, Wut, Depressionen, Lebensuntüchtigkeiten und Fehlentwicklungen mancher Art.
Rechtfertigungen
Der Tötungsapparat der Lager war in so viele „Scheiben“ geschnitten, dass jeder Schnittfeldverantwortliche schlussendlich ein Argument dafür fand, selbst nicht verantwortlich gewesen zu sein, weil er nur zugeschnittene Aufgaben korrekt und gewissenhaft ausgeführt hatte. Der Mann auf der Rampe bei der Selektion hatte ja nur die körperliche Kondition des Einzelnen zu prüfen, der Mann im Versuchslabor war ja nur für den Teil der Diagnostik verantwortlich, der Mann in der Lageraufsicht war ja nur für Ordnung und Disziplin zuständig, ebenso die Frauen in der Desinfektionsbaracke nur für die Hygiene, bis hin zu den Wachpersonen am Ofen, die ja nur die Tür aufmachen bzw. schließen mussten. Es handelte sich um ein System, das im Nachhinein vielen die Ausrede ermöglichte, nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen zu sein, ohne eigene Verantwortung für das Töten gehabt zu haben. Jeder konnte es auf den anderen abschieben. Jeder konnte sich sogar als Opfer bezeichnen. Das war die Alltagserfahrung einer bürokratisierten und arbeitsteiligen Gesellschaft. Und dieses Bild entsprach der Rechtfertigung zahlreicher Täter und Mitläufer.
Martin Bormann, Sohn des Hitlersekretärs:
Ich habe im Nachhinein erfahren, dass Himmler einmal Zeuge bei solchen Massenerschießungen im Baltikum war und das selber nicht ausgehalten hat, dass also doch irgendwo das Menschliche durchbrach und dass er dann als eine Reaktion darauf, diese Brutalitäten nicht ertragen zu können, dass Frauen und Kinder in die Grube geschossen wurden, die Erschießungen eingestellt hat. Er hat ja wohl auch zuerst vom Kommandeur vorgetragen bekommen, dass die Soldaten das nicht aushalten. Das ist nicht Kampf, das ist Mord, Mord an Frauen und Kindern. Und das hält ein normaler Mensch nicht aus, vor allem nicht in dieser Häufung. Es gibt eine These oder Vermutung, dass diese Vergasungen, diese Techniken im Grunde genommen dazu dienten, die Tötung von den Mördern zu entfernen (abzuspalten), für die Mörder erträglicher zu machen. Dazu eine Analogie zum Krieg heute: Je weiter tragend diese fürchterlichen Waffen sind, umso weniger erfährt der, der die Waffe auslöst, was er damit an Elend, Tod und Leiden verursacht. Wer in 10 000 Meter Höhe seine Bomben fallen lässt, sieht nicht, was da unten passiert.40
So besehen diente die ausgeklügelte Tötungsmaschinerie nicht nur ihrem Hauptzweck, der Vernichtung von unschuldigen Menschen, sondern verhinderte auch das Entstehen von Schuldgefühlen bei den Einzelpersonen, die allesamt ihren Teil beitrugen.
Selbstmitleid, Opferrolle, Abschieben der Schuld auf andere
Die NS-Verbrecher und Mitläufer wollten von ihren Kindern lieber als Opfer und nicht als Täter gesehen werden. Darum verschwiegen sie nicht nur ihre Täterrolle, sondern sprachen auch gerne über ihre Leiden.
Wie Jürgen Müller-Hohagen beschreibt, haben sie nach 1945 geradezu eine Kehrtwende gemacht von Mitmachern, Kollaborateuren, Tätern hin zu „Opfern“:
Sie haben sich das zunächst selbst eingeredet, danach ihren Angehörigen, ihren Kindern, ihrer Umgebung. Das war Verschweigen durch Legendenbildung. Die Umdeutung von Tätern und Tatbeteiligten zu vermeintlichen Opfern ist als einer der zentralen Vorgänge anzusehen, durch den reale Schuld geleugnet wurde und die nachfolgenden Generationen bis tief in die geistig-seelische Substanz hinein verwirrt wurden. Am Ende dieses Lügenprozesses steht das Bild auf Seiten der Nachgeborenen: ‚Opa war kein Nazi.‘ Dadurch wurden sie erst recht zu Tätern, und das ausgerechnet noch ihren Kindern gegenüber, indem sie deren Wahrnehmung und Wahrheitsbezug nachhaltig störten oder gar zerstörten. Letztlich kamen sie dadurch noch mehr in die Eindeutigkeit der Zuordnung zur Täterkategorie, der sie eigentlich entfliehen wollten – und der sie zuvor vielleicht paradoxerweise nicht einmal so ausschließlich angehörten.41
Immer wieder hört man von Seiten der Täter und Mitläufer zahlreiche Beschönigungen und Verharmlosungen, aber nur selten echte Betroffenheit, echte Eingeständnisse, klare Stellungnahmen gegenüber ihrer wie auch immer gearteten Beteiligung.
„Gegen ein schlechtes Gewissen hilft bekanntlich am besten ein schlechtes Gedächtnis, und das Gewissen ist sowieso nur eine leise Stimme im Innern – dort, wo die Akustik schlecht ist.“42
Dieses Wegschieben der ersten Schuld beschreibt der bekannte Publizist Ralph Giordano als zweite Schuld. Diese zweite Schuld sei eine Schuld gegenüber den Opfern der Nazi-Herrschaft, aber auch eine Schuld gegenüber den eigenen Kindern und Kindeskindern. Giordano bezieht sich in seinen Überlegungen auch auf das erschütternde Buch von Peter Sichrovski, in dem Nachkommen von Nazis ihre Kindheit schildern.43
Martin Bormann junior:
Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass mein Vater alles oder fast alles wusste. Das kann ich mir nur so erklären, … dass Hitler für ihn so etwas wie eine Vaterfigur abgegeben hat. Ich aber glaube, dass der Mensch niemals so unfrei ist, dass er etwas Schuldhaftes tun müsste, sondern Verantwortung setzt den Begriff der Freiheit voraus. Mein Vater hat nie auch nur ein Wort von den Vernichtungen gesprochen. Die Mutter hat mit uns auch nie ein Wort darüber gesprochen. Das waren Bereiche, die wahrscheinlich tabuisiert worden sind, vielleicht aus dem Bemühen heraus, die Kinder nicht mit Dingen zu belasten, die in der Tat belastend wären.44
Die Tochter eines SS-Mannes erzählt von ihrem Vater:
Er hat in der Ukraine Erschießungskommandos geleitet. Auch nach seiner Entlassung zeigte er nur Selbstmitleid. Nie hat er etwas über seine Opfer gesagt. Er fand es nur völlig ungerecht, dass er verantwortlich gemacht wurde für die Menschen, die er getötet hatte. Er hat nicht einmal das Schicksal seiner Opfer anerkannt. Es gab überhaupt keine Anzeichen dafür, dass er sich irgendwo wegen seiner Taten schuldig fühlte oder darunter litt. Es gab überhaupt kein Anzeichen dafür. Das wäre das Einzige, was ich heute fragen würde, wenn er noch am Leben wäre.45
Eine der unverschämtesten Selbstrechtfertigungen, die uns überliefert sind, sei an dieser Stelle angefügt. Dieser Satz ist von einer der letzten Mitarbeiterbesprechungen von Josef Goebbels überliefert: „Nun“, sagte er leise, „das deutsche Volk hat sich dieses Schicksal selbst gewählt. Niemand hat es gezwungen. Es hat uns ja selbst beauftragt. Warum haben Sie mit mir gearbeitet? Jetzt wird Ihnen das Hälschen durchgeschnitten.“ Dann hinkte