Tödliche Offenbarung. Cornelia Kuhnert
Читать онлайн книгу.Auto. Er hebt die Decke hoch, holt das Messer mit dem Walnussgriff aus der Seitentasche seiner Hose und wiegt es in der Hand. Wörstein hat ihm das in Russland hergestellte Springmesser zu seinem letzten Geburtstag geschenkt. Matusch klappt einen Hebel um und drückt drauf. Im nächsten Moment springt die scharfe Klinge heraus.
»Was hast du vor?« Kevin behagt die Situation nicht. Die Waffe ist kein gutes Zeichen, genauso wenig wie die Pistole, die seit heute Morgen im Handschuhfach liegt. Eine alte |83|Heckler & Koch, die Wörstein Matusch vor Wochen mit den Worten überlassen hat: Pass gut auf sie auf. Das ist eine der ersten Selbstladepistolen. Mittlerweile sind die verboten – wie alles, was gut ist.
Matusch grinst seinen Kameraden an. »Ein bisschen Spaß haben.« Er bückt sich zu Felix herunter und zieht ihn an den Füßen zum Ende der Klappe.
»Aber …«
»Was ist los?« Matusch geht mit der spitzen Messerschneide zwischen Felix’ Beine. Ein Ratsch und der Kabelbinder fällt auseinander. Ein zweiter Ratsch und der an den Händen ebenfalls.
»Haste etwa Mitleid mit dem Weichei?« Matusch schmeißt seinen Gefangenen mit Schwung von der Transportfläche. Mit lautem Krachen landet Felix auf dem staubigen Boden. »Wenn wir nicht zubeißen, beißen die uns.«
Felix’ Rippen schmerzen, sein Kopf und die Beine sowieso. Was soll er tun? Die in der Sonne glitzernde Klinge des Messers macht ihm Angst. Sein Herz schlägt heftig und sein Magen zieht sich zusammen. Was hat dieser Matusch vor? Felix starrt an den schwarzen Stiefeln und der dunklen Jeans hoch. Will der ihn etwa erstechen? Er schließt die Augen und wünscht sich, er wäre schon tot.
Dann ein metallenes Ratschen. Felix spürt plötzlich etwas Warmes auf seinem Bein. Etwas Feuchtes. Er schlägt die Augen auf.
Der kräftige Urinstrahl von Matusch durchdringt das Gewebe seiner beigen Cargohose. Der Stoff klebt bereits an der Wade. Der Strahl wandert weiter zu seinem T-Shirt und macht auch vor seinem Gesicht nicht halt. Felix schließt die |84|Augen wieder. Ekel und Angst füllen ihn aus. Noch nie hat er sich so gedemütigt und erniedrigt gefühlt. Noch nie hat er so viel Angst gehabt.
Schließlich versiegt der Strahl und das Ratschen des Reißverschlusses ist erneut zu hören. Vorsichtig öffnet Felix die Augen einen winzigen Spalt. Matusch grinst ihn breit an.
»Los, Arschgesicht, auf geht’s. Wenn es nach mir ginge, wäre jetzt Feierabend für dich. Mit Schnüfflern macht man kurzen Prozess.« Matusch spuckt vor ihm auf die Erde. »Steh auf.«
Langsam kommt Felix hoch. Die feuchte Hose und das Hemd kleben an ihm. Der Knebel in seinem Mund ist nass. Beißender Uringeruch steigt ihm in die Nase, doch zum Ekeln hat er keine Zeit. Kaum steht er halbwegs, bekommt er von Matusch einen Tritt in den Hintern.
»Hast Glück, weil du Karl mal geholfen hast. Er gibt dir eine Chance. Also los, renn.« Matusch grinst breit. »Laufen, habe ich gesagt.« Dann dreht er sich um, geht zum Auto und greift ins Handschuhfach.
Felix wartet nicht so lange. Ohne Kevin noch einmal anzusehen, setzt er sich in Bewegung. Rechts am Weg stehen dichte Büsche. Daneben drei dünnstämmige Birken. Das könnte seine Rettung sein.
Kaum ist Felix ein paar Meter in diese Richtung gelaufen, hört er einen Knall. War das ein Schuss? Felix dreht sich um und entdeckt Matusch neben dem Nissan. In der Hand eine Pistole. Schon folgt der nächste Schuss. Felix hört den Einschlag der Kugel im Baum neben sich. Wie von Sinnen beschleunigt er seine Schritte.
|85|»Ey, wie geil ist das denn?«, hört er Matusch juchzen. Dann knallt es erneut und eine Pistolenkugel streift die Birke rechterhand.
27
Martha legt das Blatt auf den Stapel. Schreckliche Zeit damals. Keine Frage. Trotzdem kann sie nicht sagen, dass dieses Interview sie sonderlich berührt. Natürlich hat die Zivilbevölkerung gelitten. In Hamburg und Dresden sehr viel stärker als in Celle. Häuserzeilen wurden getroffen, ganze Stadtviertel ausradiert. Menschen starben, andere mussten fliehen und die Heimat verlassen. Über all das hat man tausendmal berichtet. Martha hat so viele Bilder vom Krieg gesehen, dass es sie nicht mehr betroffen macht. Mehr noch. Sie will sie nicht mehr sehen. Fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende ist der Krieg Geschichte geworden.
Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eigentlich müsste Max längst da sein. Jetzt ist schon über eine halbe Stunde seit seinem Anruf vergangen. Sie blättert die Seite um. Für einen Eintrag reicht es vielleicht noch.
Adalbert Messerschmidt, Jahrgang 1910, 42 Jahre alt, Maschinenschlosser, wohnhaft Riemannstraße
Guten Morgen, junges Fräulein. Ich habe schon gehört, dass Sie eine ganz Neugierige sind. Also, hereinspaziert, setzen Sie sich und schießen Sie los.
An den 8. April 1945 kann ich mich gut erinnern. An jenem Sonntagmorgen habe ich ausführlich die Wochenendausgabe |86|der Celleschen Zeitung gelesen. Es gab die Tipps für den Gartenfreund und den neuen Teil des Fortsetzungsromans von Hermann Löns: Der Wehrwolf. Gerade an jenem Tag war es besonders spannend. Der Wulfsbauer und die anderen jagten ihre Feinde wie die Hasen.
Kennen Sie das Buch? Nein? Das müssen Sie lesen.
Ja, kommen wir zu dem Sonntag zurück. Ich hatte zu der Zeit Genesungsurlaub, eine Beinverletzung aus Frankreich. Damals …, ich will jetzt nicht zu weit ausholen, aber ich hinke noch heute wegen dieser Granatsplitter. Ich kann froh sein, dass ich so glimpflich davongekommen bin. Viele meiner Kameraden hat es viel schlimmer erwischt. Manche sind gar nicht wieder heimgekommen.
An jenem Sonntag ist meine Frau mit unserer Tochter am späten Vormittag in der Schuhstraße gewesen. Das war eine seltsame Stimmung an jenem Tag. In der Zeitung wurden zwar immer noch Durchhalteparolen verkündet, aber die Front rückte näher, das wusste jeder. Keiner ließ sich durch den Fliegeralarm abschrecken. Meine Frau und unsere Tochter, die Marianne, haben ihre Einkäufe erledigt und sind gegen Mittag zurückgekommen. Meine Frau war müde. Sie hat Herzprobleme, seit unser Sohn an der Ostfront gefallen ist. Da ist sie bis heute nicht drüber weg.
Ich habe nach dem Mittagessen im Garten gearbeitet. Der Frühling lag in der Luft und ich wollte den Boden vorbereiten, um die Einsaat …
Ja, mein Garten liegt direkt gegenüber vom Güterbahnhof.
Ein Zug stand dort. Stimmt. Der war ziemlich lang und hatte offene Metall- und Holzwaggons, in denen Leute saßen. Immer wieder haben sie etwas aus den Waggons getragen. Was die Leute anhatten? So genau konnte ich das auch nicht sehen, ich habe |87|mir ja kein Fernglas geholt. Außerdem waren die meistens in Decken gewickelt.
Also gut, der Stoff war gestreift. Die SS-Leute standen direkt neben dem Zug; die hatten Gewehre geschultert, manche sogar im Anschlag. Ich habe mich da nicht weiter drum gekümmert. Ich misch mich nicht in Dinge ein, die mich nichts angehen. Das bringt nichts. Nur Ärger.
Bei der Bombenwarnung ging ich mit der Marianne und meiner Frau sofort in den Keller. Der ganze Wahnsinn dauerte dann eine Stunde. Danach lag die Gegend um den Bahnhof herum in Trümmern. Überall nur Dreck und Qualm. Immerzu hörte man es krachen und ununterbrochen schrie jemand. Es stank fürchterlich nach Verbranntem, und kleine schwarze Papierfetzen schwebten wie Schneeflocken vom Himmel.
Ob uns etwas aufgefallen ist? War das nicht genug?
Was danach war?
Wo Sie so fragen – etwas irritierte mich damals. Als der Fliegeralarm kam, musste ich meine Laube überstürzt verlassen. Nicht einmal abgeschlossen hatte ich. Später am Abend bin ich zurück in den Garten, wollte nach dem Rechten sehen und meine Jacke holen. Die hatte ich am Nachmittag liegengelassen. Aber sie war weg. Meine Arbeitssachen fehlten auch. Sogar die Flasche Korn, die zur Reserve dort stand, falls jemand mal zu Besuch vorbeikäme.
Stattdessen lag ein Haufen schmutziger, graublau gestreifter Kleidungsstücke unter der Sitzbank und ein paar blutige Stofffetzen aus dem