Seidenkinder. Christina Brudereck

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Seidenkinder - Christina Brudereck


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lag es an seiner eigenen Angst vor Wasser. Schwimmen hatte er eigentlich nie richtig gelernt, was für einen Jungen in Kalifornien, der wie alle seine Freunde einen großen Pool im Garten hatte, äußerst ungewöhnlich war. Die Vorstellung, nachts im Schlaf von einer nassen Flut überrascht zu werden, war einfach unerträglich. Die Bilder, die der kurze Artikel in ihm auslöste, waren schrecklich. Er sah ganze Dörfer, die weggeschwemmt wurden, weil niemand der Bevölkerung rechtzeitig Bescheid gesagt hatte. Er sah Kinder. Er sah die gigantischen Mauern eines Staudamms. Und spürte plötzlich den spontanen Wunsch, nach Indien zu reisen.

      Er hatte solche Gedanken schon früher gehabt, war in Nicaragua gewesen, in Brasilien, in Israel und Palästina, in Südafrika. Er hatte sich als Wahlbeobachter engagiert und in der Entschuldungskampagne, hatte immer wieder kleine Projekte unterstützt, die ihn überzeugten, sich als Anwalt eingemischt, für amnesty gearbeitet. Aber Indien war bisher nicht in seinen Plänen vorgesehen gewesen. Er reiste gerne. Aber nicht, um Urlaub zu machen, sondern um die Welt kennenzulernen, um zu verstehen und, wenn es möglich war, um irgendwie zu helfen. Um zu tun, was er konnte. Er hatte genug Geld verdient, jetzt fragte er sich, wozu.

      Er sah seine Frau an und nahm ihre Hand, drückte sie kurz, beugte sich zu ihr und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Sie dankte es ihm mit einem Lächeln, allerdings ohne sich auch nur einen Moment wirklich ablenken zu lassen. So war sie, Amy. Er sah seinen Sohn an, Tom. Die perfekte Mischung aus Amy und ihm selbst. Er hatte ihren Stolz, aber nicht ihr Misstrauen, seine Zugänglichkeit, aber nicht seine Leichtgläubigkeit. Er hatte außerdem ihren Sinn für Kunst und Logik und sein Faible für Sprachen. Lange Beine wie sie beide und seine hohe Stirn. Und er hatte die Liebe, die beide diese siebzehn Jahre lang an ihn weitergegeben hatten. Ob er eher ihren Ehrgeiz oder seinen Idealismus geerbt hatte, würde sich wohl erst in den kommenden Jahren herausstellen. Er sah ihn an und ein zweiter Gedanke überkam ihn, ebenso heiß wie der plötzliche Wunsch, nach Indien zu reisen: Er würde Tom mitnehmen. Diesmal würde ein Sohn ihn begleiten und sie beide, ein Vater und sein Kind, würden gemeinsam eine neue Welt entdecken.

      Manchmal dachte er, dass seine Mutter tatsächlich Gedanken lesen konnte. Auf ihrem Gesicht lag in diesem Moment so etwas Friedliches, wie ein Schimmer von tiefer Freude, unterstützt vielleicht von dem zarten Rosa ihres Lippenstiftes. Sie sah auf die Zeitung, die vor ihm lag, und dann hoch zu ihm. Ihre Blicke trafen sich. Er wusste, sie hatte wahrgenommen, dass er den Artikel über das Narmada-Tal gelesen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen und nickte ihm zu. „Endlich“, sagte sie. „Endlich wirst du nach Indien reisen.“

      Amy guckte fragend Matt an, der unsicher und wie ertappt sagte: „Der Gedanke kam mir tatsächlich gerade erst, heute Morgen, als ich diesen Artikel hier las.“

      Amy las schnell die Überschrift und fragte leise: „Und wann? Wann wirst du dorthin reisen?“

      Matt zögerte, als würde er auf eine innere Uhr hören, und meinte dann: „Im Frühjahr, wenn Tom mit der Schule fertig ist. Ich will, dass Tom diesmal mitkommt.“ Amy stand auf, ging zum Kaffeeautomat. Das Zermahlen der Bohnen dröhnte in der Stille wie ein feindlicher Hubschrauber im Anflug.

      Mit einer Tasse frischem Espresso kam sie zurück an den Küchentisch und sah jetzt herausfordernd ihre Schwiegermutter an. „Und du? Was sagst du dazu? Wirst du deinen Sohn wieder mit deinem Segen ziehen lassen? Und wirst du auch erlauben, dass er diesmal sogar deinen Enkel mitnimmt? Dass er ihn mit hineinzieht in diesen Spleen, die Welt zu verbessern, der offensichtlich niemals enden will?“

      Amy sah herausfordernd in die Runde am Tisch, sah die tiefen dunklen Augen ihrer Schwiegermutter, die unruhig suchenden Augen ihres Mannes. Dem irritierten Blick ihres Sohnes wich sie schnell aus, schüttelte den Kopf und setzte sich auf ihren Platz. In der rechten Hand hielt sie die kleine Kaffeetasse, mit der linken strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, steckte eine Strähne hinter das linke Ohr, zuckte die Schultern, griff wieder nach der Zeitung, begann zu lesen und atmete dann, wie um das Ganze abzuschließen, hörbar aus. Wieder einmal fragte sich Anne, wie ein Mensch so viel Verachtung in so ein kleines Geräusch wie ein Schnauben legen konnte. Eine Weile sagte niemand etwas. Angespannt warteten alle darauf, wie dieses Gespräch wohl weitergehen würde. Von Amy würde sicherlich nicht der nächste Impuls ausgehen, sie las betont interessiert den Artikel.

      Anne blickte ruhig vom einen zum anderen, räusperte sich, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und sagte dann: „Ich bitte dich, Amy, lass ihn gehen.“ Und dann, an ihren Sohn gewandt: „Und dich bitte ich, in Indien einen Auftrag für mich zu erfüllen. Ich wünschte, ich könnte selbst reisen, aber ich bin zu alt. Deshalb musst du jemanden für mich finden und etwas für mich erledigen.“

      Damit stand sie auf, nickte in die Runde, scheinbar ohne jemanden besonders zu meinen, und sagte in einem Ton, der kein Nachfragen und erst recht keine Diskussion erlaubte: „Ich habe noch eine Menge zu erledigen, bevor du abreist.“ Und damit verließ sie die Küche.

      Sie ging und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen. Am Fuß der Treppe blieb sie kurz stehen, als müsse sie innerlich für sich klären, ob dieses Gespräch ihr Kraft gegeben oder ob es sie Kraft gekostet hatte. Sollte sie mit dieser überraschenden neuen Aussicht, dass ihr Sohn nach Indien reisen würde, die Treppe hinauflaufen wie ein junges Mädchen und zwei Stufen auf einmal nehmen wie früher, weil diese Wende, die sich mit diesem Morgen andeutete, sie beschwingte? Sie entschied sich, der anderen Stimmung zu folgen, und ging bedächtig Stufe für Stufe nach oben, das Tempo nicht nur angemessen für eine ältere Dame, sondern sie würdigte damit auch die Aufgabe, die vor ihr lag, und den teuren Gedanken, dies könne die letzte große Tat in ihrem Leben sein.

      Oben angekommen merkte sie, wie ihr Herz klopfte, und der Takt schien sich mit Hämmern in ihrem Kopf, hinter ihren Schläfen, fortzusetzen. Eine Flut von Bildern und Worten, Erinnerungen, geflüsterten Versprechen, Geräuschen, Farben und Gerüchen wollten all ihre Aufmerksamkeit, wie die Kinder einer ihrer Schulklassen früher, die sie umringten, ihr etwas zuriefen, an ihrem Rock zupften, ihre Hand nahmen. Sie war zu alt für dieses Durcheinander im Kopf. Im Herz, dachte sie. Es ist das Herz, das noch einmal gefordert ist, wenn alte Geschichten, die begraben waren, neu zum Leben erweckt werden. Mit diesem Gedanken setzte sie sich in ihren großen alten Sessel am Fenster, legte die orangefarbene Wolldecke auf ihre Knie, nahm ihr Tagebuch zur Hand und begann zu schreiben.

      In der Küche war Tom der Erste, der die Stille unterbrach, allerdings nur mit einem fragenden Wort, das dann allein im Raum stand: „Indien?“ In seiner Stimme lag dabei etwas Ungläubiges, ein Staunen. Und jetzt schien es, als würden sie alle drei vorsichtig um dieses eine Wort schleichen, würden sich anpirschen, um sich sehr behutsam zu nähern.

      „Indien“, wiederholte Tom nach einer Weile schließlich, aber bevor er noch sagen konnte, was dieses Wort in ihm auslöste, unterbrach seine Mutter ihn schon und meinte: „Seid ihr jetzt alle verrückt? Indien liegt am anderen Ende der Welt. Was haben wir mit diesem Land zu tun? Aber das hat dich ja noch nie gehindert, hier alles im Stich zu lassen. Gibt es in unserem eigenen Land nicht genug zu tun? Was ist so schlimm an Amerika, dass du ihm ständig den Rücken kehren musst? Brasilien, Israel, Südafrika - du bist fast fünfzig und immer noch auf der Reise? Findest du das nicht lächerlich? Was suchst du eigentlich? Was ist so toll daran, weit weg zu reisen? Langweile ich dich? Ist es das?“

      Amys Stimme war immer schriller geworden und als Matt beruhigend sagte: „Amy, Schatz, jetzt mach doch nicht gleich wieder etwas Persönliches daraus“, fing sie an zu weinen und meinte unter Tränen und mit kalter leiser Stimme: „Wie soll ich das nicht persönlich nehmen, wenn immer alles reizvoller ist als das Leben an meiner Seite?“

      Anne saß oben in ihrem Sessel. Obwohl sie keines der Worte hörte, die unten in der Küche ihrer Kinder gewechselt wurden, ahnte sie, wie sich das Gespräch entwickelte. Amy würde Matt anfahren, mit lauten und scharfen Worten, ihm Vorwürfe machen, ihn zum zigsten Mal einen Weltverbesserer nennen und sich dann zurückziehen, verletzt und unerreichbar für ihn. Matt würde immer stiller werden, würde erst noch eine Weile versuchen, um sie zu werben, und es dann müde aufgeben und sich ebenfalls in seine Welt zurückziehen. Tom würde dabeisitzen und nicht verstehen, wie zwei erwachsene Menschen so aneinander vorbeireden können. Aneinander vorbeileben, dachte sie.

      Es


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