Seidenkinder. Christina Brudereck

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Seidenkinder - Christina Brudereck


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außerhalb seiner Familie hatte jemals das Gesicht seiner Frau gesehen. Er würde nicht zulassen können, dass ein weißer Ausländer zu seiner Frau käme. Ida und ihr Vater konnten seine Meinung nicht ändern und Ida ging wieder zurück in ihr Zimmer. Die Lust, zu lesen, war ihr mittlerweile allerdings vergangen.

      Erneut hörte sie Schritte auf der Veranda. Zu ihrem Schrecken erschien ein dritter Mann, ein Hindu, ein Angehöriger einer höheren Kaste, und auch er hatte eine junge Frau, die bei der Geburt ihres Kindes in Lebensgefahr schwebte.“

      Jaya legte eine Pause ein und sah aufmerksam in die Gesichter seiner Zuhörer. Sie waren seine Gäste, vom anderen Ende der Welt, aus Amerika, wie Ida Scudder. Sie waren hier, um die Arbeit seines Kinderhilfswerkes zu unterstützen. Sie würden Geld spenden, damit mehr Kinder zur Schule gehen und eine Ausbildung machen konnten, und sie würden Pateneltern suchen, die sich dann jeweils für ein Kind verantwortlich zeigen würden. Er selbst hatte von dieser einfachen Idee profitiert und sie überzeugte ihn immer noch. Er war ein Patenkind deutscher Geber, die ihn über ein großes Kinderhilfswerk, die Kindernothilfe, unterstützt hatten. So war es ihm ermöglicht worden, zur Schule zu gehen und zu studieren. Er war ihnen dankbar. Jetzt versuchte er, dieses Prinzip weiter zu verbreiten. Familie Mensch, davon war er überzeugt, musste sich insgesamt für ihre Kinder verantwortlich zeigen. Weltweit.

      Nach dieser Unterbrechung, in der er seinen Zuhörern erlaubt hatte, ihren eigenen Gedanken nachzugehen, erzählte er weiter, wie die Erfahrung dieser einen Nacht, in der drei Männer Ida um Hilfe gebeten hatten, ihr Leben für immer veränderte. „Ida“, so sagte er, „war in dieser Nacht nicht mehr eingeschlafen, sondern hatte nachgedacht, gegrübelt, Notizen in ihrem Tagebuch festgehalten und gebetet. Sie schrieb unter anderem:, Eine Frau hatte nicht helfen können und ein Mann, der hätte helfen können, der die nötige Ausbildung und das Engagement mitbrachte, hatte nicht helfen dürfen.`“

      Jaya überlegte, wie er die spirituelle Dimension dieser Erfahrung vermitteln konnte, und entschied, es einfach genau so zu erzählen, wie Ida selbst es erlebt haben musste und wie er es in ihren Tagebüchern, die inzwischen veröffentlicht worden waren, nachgelesen hatte. Er wünschte sich sehr, dass Ida für sie lebendig wurde, nicht einfach ein totes Vorbild blieb, und wohl noch mehr wünschte er sich, dass seine Gäste selber auch Zugang zu dieser Kraft aus einer anderen Welt fanden. Und so erzählte er: „Ida hatte in dieser Nacht den Eindruck gehabt, als sei sie Gott begegnet, als hätte er sie berührt, wie mit einem Flügel, wie mit einem Schwung für ihr Herz, sodass sie auf einmal doch bewegt war von der Idee, Medizin zu studieren, um nach Indien zu kommen und hier insbesondere den Frauen, den Kindern und den Ärmsten zu helfen.

      Am Morgen nach dieser besonderen Nacht erschrak Ida, als sie aus dem Dorf das Geräusch bestimmter Trommeln hörte. Sie wusste, das war ein Zeichen dafür, dass jemand gestorben war. Ida schickte eine der Hausangestellten, um herausfinden zu lassen, was passiert war, und auch, um sich danach zu erkundigen, was aus den drei jungen gebärenden Frauen geworden war. Sie kam zurück und musste Ida sagen, dass alle drei in der Nacht gestorben waren.

      Ida schloss sich für einige Stunden in ihrem Zimmer ein. Sie dachte über die Bedingungen nach, unter denen die Frauen Indiens leben mussten, und nach vielen Gedanken und Gebeten ging sie zu ihren Eltern und teilte ihnen ihre Entscheidung mit: Sie würde nach Amerika gehen, um Medizin zu studieren, und dann zurück nach Indien kommen, um den Frauen zu helfen. Ihr Entschluss stand fest.

      Als Ida im Jahr 1900 schließlich zurück nach Indien kam, war sie eine gut ausgebildete Ärztin. Ihr Vater starb nur einige Monate, nachdem Ida zurück in Indien war, sodass sie von Anfang an auf sich gestellt und allein verantwortlich für die Arbeit war. Und die Not in Indien war überwältigend. Auf zehntausend Menschen kam ein Arzt. Außerdem hatte sie keine Räumlichkeiten, in denen sie hätte arbeiten können. Sie ließ ein erstes Gebäude errichten, in dem Platz für zehn bis zwölf Patienten war. Die Veranda diente als Wartezimmer, ein kleines Zimmer als Behandlungsraum. Heute ist in diesem Krankenhaus hier Platz für mehr als zweitausend Patienten.“ Jaya konnte sehen, dass seine Gäste beeindruckt waren.

      „Am Anfang hatte Ida gegen das Misstrauen der Bevölkerung anzukämpfen. Ihr erster Patient war ein Mann, der todkrank war, dem sie nicht mehr hatte helfen können und der wenig später starb, sodass das Misstrauen in der Bevölkerung nur noch zunahm.

      Eines Tages aber kam ein Hindu, Angehöriger einer höheren Kaste, und ließ seine Augen von ihr untersuchen. Ida konnte ihn erfolgreich behandeln und von diesem Moment an nahm die Zahl ihrer Patientinnen und Patienten beständig zu. Aus Mitleid nahm sie immer mehr und mehr Arbeit an, sie behandelte pro Tag hundert Kranke, zweihundert, ja manchmal dreihundert. Bis heute ist es so, dass Patienten, die zu arm sind und sich keine Behandlung leisten und keine Medikamente bezahlen können, umsonst behandelt werden. Spenden von außerhalb machen es möglich, diesem Ideal nachzukommen.

      Manchmal kam es vor, dass Menschen vor Ida niederknieten, denn sie hielten sie für die Inkarnation einer Göttin. Sie selbst empfand diese Huldigung als total unangemessen und furchtbar unangenehm und flüchtete jedes Mal, wenn sie in eine solche Situation kam.

      Sie merkte, dass sie dringend Unterstützung brauchte, weil die Arbeit ihr über den Kopf wuchs und die Not einfach zu groß war. Denn auch wenn ein paar Dutzend Doktoren und Schwestern aus Europa und Amerika kamen, war deren Hilfe doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

      Da hatte Ida eines Tages die Idee, Inderinnen selbst auszubilden, um sich der speziellen Nöte indischer Frauen anzunehmen. Sie begann damit, Krankenschwestern anzulernen, um schließlich noch einen mutigen Schritt weiterzugehen und Frauen auch als Ärztinnen auszubilden. Die Ärzte, die den Medizinstudenten das Examen abnahmen, behaupteten anfänglich doch tatsächlich, dass Idas Mädchen es niemals mit den männlichen Studierenden würden aufnehmen können. Aber bei der offiziellen Verlesung der Examensergebnisse sollten alle eine Überraschung erleben. Achtzig Prozent der Studenten hatten nicht bestanden, von den vierzehn jungen Frauen aber jede einzelne. Ida sorgte dafür, dass hohe Standards in der medizinischen Ausbildung gesetzt wurden.“

      Jaya hielt inne. „Noch heute ist es überaus attraktiv, eine Ausbildung an diesem College zu machen. Auch die Kinder, die wir unterstützen, haben oft den eifrigen Wunsch, hier zu studieren, und sie wissen, dass sie dafür allerbeste Leistungen in der Schule nachweisen müssen. Krankenschwester zu werden oder sogar Ärztin oder Arzt, bedeutet, eine ausgezeichnete Ausbildung zu bekommen, in der man zwei Dinge großartig miteinander vereinbaren kann: ein eigenes Auskommen zu haben und anderen zu helfen.“

      Jaya atmete tief durch und wies mit beiden Händen auf seine Umgebung. „So entstanden hier an diesem Ort, wo wir jetzt sitzen, ein Krankenhaus und eine Ausbildungsstätte, das CMC, das Christliche Medizinische College. Es steht allen Menschen offen, sowohl unter dem Personal und erst recht selbstverständlich unter den Patienten sind Angehörige aller Religionen. Und das alles hat mit einem einzelnen Menschen begonnen. Das wollte ich euch an diesem Morgen erzählen.“ Sie nickten. Ob sie verstanden hatten? Ob sie bereit wären, auf ihre Art selbst eine Ida zu werden?

      Um seine Geschichte abzuschließen, sagte er: „Eine Frau, die einmal den Staub Indiens von ihren Füßen hatte schütteln wollen, begann, Indien zu lieben. Eine schreckliche Nacht hat ihr Leben verändert. Der Tod von drei Frauen hatte sie tief berührt und bewegt, das zu tun, was sie konnte. Und so entstand etwas Großes. Man ehrte sie, Gandhi besuchte sie, sie kam zu internationalem Ruhm und wir ehren sie bis heute.“ Er blickte in die Runde. „Es ist mir wichtig, meine Freude über einen Menschen wie Ida zu teilen und meine Dankbarkeit, die ich immer empfinde, wenn ich an diesen Ort komme, denn ihre Geschichte inspiriert mich, selbst das zu tun, was ich kann. Ich denke, sie ist eine Herausforderung für uns alle.“

      Jaya war glücklich, weil seine Gäste ihm sehr aufmerksam zugehört hatten. Jetzt würden sie mit dem seit einigen Jahren extra dafür angestellten Public-Relations-Manager der Klinik oder mit jemand aus seinem Team eine Führung durch die wichtigsten Bereiche des Krankenhauses machen. Man würde ihnen einen Überblick geben und immer wieder staunten Gäste aus der westlichen Welt über das medizinische Know-how, modernste Operationstechnik, innovative Therapiemethoden. Man würde sie teilhaben lassen an den aktuellen Entwicklungen in der Behandlung Leprakranker. Und auch über die immer


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